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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Anforderungen zu Gunsten einer eingebildeten Vollkommenheit, die ohnehin nur
sehr selten gelingen konnte, da sie eine aristokratische Lebenshaltung voraussetzte,
fand wohl von selbst im wirklichen Leben die nötige Korrektur. Aber im gauzen
mußte sie doch das Unpraktische im deutschen Volkscharakter noch verstärken
und errichtete in der sozialen Schicht der Aristokratie der klassischen Bildung
einen Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten, die sich gegenseitig nicht
mehr recht verstanden. Was Goethe mit den Worten meinte:


Der Deutsche ist gelehrt,
Wenn er sein Deutsch versteht,

das hat für uns noch in anderen Sinne Geltung -- gegenüber der Verwüstung
deutschen Denkens und Redens dnrch den Bildnngsnurat der Fremdwördcrsucht.
Daß das soziale Vorrecht der Bildung der Gefahr verfiel, als Gegenstand der Re¬
präsentation, des Scheines betrachtet zu werden, zeigt der echt deutsche Streit, wer
eigentlich als gebildet gelten solle und welcher Bildungs Stoff (!) der beste sei. Das
sind freilich Dinge, die von dem Ideal Schillers und Goethes weit genug abliegen.

Aus derselben Wurzel der Überschätzung der individuellen Geistesthätigkeit,
des rein gesponnenen Gedankens entsprang die theoretische Rechthaberei, die Ver¬
suche, alles Gewordene nach erlernten allgemeinen Sätzen und Regeln einzurichten.
Der Deutsche trachtete zuerst nach dem Begriff und der Formel und war gleich
fertig mit dem Einreißen, während der Engländer zäh an dem Altgewohnten
festhält und nur ändert, was ihm wirklich im Wege steht. Der Deutsche suchte
alles in ein System zu bringen und daran seine Befriedigung zu finden, wenn
auf dem Papier und in Gedanken alles klappte; den Kräften der Wirklichkeit
die Gesetze vorzuschreiben, ist die Eigentümlichkeit des politischen Lebens in der
ersten Hälfte unsers Jahrhunderts, für den Liberalismus und die Büreaukratie.

Der Kühnheit des Gedankens entsprach noch im jetzigen Jahrhundert so
wenig wie im vorigen der Zuschnitt des geselligen Lebens der bürgerlichen
Stände. Hier dauerte die Bedächtigkeit und Schwerfälligkeit des Auftretens
fort, die übermäßige Höflichkeit und Förmlichkeit in Anrede und Briefwesen,
die Breitspurigkeit des Titelwesens, hinter dem der Mensch sich gleichsam zu
verstecken sucht, um nicht für sich etwas sein zu müssen, und damit das Bedürfnis
nach einer Bescheinigung und Anerkennung seiner Verdienste und Stellung und
Beschäftigung. Ein stolzes Ehrgefühl, ein Bewußtsein eignen Wertes verträgt
sich schlecht mit der überlieferten Bescheidenheit, desto mehr die Empfindlichkeit
und Übelnehmerei wegen Verkennung und Zurücksetzung.

Diese Betrachtungen zeigen uns meist Züge und Eigentiimlichkeiten des
Volkscharakters, die ans frühern Zuständen bis in die Gegenwart hinein¬
reichen. Aber wir werden nicht verkennen, daß diese Gegenwart neben ihnen
andre, teilweise entgegengesetzte Züge sich geltend machen sieht. So entsteht ein
widerspruchsvolles Bild, das erst bei einer spätern Beobachtung sich klären kann.
Nur weniges scheint sich mit Bestimmtheit herausheben zu lassen.


Anforderungen zu Gunsten einer eingebildeten Vollkommenheit, die ohnehin nur
sehr selten gelingen konnte, da sie eine aristokratische Lebenshaltung voraussetzte,
fand wohl von selbst im wirklichen Leben die nötige Korrektur. Aber im gauzen
mußte sie doch das Unpraktische im deutschen Volkscharakter noch verstärken
und errichtete in der sozialen Schicht der Aristokratie der klassischen Bildung
einen Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten, die sich gegenseitig nicht
mehr recht verstanden. Was Goethe mit den Worten meinte:


Der Deutsche ist gelehrt,
Wenn er sein Deutsch versteht,

das hat für uns noch in anderen Sinne Geltung — gegenüber der Verwüstung
deutschen Denkens und Redens dnrch den Bildnngsnurat der Fremdwördcrsucht.
Daß das soziale Vorrecht der Bildung der Gefahr verfiel, als Gegenstand der Re¬
präsentation, des Scheines betrachtet zu werden, zeigt der echt deutsche Streit, wer
eigentlich als gebildet gelten solle und welcher Bildungs Stoff (!) der beste sei. Das
sind freilich Dinge, die von dem Ideal Schillers und Goethes weit genug abliegen.

Aus derselben Wurzel der Überschätzung der individuellen Geistesthätigkeit,
des rein gesponnenen Gedankens entsprang die theoretische Rechthaberei, die Ver¬
suche, alles Gewordene nach erlernten allgemeinen Sätzen und Regeln einzurichten.
Der Deutsche trachtete zuerst nach dem Begriff und der Formel und war gleich
fertig mit dem Einreißen, während der Engländer zäh an dem Altgewohnten
festhält und nur ändert, was ihm wirklich im Wege steht. Der Deutsche suchte
alles in ein System zu bringen und daran seine Befriedigung zu finden, wenn
auf dem Papier und in Gedanken alles klappte; den Kräften der Wirklichkeit
die Gesetze vorzuschreiben, ist die Eigentümlichkeit des politischen Lebens in der
ersten Hälfte unsers Jahrhunderts, für den Liberalismus und die Büreaukratie.

Der Kühnheit des Gedankens entsprach noch im jetzigen Jahrhundert so
wenig wie im vorigen der Zuschnitt des geselligen Lebens der bürgerlichen
Stände. Hier dauerte die Bedächtigkeit und Schwerfälligkeit des Auftretens
fort, die übermäßige Höflichkeit und Förmlichkeit in Anrede und Briefwesen,
die Breitspurigkeit des Titelwesens, hinter dem der Mensch sich gleichsam zu
verstecken sucht, um nicht für sich etwas sein zu müssen, und damit das Bedürfnis
nach einer Bescheinigung und Anerkennung seiner Verdienste und Stellung und
Beschäftigung. Ein stolzes Ehrgefühl, ein Bewußtsein eignen Wertes verträgt
sich schlecht mit der überlieferten Bescheidenheit, desto mehr die Empfindlichkeit
und Übelnehmerei wegen Verkennung und Zurücksetzung.

Diese Betrachtungen zeigen uns meist Züge und Eigentiimlichkeiten des
Volkscharakters, die ans frühern Zuständen bis in die Gegenwart hinein¬
reichen. Aber wir werden nicht verkennen, daß diese Gegenwart neben ihnen
andre, teilweise entgegengesetzte Züge sich geltend machen sieht. So entsteht ein
widerspruchsvolles Bild, das erst bei einer spätern Beobachtung sich klären kann.
Nur weniges scheint sich mit Bestimmtheit herausheben zu lassen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/175>, abgerufen am 23.07.2024.