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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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nationalrussischen Politik wohl allerhand Redensarten von der angeblichen Kultur¬
bedeutung des russischen Gcmeindeprinzips, von den Elementen einer frischeren
und edleren Kultur, die im russischen Volkstum lägen, im Gegensatze zu der
"faulen" des europäischen Westens, von der elementaren Kraft, welche ein noch
unberührter und unverdorbener Volksgeist aus sich zu entwickeln vermöge, n, s. w.
am Ende auch von der besondern Befähigung zu volkstümlicher Wirksamkeit,
welche der russisch-griechischen Kirche eigen sei (dieser in der weitgehendsten Weise
von dem teils bis zur Unglaublichkeit äußerlichen, teils abscheulichen Sektircr-
tnm durchwühlten und mit einer Kircheudieuerschaft ausgerüsteten Kirche, welche
an sich, nach dem Urteile aller Kenner, in ihrer sittlichen und geistigen Nichts¬
nutzigkeit zu den schwersten inneren Gefahren Rußlands gehört). Über diese
im allgemeinen noch etwas mehr als bloß verschwommenen Redensarten hinaus
haben wir jedoch bis heute nichts gehört. Wir können nicht wissen, ob von
allen diesen schönen Dingen jemals etwas Wirkliches sein wird, wie es die Ver-
künder derselben ebensowenig wissen; aber das unterliegt keinem Zweifel, daß
unsre Kultur, die doch immerhin manches ausgerichtet und für Rußland selbst
die vielbchauptete nationale Wiedergeburt erst ermöglicht hat, mit diesen Dingen
nichts anzufangen weiß. Sogar das steht uns noch nicht völlig fest, ob sie
etwas andres sind als der Ausdruck bitterer Verlegenheit darüber, daß alle gegen¬
wärtigen Erscheinungen des russischen Volks- und Staatslebens so unerfreulicher,
ja trostloser Art sind, und daß man, da sich doch den Leuten nicht gut geradezu
sagen läßt: man thue uur in einer gewissen Verzweiflung alles, wovon sich irgend
denken lasse, daß dabei irgend etwas für eine durchgehende Besserung der rus¬
sischen Verhältnisse Herauskommen könne, und kümmere sich bei der im Falle
des Mißglückens doch hoffnungslosen Lage Rußlands sehr wenig darum, ob
andre in ihrer Art brauchbare Elemente mit zu Grunde gingen, daß man, da eine
solche offene Darlegung doch gar zu barbarisch erscheinen würde, eben nnr nach
Erdichtungen und nach hochtönenden Worten dafür sucht, um doch irgend etwas
sagen zu können. Sei es aber auch anders und gebe es wirklich eine Grund¬
lage für jene russischen Verhimmeluugcn eines jetzigen oder künftigen russischen
Volkstums, so sind wir doch jedenfalls berechtigt zu sagen, daß man billiger¬
weise niemand nötigen kann, an etwas noch völlig Unerprvbtem und dabei
seinem eignen Wesen so tief wie nur möglich Widerstreitendem teilzunehmen,
oder ihn, gar dies sein eignes Wesen zu opfern. Die Kultur des deutschen
Bürgertums und des deutschen Adels in den russischen Ostseeprovinzen, unvoll¬
kommen und an manchen Schattenseiten leidend, wie dies bei allen menschlichen
Dingen der Fall ist, ist doch unendlich viel höher als die russische; gerade in
dem rohen Ankämpfen gegen sie liegt der deutlichste Beweis, daß es sich so
verhält -- das ungeheure Reich fürchtet deu geistigen Einfluß, fürchtet die
stille Propaganda dieser paarmalhuuderttausend deutschen Edelleute und Bürger
und glaubt seine ersehnte oder geträumte nationale Sonderkultur nicht durchsetzen


nationalrussischen Politik wohl allerhand Redensarten von der angeblichen Kultur¬
bedeutung des russischen Gcmeindeprinzips, von den Elementen einer frischeren
und edleren Kultur, die im russischen Volkstum lägen, im Gegensatze zu der
„faulen" des europäischen Westens, von der elementaren Kraft, welche ein noch
unberührter und unverdorbener Volksgeist aus sich zu entwickeln vermöge, n, s. w.
