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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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staatsrechtliche Zusagen an die deutschen Unterthanen Rußlands.

zweifelhaft weit gelinder) war als diejenige, die im übrigen Nußland über die
Leibeignen geübt wurde; von derartigen Rohheiten und Quälereien aber, wie sie
zur Zeit der Dänenherrschaft in den deutschredenden Teilen Schleswigs ausgeübt
worden sind, ist hier sicherlich niemals die Rede gewesen. Alles spricht also
dafür, daß für die deutschen Ballen weit mehr, mindestens aber dasselbe gelten
müßte wie für die Dänen Nordschleswigs. Dennoch sind die letzter" voll¬
berechtigte Staatsbürger, die erstern teilen höchstens die allgemeinere Recht¬
losigkeit der Bewohner des russischen Reiches; die Nordschleswiger durch Gesetze
und Vcrwaltungsmaßregeln ihrer Sprache berauben zu wollen, fällt sicherlich
auch dem leidenschaftlichsten Anhänger des Germanisirungsgrundsatzes nicht ein,
in den russischen Ostseeprovinzen aber ist dieser Prozeß in vollem Gange; von
einem eigentlichen, die Gewissen beschwerenden und auf Übertritte künstlich hin¬
wirkenden religiösen Drucke ist selbst während des Kulturkampfes nirgends in
Deutschland etwas zu verspüren gewesen, auch in vormals französischen oder
polnischen Landesteilen nicht, die evangelische Kirche der Ostseeprovinzen aber
steht gegenwärtig unter einer förmlichen Verfolgung und einem, kaum die Formen
des Rechts beobachtenden, in nicht seltenen Fällen aber in den schamlosesten
Gewaltthaten sich kundgebenden Unterdrückungs- und Beraubungsverfahren.
Freilich, es ist niemand da, der eine staatsrechtliche Befugnis hätte, diese Be¬
schwerden von außen her geltend zu machen, so wenig wie jemand staatsrechtlich
einen Einspruch gegen die Austreibung deutscher Besitzer und Beamten erheben
kann, die sich gegenwärtig in den östlichen Gouvernements vollzieht. Mögen
die Russen immerhin erklären, der ungeheure wirtschaftliche Nachteil, den sie
mit diesen Austreibungen ihrem eigenen Staatswesen zufügen, gehe nur sie
etwas an; die Rohheit, mit der z. B. die Austreibung deutscher Bauern aus
Volhynien bewerkstelligt worden ist, wird sich deshalb doch die öffentliche Be-
und Verurteilung ebenso gut gefallen lassen müssen wie das Verfahren gegen
Kirche und Schule in den baltischen Provinzen.

Es ist einem Volke im Interesse seines nationalen Staatswesens vieles
gestattet, wenn nur dem allgemeinen Kulturfortschritt damit keine Hindernisse in
den Weg gelegt werden. Aber -- ganz davon zu schweigen, daß es mit der
nationalen Geschlossenheit des russischen Staatswesens sehr zweifelhaft aussieht;
man denke an die Kleinrussen, die zahlreichen finnischen und tatarischen Elemente,
mit denen die Bevölkerung durchsetzt ist, und vor allem an die zwar verwandten,
aber doch entschieden nicht russischen Polen, Litauer und Letten -- kein Volk
hat das Recht, dem Wahne seiner absoluten nationalen Eigenart und hierauf
gebauten hochmütigen Voraussetzungen ein anderes Volkstum zum Opfer zu
bringen, und alles, was einem Volkstum ernsthaft und bleibend zu Gute kommen
soll, muß doch auch einen Gesichtspunkt entdecken lassen, von dem aus es
der allgemeinen Kultur, dem Fortschritte des ganzen Menschengeschlechts dient.
In dieser Hinsicht aber begegnen wir unter den Verfechtern einer rücksichtslosen


staatsrechtliche Zusagen an die deutschen Unterthanen Rußlands.

zweifelhaft weit gelinder) war als diejenige, die im übrigen Nußland über die
Leibeignen geübt wurde; von derartigen Rohheiten und Quälereien aber, wie sie
zur Zeit der Dänenherrschaft in den deutschredenden Teilen Schleswigs ausgeübt
worden sind, ist hier sicherlich niemals die Rede gewesen. Alles spricht also
dafür, daß für die deutschen Ballen weit mehr, mindestens aber dasselbe gelten
müßte wie für die Dänen Nordschleswigs. Dennoch sind die letzter» voll¬
berechtigte Staatsbürger, die erstern teilen höchstens die allgemeinere Recht¬
losigkeit der Bewohner des russischen Reiches; die Nordschleswiger durch Gesetze
und Vcrwaltungsmaßregeln ihrer Sprache berauben zu wollen, fällt sicherlich
auch dem leidenschaftlichsten Anhänger des Germanisirungsgrundsatzes nicht ein,
in den russischen Ostseeprovinzen aber ist dieser Prozeß in vollem Gange; von
einem eigentlichen, die Gewissen beschwerenden und auf Übertritte künstlich hin¬
wirkenden religiösen Drucke ist selbst während des Kulturkampfes nirgends in
Deutschland etwas zu verspüren gewesen, auch in vormals französischen oder
polnischen Landesteilen nicht, die evangelische Kirche der Ostseeprovinzen aber
steht gegenwärtig unter einer förmlichen Verfolgung und einem, kaum die Formen
des Rechts beobachtenden, in nicht seltenen Fällen aber in den schamlosesten
Gewaltthaten sich kundgebenden Unterdrückungs- und Beraubungsverfahren.
Freilich, es ist niemand da, der eine staatsrechtliche Befugnis hätte, diese Be¬
schwerden von außen her geltend zu machen, so wenig wie jemand staatsrechtlich
einen Einspruch gegen die Austreibung deutscher Besitzer und Beamten erheben
kann, die sich gegenwärtig in den östlichen Gouvernements vollzieht. Mögen
die Russen immerhin erklären, der ungeheure wirtschaftliche Nachteil, den sie
mit diesen Austreibungen ihrem eigenen Staatswesen zufügen, gehe nur sie
etwas an; die Rohheit, mit der z. B. die Austreibung deutscher Bauern aus
Volhynien bewerkstelligt worden ist, wird sich deshalb doch die öffentliche Be-
und Verurteilung ebenso gut gefallen lassen müssen wie das Verfahren gegen
Kirche und Schule in den baltischen Provinzen.

