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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharaktor und seine Wandlungen.

hervorgerufen durch die Entwöhnung von Selbständigkeit, durch lange Be¬
vormundung der regierenden Staude, machte sich in unserm Jahrhundert
überall geltend, wo der Deutsche den Ansprüchen andrer Völker entgegengestellt
war. Als Bauer, Handwerker und Arbeiter ist der Deutsche überall geschätzt
worden, wo er einzeln oder in Massen eingewandert ist; aber überall hat er
sich geduckt, wie es in der Heimat nötig gewesen war, und hat in der Über¬
zeugung, nur zum Dienen und Gehorchen ans der Welt zu sein, so rasch als
möglich alles verleugnet, was seiner neuen Umgebung hätte Anstoß erregen
können. So ist es nur eine Nachwirkung lange gewöhnter heimischer Zustände,
wenn er allenthalben zum Völkerdnnger geworden ist, ja noch stolz darauf ist,
die Livree seiner neuen Herren recht sichtbar zu tragen. Und das nicht nur,
wo er vereinzelt steht, wie in England oder Nußland, sondern auch, wo er auf
eignem Grund und Boden seine wirtschaftliche Freiheit nur geltend zu machen
brauchte, wie in Nordamerika oder Ungarn, wo es nur des Mutes bedürfte,
deutsch zu bleiben, wie jene Kolonien des dreizehnten und vierzehnten Jahr¬
hunderts.

Ein andres Erbstück, in dem man lange Zeit einen unterscheidenden Zug
unsers Nationalcharakters sehen mußte, ist der sogenannte deutsche Idealismus.
Er ist die Nachwirkung jener ausschließlichen Beschäftigung mit den Vildungs-
intcressen, wie sie den bürgerlichen Ständen des vorigen Jahrhunderts aufge¬
drängt war und ihnen als Ersatz für alles andre Erhebende gelten mußte.
Es ist das, was Napoleon als deutsche Ideologie verspottete, aber in seinen
bessern Folgen unterschätzte, was den Deutschen das etwas ironische Kompliment
des Volkes der Dichter und Denker eintrug. Es war in den Augen der
fremden Völker sein Altenteil, in dessen ruhigem Genuß es ihnen die Herrschaft
über die Welt überlassen sollte. Und dies war wirklich auch die Meinung
vieler Deutschen, die es Schiller, Goethe oder W. von Humboldt gläubig nach¬
beteten, daß der Beruf der Deutschen kein politischer sei, sondern die Pflege
"ruhiger Bildung."


Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens,
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch ausi

Diese Überschätzung des Individuums, das zufrieden sich selbst zu genießen
allem Gemeinwesen und Wirken ablehnend gegenüberstand, denn nnr "gemeine
Naturen zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie sind," wurde im
neunzehnten Jahrhundert für die Erziehung der oberen Stände maßgebend als
das Ideal der gebildeten Menschlichkeit, der Humanität, deren Vorbilder man
im griechischen Altertum fand. Die Wiederbelebung desselben war das Ziel,
dem die Jugend nachstreben sollte. Daß des Altertums bester Teil das öffent¬
liche Leben und Wirken und dessen Tugenden gewesen war, wurde dabei freilich
ganz übersehe". Die Entfremdung von der Gegenwart und deren dringenden


Der deutsche Volkscharaktor und seine Wandlungen.

hervorgerufen durch die Entwöhnung von Selbständigkeit, durch lange Be¬
vormundung der regierenden Staude, machte sich in unserm Jahrhundert
überall geltend, wo der Deutsche den Ansprüchen andrer Völker entgegengestellt
war. Als Bauer, Handwerker und Arbeiter ist der Deutsche überall geschätzt
worden, wo er einzeln oder in Massen eingewandert ist; aber überall hat er
sich geduckt, wie es in der Heimat nötig gewesen war, und hat in der Über¬
zeugung, nur zum Dienen und Gehorchen ans der Welt zu sein, so rasch als
möglich alles verleugnet, was seiner neuen Umgebung hätte Anstoß erregen
können. So ist es nur eine Nachwirkung lange gewöhnter heimischer Zustände,
wenn er allenthalben zum Völkerdnnger geworden ist, ja noch stolz darauf ist,
die Livree seiner neuen Herren recht sichtbar zu tragen. Und das nicht nur,
wo er vereinzelt steht, wie in England oder Nußland, sondern auch, wo er auf
eignem Grund und Boden seine wirtschaftliche Freiheit nur geltend zu machen
brauchte, wie in Nordamerika oder Ungarn, wo es nur des Mutes bedürfte,
deutsch zu bleiben, wie jene Kolonien des dreizehnten und vierzehnten Jahr¬
hunderts.

