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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Ein Kapitel deutscher Lyrik,

modernen Unsterblichkeitsvcrleiher. Daneben aber verwahren sich der Dichter
und sein Verleger auf der Rückseite des Titels gegen den Nachdruck auch ein¬
zelner Gedichte -- mit allem Recht, Denn die paar Bogen des Büchleins
würden von unsern Zeitungen unter der Rubrik "Vcrschiednes" bald genug rein
ausgeplündert sein, und da neunundneunzig Zeitungen das herausschneiden, was
sie in der hundertsten gefunden haben, so würden die besten Einfälle die Runde
machen, ohne dem Verleger einen klingenden und dem Autor einen stillen Dank
der Leser einzutragen. Es ist genau wie Bormann sagt: die Lyrik gilt in
der modernen deutschen Literatur als das überflüssigste, ja sie findet allen¬
falls Käufer, aber keine stimmungsvollen Leser. Nur bei besondern Anlässen,
wo es die Menschen wie mit innerer Gewalt überkommt, daß der Dichter das
erste und letzte Wort sprechen muß, lauscht man etwas aufmerksamer und an¬
dächtiger, und dann will es das Unglück, daß in zehn Fällen einmal der
Dichter und neunmal sein Narr, der Dichterling, das Wort hat.

Trotz alledem, wie unausrottbar erscheint der Trieb zur lyrischen Dichtung,
der Glaube daran bei uns Deutschen! Selbst die Naturalisten vom reinsten
Wasser mögen ihre Kellnerinnen und ihre Mädchen der Halbwelt nicht uube-
sungen lassen und können des Verses nicht entraten, die Sozialisten feiern in
schwungvollen oder holprigen Rhythmen den Untergang unsrer Lügenknltur, das
Blutreich der Herrschaft des vierten Standes, welcher in Zukunft der erste und
einzige sein wird, selbst die Albernheiten der Spiritisten nehmen lyrische
Form an und stellen sich dar als Klänge Heines oder Leuaus, deren Talent
sich in der bessern Welt unglaublich vergröbert und verwässert hat. Drei
oder vier Zeitschriften sind in den letzten Jahren entstanden, die sich aus¬
schließlich oder doch vorwiegend der Pflege der Lyrik widmen, und wie es auch
immer zugehen mag, sie bestehen und in ihrem Schatten gedeihen Dichternamen,
von denen die Welt sonst wenig oder nichts weiß. Fast müssen wir fürchten,
daß der Widerspruch zwischen der unleugbaren Gleichgiltigkeit gegen die Lyrik
und der Unmasse lyrischer Gedichte für die Existenz einer Art von Sport spricht,
der ohne innern Anteil Proben deutscher Dichtung mit immer neuen Namen sam¬
melt, wie man ehedem Mücken in Bernstein oder Siegel sammelte. Es wäre noch
eine günstigere Lesart, daß die Dichter, wie im siebzehnten Jahrhundert, selbst ihr
bestes Publikum bildeten -- denn was im engsten Kreise noch wahrhaften und
lebendigen Anteil weckt, kaun eines Tages diesen Kreis sprengen und wieder im
großen Leben wirken. Die Gefahr für die deutsche lyrische Dichtung liegt nnr
darin, daß während dieser Periode cholerischer Existenz sich ein allzugroßes
Glcichheits- und Brüderlichkeitsgefühl Heransbilde. Wie vor Zeiten die Stillen
im Lande ihre Erkennungszeichen im Däumelu und Tranmdcuteu hatten und
darüber beinahe vergaßen nach der Wahrheit und Innerlichkeit der gemein¬
samen Frömmigkeit zu fragen, so erkenne" sich die Genossen in Rhythmus und
Reim und verlernen Herz und Nieren zu prüfen, die beim Dichter doch immer


Ein Kapitel deutscher Lyrik,

modernen Unsterblichkeitsvcrleiher. Daneben aber verwahren sich der Dichter
und sein Verleger auf der Rückseite des Titels gegen den Nachdruck auch ein¬
zelner Gedichte — mit allem Recht, Denn die paar Bogen des Büchleins
würden von unsern Zeitungen unter der Rubrik „Vcrschiednes" bald genug rein
ausgeplündert sein, und da neunundneunzig Zeitungen das herausschneiden, was
sie in der hundertsten gefunden haben, so würden die besten Einfälle die Runde
machen, ohne dem Verleger einen klingenden und dem Autor einen stillen Dank
der Leser einzutragen. Es ist genau wie Bormann sagt: die Lyrik gilt in
der modernen deutschen Literatur als das überflüssigste, ja sie findet allen¬
falls Käufer, aber keine stimmungsvollen Leser. Nur bei besondern Anlässen,
wo es die Menschen wie mit innerer Gewalt überkommt, daß der Dichter das
erste und letzte Wort sprechen muß, lauscht man etwas aufmerksamer und an¬
dächtiger, und dann will es das Unglück, daß in zehn Fällen einmal der
Dichter und neunmal sein Narr, der Dichterling, das Wort hat.