Es ist einem Volke im Interesse seines nationalen Staatswesens vieles
gestattet, wenn nur dem allgemeinen Kulturfortschritt damit keine Hindernisse in
den Weg gelegt werden. Aber — ganz davon zu schweigen, daß es mit der
nationalen Geschlossenheit des russischen Staatswesens sehr zweifelhaft aussieht;
man denke an die Kleinrussen, die zahlreichen finnischen und tatarischen Elemente,
mit denen die Bevölkerung durchsetzt ist, und vor allem an die zwar verwandten,
aber doch entschieden nicht russischen Polen, Litauer und Letten — kein Volk
hat das Recht, dem Wahne seiner absoluten nationalen Eigenart und hierauf
gebauten hochmütigen Voraussetzungen ein anderes Volkstum zum Opfer zu
bringen, und alles, was einem Volkstum ernsthaft und bleibend zu Gute kommen
soll, muß doch auch einen Gesichtspunkt entdecken lassen, von dem aus es
der allgemeinen Kultur, dem Fortschritte des ganzen Menschengeschlechts dient.
In dieser Hinsicht aber begegnen wir unter den Verfechtern einer rücksichtslosen


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[0461] staatsrechtliche Zusagen an die deutschen Unterthanen Rußlands. zweifelhaft weit gelinder) war als diejenige, die im übrigen Nußland über die Leibeignen geübt wurde; von derartigen Rohheiten und Quälereien aber, wie sie zur Zeit der Dänenherrschaft in den deutschredenden Teilen Schleswigs ausgeübt worden sind, ist hier sicherlich niemals die Rede gewesen. Alles spricht also dafür, daß für die deutschen Ballen weit mehr, mindestens aber dasselbe gelten müßte wie für die Dänen Nordschleswigs. Dennoch sind die letzter» voll¬ berechtigte Staatsbürger, die erstern teilen höchstens die allgemeinere Recht¬ losigkeit der Bewohner des russischen Reiches; die Nordschleswiger durch Gesetze und Vcrwaltungsmaßregeln ihrer Sprache berauben zu wollen, fällt sicherlich auch dem leidenschaftlichsten Anhänger des Germanisirungsgrundsatzes nicht ein, in den russischen Ostseeprovinzen aber ist dieser Prozeß in vollem Gange; von einem eigentlichen, die Gewissen beschwerenden und auf Übertritte künstlich hin¬ wirkenden religiösen Drucke ist selbst während des Kulturkampfes nirgends in Deutschland etwas zu verspüren gewesen, auch in vormals französischen oder polnischen Landesteilen nicht, die evangelische Kirche der Ostseeprovinzen aber steht gegenwärtig unter einer förmlichen Verfolgung und einem, kaum die Formen des Rechts beobachtenden, in nicht seltenen Fällen aber in den schamlosesten Gewaltthaten sich kundgebenden Unterdrückungs- und Beraubungsverfahren. Freilich, es ist niemand da, der eine staatsrechtliche Befugnis hätte, diese Be¬ schwerden von außen her geltend zu machen, so wenig wie jemand staatsrechtlich einen Einspruch gegen die Austreibung deutscher Besitzer und Beamten erheben kann, die sich gegenwärtig in den östlichen Gouvernements vollzieht. Mögen die Russen immerhin erklären, der ungeheure wirtschaftliche Nachteil, den sie mit diesen Austreibungen ihrem eigenen Staatswesen zufügen, gehe nur sie etwas an; die Rohheit, mit der z. B. die Austreibung deutscher Bauern aus Volhynien bewerkstelligt worden ist, wird sich deshalb doch die öffentliche Be- und Verurteilung ebenso gut gefallen lassen müssen wie das Verfahren gegen Kirche und Schule in den baltischen Provinzen. Es ist einem Volke im Interesse seines nationalen Staatswesens vieles gestattet, wenn nur dem allgemeinen Kulturfortschritt damit keine Hindernisse in den Weg gelegt werden. Aber — ganz davon zu schweigen, daß es mit der nationalen Geschlossenheit des russischen Staatswesens sehr zweifelhaft aussieht; man denke an die Kleinrussen, die zahlreichen finnischen und tatarischen Elemente, mit denen die Bevölkerung durchsetzt ist, und vor allem an die zwar verwandten, aber doch entschieden nicht russischen Polen, Litauer und Letten — kein Volk hat das Recht, dem Wahne seiner absoluten nationalen Eigenart und hierauf gebauten hochmütigen Voraussetzungen ein anderes Volkstum zum Opfer zu bringen, und alles, was einem Volkstum ernsthaft und bleibend zu Gute kommen soll, muß doch auch einen Gesichtspunkt entdecken lassen, von dem aus es der allgemeinen Kultur, dem Fortschritte des ganzen Menschengeschlechts dient. In dieser Hinsicht aber begegnen wir unter den Verfechtern einer rücksichtslosen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/461>, abgerufen am 23.07.2024.