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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

ficherheit, welche der beste Bundesgenosse des Auslandes war. Trotz hoher
Bildung der Einzelnen bot das ganze Volk ein jämmerliches Schauspiel von
Unbeholfenheit, Kurzsichtigkeit und niedrigstem Eigennutze, und später von einer
Wegwerfung an Napoleon, daß sie wohl die Anzeichen völligen Unterganges
hätten sein können.

Aber der Hohn und die Verachtung, mit der die fremde Gewaltherrschaft
vorging, brachte die einen, der tiefe Sturz aus dem Reiche der Ideale die
andern zum Bewußtsein der Lage und dessen, was sie forderte. Der Begriff
der Pflicht gewann an Boden gegen den des Genusses, der Bildung und der
Glückseligkeit, nach der die Zeit vorher gestrebt hatte. Die Not näherte die
lang getrennten Stände und stählte den zu weichen Charakter der Nation zu
Entsagung, zu Opferwilligkeit, zu Vaterlandsliebe und Freiheitsmut, zu männ¬
lichem Haß gegen das Schlechte und Fremde. In den Freiheitskriegen bewies
das deutsche Volk, daß die alten Tugenden nicht ganz vergangen waren.

Durch ungeheure Anspannung der Kräfte war nach einer Krisis von
zwanzig Jahren der Boden für eine bessere Zukunft gewonnen; daß darauf
eine gewisse Ermattung, eine Nachschwäche folgte, in der alte Fehler und neues
Streben miteinander wechselten, wird uns nicht mehr so wundern, wie es die
Ungeduldigen der Zeit geärgert hat. Es ist das Bedürfnis der Ruhe, was der
nächsten Zeit nach den Freiheitskriegen das Gepräge giebt. Halb scherzhaft ist
die Bezeichnung der Biedermeierzeit dafür aufgekommen für die Zahmheit, die
Gutmütigkeit und Beschränktheit, besonders in politischen Dingen. Aber man
giebt eben doch auch zu, daß auf materiellem Gebiete durch die Tugenden der
Arbeitsamkeit, Rührigkeit, Anspruchslosigkeit und Sparsamkeit für das Bürger¬
tum eine erneute Blüte begann, als Grundlage einer kräftigeren Entfaltung des
nationalen Lebens.

Es ist wahr, die Bescheidenheit gegenüber der höhern Einsicht der gerade
regierenden war nach der einen Seite ebenso armselig wie auf der andern der
langegehegte Respekt gegen alles, was mit Sicherheit und Anspruch auf Geltung
auftrat: gegen englischen Hochmut, französische Freiheitsphrasen und amerikanische
Flegelhaftigkeit. Der biedere Deutsche, noch mit einem starken Rest von un¬
praktischer Gefühlseligkeit behaftet, ließ sich leicht "imponiren," selbst von un¬
begründeten Ansprüchen untergeordneter Völker, die für ihn etwas Romantisches
und Bestechendes hatten, wie die Polen, die Ungarn, die Griechen, für deren
Angelegenheiten er sich leichter zu begeistern vermochte als für seine heimischen
Zustände, wo alles mögliche verboten war als demokratisch und staatsgefährlich,
wie das Tabakrauchen auf der Straße oder das Turnen. Auf das Fremde
übertrug er die Empfindung und die Gemütshingebung, die ihn den Augen der
Bewunderten und Angestaunten doch nur zum Gegenstande der Verspottung
und des Mitleides, höchstens der herablassenden Schätzung als brauchbaren
untergeordneten Arbeiters, machen konnte. Dieser Mangel an Selbstgefühl,


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

ficherheit, welche der beste Bundesgenosse des Auslandes war. Trotz hoher
Bildung der Einzelnen bot das ganze Volk ein jämmerliches Schauspiel von
Unbeholfenheit, Kurzsichtigkeit und niedrigstem Eigennutze, und später von einer
Wegwerfung an Napoleon, daß sie wohl die Anzeichen völligen Unterganges
hätten sein können.

Aber der Hohn und die Verachtung, mit der die fremde Gewaltherrschaft
vorging, brachte die einen, der tiefe Sturz aus dem Reiche der Ideale die
andern zum Bewußtsein der Lage und dessen, was sie forderte. Der Begriff
der Pflicht gewann an Boden gegen den des Genusses, der Bildung und der
Glückseligkeit, nach der die Zeit vorher gestrebt hatte. Die Not näherte die
lang getrennten Stände und stählte den zu weichen Charakter der Nation zu
Entsagung, zu Opferwilligkeit, zu Vaterlandsliebe und Freiheitsmut, zu männ¬
lichem Haß gegen das Schlechte und Fremde. In den Freiheitskriegen bewies
das deutsche Volk, daß die alten Tugenden nicht ganz vergangen waren.

Durch ungeheure Anspannung der Kräfte war nach einer Krisis von
zwanzig Jahren der Boden für eine bessere Zukunft gewonnen; daß darauf
eine gewisse Ermattung, eine Nachschwäche folgte, in der alte Fehler und neues
Streben miteinander wechselten, wird uns nicht mehr so wundern, wie es die
Ungeduldigen der Zeit geärgert hat. Es ist das Bedürfnis der Ruhe, was der
nächsten Zeit nach den Freiheitskriegen das Gepräge giebt. Halb scherzhaft ist
die Bezeichnung der Biedermeierzeit dafür aufgekommen für die Zahmheit, die
Gutmütigkeit und Beschränktheit, besonders in politischen Dingen. Aber man
giebt eben doch auch zu, daß auf materiellem Gebiete durch die Tugenden der
Arbeitsamkeit, Rührigkeit, Anspruchslosigkeit und Sparsamkeit für das Bürger¬
tum eine erneute Blüte begann, als Grundlage einer kräftigeren Entfaltung des
nationalen Lebens.

Es ist wahr, die Bescheidenheit gegenüber der höhern Einsicht der gerade
regierenden war nach der einen Seite ebenso armselig wie auf der andern der
langegehegte Respekt gegen alles, was mit Sicherheit und Anspruch auf Geltung
auftrat: gegen englischen Hochmut, französische Freiheitsphrasen und amerikanische
Flegelhaftigkeit. Der biedere Deutsche, noch mit einem starken Rest von un¬
praktischer Gefühlseligkeit behaftet, ließ sich leicht „imponiren," selbst von un¬
begründeten Ansprüchen untergeordneter Völker, die für ihn etwas Romantisches
und Bestechendes hatten, wie die Polen, die Ungarn, die Griechen, für deren
Angelegenheiten er sich leichter zu begeistern vermochte als für seine heimischen
Zustände, wo alles mögliche verboten war als demokratisch und staatsgefährlich,
wie das Tabakrauchen auf der Straße oder das Turnen. Auf das Fremde
übertrug er die Empfindung und die Gemütshingebung, die ihn den Augen der
Bewunderten und Angestaunten doch nur zum Gegenstande der Verspottung
und des Mitleides, höchstens der herablassenden Schätzung als brauchbaren
untergeordneten Arbeiters, machen konnte. Dieser Mangel an Selbstgefühl,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/173>, abgerufen am 23.07.2024.