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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gin Kapitel deutscher Lyrik.

nur in der Stärke und Lebendigkeit der Phantasie, in der Wärme und Tiefe
des Gefühls bestehen können. Eine Neigung zur Abschleifung, zur bedenk¬
lichsten Gleichartigkeit der Empfindung nud des Ausdrucks, ein gewisses
Etwas, das mit einer alles durchhanchcudcn Luft die größte Ähnlichkeit hat,
raubt den meisten neuern Gedichten die Fähigkeit zu tieferer Wirkung, der
Glanz und Hauch der Individualität schwebt nur selten über ihnen. Freilich
hat sich auch die Kritik angewöhnt, in so allgemeinen Redensarten über neuere
Lhrik zu berichten, daß man meinen müßte, es bestünden gnr keine Unterschiede
mehr, und jene unglücklichen Dilettanten, welche sich durch besonders ungeschickte
Bilder und besonders klägliche Verse hervorthun, seien die einzigen selbständigen
Naturen. Daß es dieser Kritik gelungen ist, die lyrischen Stammcleien, welche,
als "Gedichte von Friederike Kcmvncr" gedruckt, im bittersten Ernst geschrieben
sind und "zum Spaß" gekauft werden, "in über den Blödsinn der Wendungen
und die Trivialitäten der Sprache lachen zu können, zu vier oder fünf Auf¬
lagen hinaufzuscherzeu, gehört auch zu den charakteristische" Zeugnissen von der
Stellung der Lhrik in der Gegenwart.

Gleichwohl muß immer wieder der Versuch gemacht werden, die richtigen
Maßstäbe anzulegen und die ausgeprägtem und liebenswürdigem Dichtcr-
iudividualitätcu hervorzuheben und sie, wenn auch ohne viel Hoffnung auf
Erfolg, dem verehrlichen Publikum zu empfehle". Am leichtesten erscheint dies
gegenüber jenen Lhrikern, welche durch lokale Beziehungen oder literarische
Arbeiten, die ganz außerhalb der Lyrik liegen, einen Frenudeskreis und eine
gewisse Verbreitung gewönne" habe". So gleichgiltig sich auch das große
Publikum zweiten, dritten und vierten Auflage,? gegenüber verhält (und was
wollen den" auch ein paar hundert Exemplare mehr oder weniger angesichts
des Masscnvcrkaufs von Scheffels "Trompeter" und "Gaudeamus" bedeute"!),
so erhebt die bloße Thatsache des öfter" Erscheinens eine" lyrische" Dichter über
diejenige" seiner Genosse", die einmal auftauchen, um alsbald wieder z" ver¬
schwinden. Zu den Dichtungen, welche bereits zum drittenmale vorliegen, ge¬
hören in erster Reihe die Plattdeutschen Gedichte in ditmarscher Mundart
von Johann Meyer (Kiel, Lipsius und Tischer), in deren lyrischem und
namentlich in deren epischen? Teil sich einige ganz vorzügliche Stücke finden und
die alles in allem von einer echten, wenngleich nordisch-schwerflüssigen Dichter-
natur Zeugnis ablegen. Die wundersame Ditmarscher Landesgeschichte lebt in
Meyers Balladen wieder auf, bis zu ihrem tragischen Schlüsse, dem Lahmheit
vom 20. Juni 1559, den, nicht viel über ein halbes Jahrhundert nach ihrem
großen Siege bei Hemmingsted, die nun besiegten Bauern schwören mußten:


Se lecgu dar w slapeu still un so bleak
Öwer't Feld, als de dnlhauteu Bau;
U" de Lurkcn, de sum^u ehr den Grnffgcsang,
Un de Summer, de Streu ehr de Blom.

Gin Kapitel deutscher Lyrik.

nur in der Stärke und Lebendigkeit der Phantasie, in der Wärme und Tiefe
des Gefühls bestehen können. Eine Neigung zur Abschleifung, zur bedenk¬
lichsten Gleichartigkeit der Empfindung nud des Ausdrucks, ein gewisses
Etwas, das mit einer alles durchhanchcudcn Luft die größte Ähnlichkeit hat,
raubt den meisten neuern Gedichten die Fähigkeit zu tieferer Wirkung, der
Glanz und Hauch der Individualität schwebt nur selten über ihnen. Freilich
hat sich auch die Kritik angewöhnt, in so allgemeinen Redensarten über neuere
Lhrik zu berichten, daß man meinen müßte, es bestünden gnr keine Unterschiede
mehr, und jene unglücklichen Dilettanten, welche sich durch besonders ungeschickte
Bilder und besonders klägliche Verse hervorthun, seien die einzigen selbständigen
Naturen. Daß es dieser Kritik gelungen ist, die lyrischen Stammcleien, welche,
als „Gedichte von Friederike Kcmvncr" gedruckt, im bittersten Ernst geschrieben
sind und „zum Spaß" gekauft werden, »in über den Blödsinn der Wendungen
und die Trivialitäten der Sprache lachen zu können, zu vier oder fünf Auf¬
lagen hinaufzuscherzeu, gehört auch zu den charakteristische» Zeugnissen von der
Stellung der Lhrik in der Gegenwart.