Ein andres Erbstück, in dem man lange Zeit einen unterscheidenden Zug
unsers Nationalcharakters sehen mußte, ist der sogenannte deutsche Idealismus.
Er ist die Nachwirkung jener ausschließlichen Beschäftigung mit den Vildungs-
intcressen, wie sie den bürgerlichen Ständen des vorigen Jahrhunderts aufge¬
drängt war und ihnen als Ersatz für alles andre Erhebende gelten mußte.
Es ist das, was Napoleon als deutsche Ideologie verspottete, aber in seinen
bessern Folgen unterschätzte, was den Deutschen das etwas ironische Kompliment
des Volkes der Dichter und Denker eintrug. Es war in den Augen der
fremden Völker sein Altenteil, in dessen ruhigem Genuß es ihnen die Herrschaft
über die Welt überlassen sollte. Und dies war wirklich auch die Meinung
vieler Deutschen, die es Schiller, Goethe oder W. von Humboldt gläubig nach¬
beteten, daß der Beruf der Deutschen kein politischer sei, sondern die Pflege
„ruhiger Bildung."


Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens,
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch ausi

Diese Überschätzung des Individuums, das zufrieden sich selbst zu genießen
allem Gemeinwesen und Wirken ablehnend gegenüberstand, denn nnr „gemeine
Naturen zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie sind," wurde im
neunzehnten Jahrhundert für die Erziehung der oberen Stände maßgebend als
das Ideal der gebildeten Menschlichkeit, der Humanität, deren Vorbilder man
im griechischen Altertum fand. Die Wiederbelebung desselben war das Ziel,
dem die Jugend nachstreben sollte. Daß des Altertums bester Teil das öffent¬
liche Leben und Wirken und dessen Tugenden gewesen war, wurde dabei freilich
ganz übersehe«. Die Entfremdung von der Gegenwart und deren dringenden


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[0174] Der deutsche Volkscharaktor und seine Wandlungen. hervorgerufen durch die Entwöhnung von Selbständigkeit, durch lange Be¬ vormundung der regierenden Staude, machte sich in unserm Jahrhundert überall geltend, wo der Deutsche den Ansprüchen andrer Völker entgegengestellt war. Als Bauer, Handwerker und Arbeiter ist der Deutsche überall geschätzt worden, wo er einzeln oder in Massen eingewandert ist; aber überall hat er sich geduckt, wie es in der Heimat nötig gewesen war, und hat in der Über¬ zeugung, nur zum Dienen und Gehorchen ans der Welt zu sein, so rasch als möglich alles verleugnet, was seiner neuen Umgebung hätte Anstoß erregen können. So ist es nur eine Nachwirkung lange gewöhnter heimischer Zustände, wenn er allenthalben zum Völkerdnnger geworden ist, ja noch stolz darauf ist, die Livree seiner neuen Herren recht sichtbar zu tragen. Und das nicht nur, wo er vereinzelt steht, wie in England oder Nußland, sondern auch, wo er auf eignem Grund und Boden seine wirtschaftliche Freiheit nur geltend zu machen brauchte, wie in Nordamerika oder Ungarn, wo es nur des Mutes bedürfte, deutsch zu bleiben, wie jene Kolonien des dreizehnten und vierzehnten Jahr¬ hunderts. Ein andres Erbstück, in dem man lange Zeit einen unterscheidenden Zug unsers Nationalcharakters sehen mußte, ist der sogenannte deutsche Idealismus. Er ist die Nachwirkung jener ausschließlichen Beschäftigung mit den Vildungs- intcressen, wie sie den bürgerlichen Ständen des vorigen Jahrhunderts aufge¬ drängt war und ihnen als Ersatz für alles andre Erhebende gelten mußte. Es ist das, was Napoleon als deutsche Ideologie verspottete, aber in seinen bessern Folgen unterschätzte, was den Deutschen das etwas ironische Kompliment des Volkes der Dichter und Denker eintrug. Es war in den Augen der fremden Völker sein Altenteil, in dessen ruhigem Genuß es ihnen die Herrschaft über die Welt überlassen sollte. Und dies war wirklich auch die Meinung vieler Deutschen, die es Schiller, Goethe oder W. von Humboldt gläubig nach¬ beteten, daß der Beruf der Deutschen kein politischer sei, sondern die Pflege „ruhiger Bildung." Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens, Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch ausi Diese Überschätzung des Individuums, das zufrieden sich selbst zu genießen allem Gemeinwesen und Wirken ablehnend gegenüberstand, denn nnr „gemeine Naturen zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie sind," wurde im neunzehnten Jahrhundert für die Erziehung der oberen Stände maßgebend als das Ideal der gebildeten Menschlichkeit, der Humanität, deren Vorbilder man im griechischen Altertum fand. Die Wiederbelebung desselben war das Ziel, dem die Jugend nachstreben sollte. Daß des Altertums bester Teil das öffent¬ liche Leben und Wirken und dessen Tugenden gewesen war, wurde dabei freilich ganz übersehe«. Die Entfremdung von der Gegenwart und deren dringenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/174>, abgerufen am 23.07.2024.