am Ende auch von der besondern Befähigung zu volkstümlicher Wirksamkeit,
welche der russisch-griechischen Kirche eigen sei (dieser in der weitgehendsten Weise
von dem teils bis zur Unglaublichkeit äußerlichen, teils abscheulichen Sektircr-
tnm durchwühlten und mit einer Kircheudieuerschaft ausgerüsteten Kirche, welche
an sich, nach dem Urteile aller Kenner, in ihrer sittlichen und geistigen Nichts¬
nutzigkeit zu den schwersten inneren Gefahren Rußlands gehört). Über diese
im allgemeinen noch etwas mehr als bloß verschwommenen Redensarten hinaus
haben wir jedoch bis heute nichts gehört. Wir können nicht wissen, ob von
allen diesen schönen Dingen jemals etwas Wirkliches sein wird, wie es die Ver-
künder derselben ebensowenig wissen; aber das unterliegt keinem Zweifel, daß
unsre Kultur, die doch immerhin manches ausgerichtet und für Rußland selbst
die vielbchauptete nationale Wiedergeburt erst ermöglicht hat, mit diesen Dingen
nichts anzufangen weiß. Sogar das steht uns noch nicht völlig fest, ob sie
etwas andres sind als der Ausdruck bitterer Verlegenheit darüber, daß alle gegen¬
wärtigen Erscheinungen des russischen Volks- und Staatslebens so unerfreulicher,
ja trostloser Art sind, und daß man, da sich doch den Leuten nicht gut geradezu
sagen läßt: man thue uur in einer gewissen Verzweiflung alles, wovon sich irgend
denken lasse, daß dabei irgend etwas für eine durchgehende Besserung der rus¬
sischen Verhältnisse Herauskommen könne, und kümmere sich bei der im Falle
des Mißglückens doch hoffnungslosen Lage Rußlands sehr wenig darum, ob
andre in ihrer Art brauchbare Elemente mit zu Grunde gingen, daß man, da eine
solche offene Darlegung doch gar zu barbarisch erscheinen würde, eben nnr nach
Erdichtungen und nach hochtönenden Worten dafür sucht, um doch irgend etwas
sagen zu können. Sei es aber auch anders und gebe es wirklich eine Grund¬
lage für jene russischen Verhimmeluugcn eines jetzigen oder künftigen russischen
Volkstums, so sind wir doch jedenfalls berechtigt zu sagen, daß man billiger¬
weise niemand nötigen kann, an etwas noch völlig Unerprvbtem und dabei
seinem eignen Wesen so tief wie nur möglich Widerstreitendem teilzunehmen,
oder ihn, gar dies sein eignes Wesen zu opfern. Die Kultur des deutschen
Bürgertums und des deutschen Adels in den russischen Ostseeprovinzen, unvoll¬
kommen und an manchen Schattenseiten leidend, wie dies bei allen menschlichen
Dingen der Fall ist, ist doch unendlich viel höher als die russische; gerade in
dem rohen Ankämpfen gegen sie liegt der deutlichste Beweis, daß es sich so
verhält — das ungeheure Reich fürchtet deu geistigen Einfluß, fürchtet die
stille Propaganda dieser paarmalhuuderttausend deutschen Edelleute und Bürger
und glaubt seine ersehnte oder geträumte nationale Sonderkultur nicht durchsetzen


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[0462] nationalrussischen Politik wohl allerhand Redensarten von der angeblichen Kultur¬ bedeutung des russischen Gcmeindeprinzips, von den Elementen einer frischeren und edleren Kultur, die im russischen Volkstum lägen, im Gegensatze zu der „faulen" des europäischen Westens, von der elementaren Kraft, welche ein noch unberührter und unverdorbener Volksgeist aus sich zu entwickeln vermöge, n, s. w. am Ende auch von der besondern Befähigung zu volkstümlicher Wirksamkeit, welche der russisch-griechischen Kirche eigen sei (dieser in der weitgehendsten Weise von dem teils bis zur Unglaublichkeit äußerlichen, teils abscheulichen Sektircr- tnm durchwühlten und mit einer Kircheudieuerschaft ausgerüsteten Kirche, welche an sich, nach dem Urteile aller Kenner, in ihrer sittlichen und geistigen Nichts¬ nutzigkeit zu den schwersten inneren Gefahren Rußlands gehört). Über diese im allgemeinen noch etwas mehr als bloß verschwommenen Redensarten hinaus haben wir jedoch bis heute nichts gehört. Wir können nicht wissen, ob von allen diesen schönen Dingen jemals etwas Wirkliches sein wird, wie es die Ver- künder derselben ebensowenig wissen; aber das unterliegt keinem Zweifel, daß unsre Kultur, die doch immerhin manches ausgerichtet und für Rußland selbst die vielbchauptete nationale Wiedergeburt erst ermöglicht hat, mit diesen Dingen nichts anzufangen weiß. Sogar das steht uns noch nicht völlig fest, ob sie etwas andres sind als der Ausdruck bitterer Verlegenheit darüber, daß alle gegen¬ wärtigen Erscheinungen des russischen Volks- und Staatslebens so unerfreulicher, ja trostloser Art sind, und daß man, da sich doch den Leuten nicht gut geradezu sagen läßt: man thue uur in einer gewissen Verzweiflung alles, wovon sich irgend denken lasse, daß dabei irgend etwas für eine durchgehende Besserung der rus¬ sischen Verhältnisse Herauskommen könne, und kümmere sich bei der im Falle des Mißglückens doch hoffnungslosen Lage Rußlands sehr wenig darum, ob andre in ihrer Art brauchbare Elemente mit zu Grunde gingen, daß man, da eine solche offene Darlegung doch gar zu barbarisch erscheinen würde, eben nnr nach Erdichtungen und nach hochtönenden Worten dafür sucht, um doch irgend etwas sagen zu können. Sei es aber auch anders und gebe es wirklich eine Grund¬ lage für jene russischen Verhimmeluugcn eines jetzigen oder künftigen russischen Volkstums, so sind wir doch jedenfalls berechtigt zu sagen, daß man billiger¬ weise niemand nötigen kann, an etwas noch völlig Unerprvbtem und dabei seinem eignen Wesen so tief wie nur möglich Widerstreitendem teilzunehmen, oder ihn, gar dies sein eignes Wesen zu opfern. Die Kultur des deutschen Bürgertums und des deutschen Adels in den russischen Ostseeprovinzen, unvoll¬ kommen und an manchen Schattenseiten leidend, wie dies bei allen menschlichen Dingen der Fall ist, ist doch unendlich viel höher als die russische; gerade in dem rohen Ankämpfen gegen sie liegt der deutlichste Beweis, daß es sich so verhält — das ungeheure Reich fürchtet deu geistigen Einfluß, fürchtet die stille Propaganda dieser paarmalhuuderttausend deutschen Edelleute und Bürger und glaubt seine ersehnte oder geträumte nationale Sonderkultur nicht durchsetzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/462>, abgerufen am 23.07.2024.