Gleichwohl muß immer wieder der Versuch gemacht werden, die richtigen
Maßstäbe anzulegen und die ausgeprägtem und liebenswürdigem Dichtcr-
iudividualitätcu hervorzuheben und sie, wenn auch ohne viel Hoffnung auf
Erfolg, dem verehrlichen Publikum zu empfehle». Am leichtesten erscheint dies
gegenüber jenen Lhrikern, welche durch lokale Beziehungen oder literarische
Arbeiten, die ganz außerhalb der Lyrik liegen, einen Frenudeskreis und eine
gewisse Verbreitung gewönne» habe». So gleichgiltig sich auch das große
Publikum zweiten, dritten und vierten Auflage,? gegenüber verhält (und was
wollen den» auch ein paar hundert Exemplare mehr oder weniger angesichts
des Masscnvcrkaufs von Scheffels „Trompeter" und „Gaudeamus" bedeute»!),
so erhebt die bloße Thatsache des öfter» Erscheinens eine» lyrische» Dichter über
diejenige» seiner Genosse», die einmal auftauchen, um alsbald wieder z» ver¬
schwinden. Zu den Dichtungen, welche bereits zum drittenmale vorliegen, ge¬
hören in erster Reihe die Plattdeutschen Gedichte in ditmarscher Mundart
von Johann Meyer (Kiel, Lipsius und Tischer), in deren lyrischem und
namentlich in deren epischen? Teil sich einige ganz vorzügliche Stücke finden und
die alles in allem von einer echten, wenngleich nordisch-schwerflüssigen Dichter-
natur Zeugnis ablegen. Die wundersame Ditmarscher Landesgeschichte lebt in
Meyers Balladen wieder auf, bis zu ihrem tragischen Schlüsse, dem Lahmheit
vom 20. Juni 1559, den, nicht viel über ein halbes Jahrhundert nach ihrem
großen Siege bei Hemmingsted, die nun besiegten Bauern schwören mußten:


Se lecgu dar w slapeu still un so bleak
Öwer't Feld, als de dnlhauteu Bau;
U» de Lurkcn, de sum^u ehr den Grnffgcsang,
Un de Summer, de Streu ehr de Blom.

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[0094] Gin Kapitel deutscher Lyrik. nur in der Stärke und Lebendigkeit der Phantasie, in der Wärme und Tiefe des Gefühls bestehen können. Eine Neigung zur Abschleifung, zur bedenk¬ lichsten Gleichartigkeit der Empfindung nud des Ausdrucks, ein gewisses Etwas, das mit einer alles durchhanchcudcn Luft die größte Ähnlichkeit hat, raubt den meisten neuern Gedichten die Fähigkeit zu tieferer Wirkung, der Glanz und Hauch der Individualität schwebt nur selten über ihnen. Freilich hat sich auch die Kritik angewöhnt, in so allgemeinen Redensarten über neuere Lhrik zu berichten, daß man meinen müßte, es bestünden gnr keine Unterschiede mehr, und jene unglücklichen Dilettanten, welche sich durch besonders ungeschickte Bilder und besonders klägliche Verse hervorthun, seien die einzigen selbständigen Naturen. Daß es dieser Kritik gelungen ist, die lyrischen Stammcleien, welche, als „Gedichte von Friederike Kcmvncr" gedruckt, im bittersten Ernst geschrieben sind und „zum Spaß" gekauft werden, »in über den Blödsinn der Wendungen und die Trivialitäten der Sprache lachen zu können, zu vier oder fünf Auf¬ lagen hinaufzuscherzeu, gehört auch zu den charakteristische» Zeugnissen von der Stellung der Lhrik in der Gegenwart. Gleichwohl muß immer wieder der Versuch gemacht werden, die richtigen Maßstäbe anzulegen und die ausgeprägtem und liebenswürdigem Dichtcr- iudividualitätcu hervorzuheben und sie, wenn auch ohne viel Hoffnung auf Erfolg, dem verehrlichen Publikum zu empfehle». Am leichtesten erscheint dies gegenüber jenen Lhrikern, welche durch lokale Beziehungen oder literarische Arbeiten, die ganz außerhalb der Lyrik liegen, einen Frenudeskreis und eine gewisse Verbreitung gewönne» habe». So gleichgiltig sich auch das große Publikum zweiten, dritten und vierten Auflage,? gegenüber verhält (und was wollen den» auch ein paar hundert Exemplare mehr oder weniger angesichts des Masscnvcrkaufs von Scheffels „Trompeter" und „Gaudeamus" bedeute»!), so erhebt die bloße Thatsache des öfter» Erscheinens eine» lyrische» Dichter über diejenige» seiner Genosse», die einmal auftauchen, um alsbald wieder z» ver¬ schwinden. Zu den Dichtungen, welche bereits zum drittenmale vorliegen, ge¬ hören in erster Reihe die Plattdeutschen Gedichte in ditmarscher Mundart von Johann Meyer (Kiel, Lipsius und Tischer), in deren lyrischem und namentlich in deren epischen? Teil sich einige ganz vorzügliche Stücke finden und die alles in allem von einer echten, wenngleich nordisch-schwerflüssigen Dichter- natur Zeugnis ablegen. Die wundersame Ditmarscher Landesgeschichte lebt in Meyers Balladen wieder auf, bis zu ihrem tragischen Schlüsse, dem Lahmheit vom 20. Juni 1559, den, nicht viel über ein halbes Jahrhundert nach ihrem großen Siege bei Hemmingsted, die nun besiegten Bauern schwören mußten: Se lecgu dar w slapeu still un so bleak Öwer't Feld, als de dnlhauteu Bau; U» de Lurkcn, de sum^u ehr den Grnffgcsang, Un de Summer, de Streu ehr de Blom.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/94>, abgerufen am 03.07.2024.