Trotz alledem, wie unausrottbar erscheint der Trieb zur lyrischen Dichtung,
der Glaube daran bei uns Deutschen! Selbst die Naturalisten vom reinsten
Wasser mögen ihre Kellnerinnen und ihre Mädchen der Halbwelt nicht uube-
sungen lassen und können des Verses nicht entraten, die Sozialisten feiern in
schwungvollen oder holprigen Rhythmen den Untergang unsrer Lügenknltur, das
Blutreich der Herrschaft des vierten Standes, welcher in Zukunft der erste und
einzige sein wird, selbst die Albernheiten der Spiritisten nehmen lyrische
Form an und stellen sich dar als Klänge Heines oder Leuaus, deren Talent
sich in der bessern Welt unglaublich vergröbert und verwässert hat. Drei
oder vier Zeitschriften sind in den letzten Jahren entstanden, die sich aus¬
schließlich oder doch vorwiegend der Pflege der Lyrik widmen, und wie es auch
immer zugehen mag, sie bestehen und in ihrem Schatten gedeihen Dichternamen,
von denen die Welt sonst wenig oder nichts weiß. Fast müssen wir fürchten,
daß der Widerspruch zwischen der unleugbaren Gleichgiltigkeit gegen die Lyrik
und der Unmasse lyrischer Gedichte für die Existenz einer Art von Sport spricht,
der ohne innern Anteil Proben deutscher Dichtung mit immer neuen Namen sam¬
melt, wie man ehedem Mücken in Bernstein oder Siegel sammelte. Es wäre noch
eine günstigere Lesart, daß die Dichter, wie im siebzehnten Jahrhundert, selbst ihr
bestes Publikum bildeten — denn was im engsten Kreise noch wahrhaften und
lebendigen Anteil weckt, kaun eines Tages diesen Kreis sprengen und wieder im
großen Leben wirken. Die Gefahr für die deutsche lyrische Dichtung liegt nnr
darin, daß während dieser Periode cholerischer Existenz sich ein allzugroßes
Glcichheits- und Brüderlichkeitsgefühl Heransbilde. Wie vor Zeiten die Stillen
im Lande ihre Erkennungszeichen im Däumelu und Tranmdcuteu hatten und
darüber beinahe vergaßen nach der Wahrheit und Innerlichkeit der gemein¬
samen Frömmigkeit zu fragen, so erkenne» sich die Genossen in Rhythmus und
Reim und verlernen Herz und Nieren zu prüfen, die beim Dichter doch immer


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[0093] Ein Kapitel deutscher Lyrik, modernen Unsterblichkeitsvcrleiher. Daneben aber verwahren sich der Dichter und sein Verleger auf der Rückseite des Titels gegen den Nachdruck auch ein¬ zelner Gedichte — mit allem Recht, Denn die paar Bogen des Büchleins würden von unsern Zeitungen unter der Rubrik „Vcrschiednes" bald genug rein ausgeplündert sein, und da neunundneunzig Zeitungen das herausschneiden, was sie in der hundertsten gefunden haben, so würden die besten Einfälle die Runde machen, ohne dem Verleger einen klingenden und dem Autor einen stillen Dank der Leser einzutragen. Es ist genau wie Bormann sagt: die Lyrik gilt in der modernen deutschen Literatur als das überflüssigste, ja sie findet allen¬ falls Käufer, aber keine stimmungsvollen Leser. Nur bei besondern Anlässen, wo es die Menschen wie mit innerer Gewalt überkommt, daß der Dichter das erste und letzte Wort sprechen muß, lauscht man etwas aufmerksamer und an¬ dächtiger, und dann will es das Unglück, daß in zehn Fällen einmal der Dichter und neunmal sein Narr, der Dichterling, das Wort hat. Trotz alledem, wie unausrottbar erscheint der Trieb zur lyrischen Dichtung, der Glaube daran bei uns Deutschen! Selbst die Naturalisten vom reinsten Wasser mögen ihre Kellnerinnen und ihre Mädchen der Halbwelt nicht uube- sungen lassen und können des Verses nicht entraten, die Sozialisten feiern in schwungvollen oder holprigen Rhythmen den Untergang unsrer Lügenknltur, das Blutreich der Herrschaft des vierten Standes, welcher in Zukunft der erste und einzige sein wird, selbst die Albernheiten der Spiritisten nehmen lyrische Form an und stellen sich dar als Klänge Heines oder Leuaus, deren Talent sich in der bessern Welt unglaublich vergröbert und verwässert hat. Drei oder vier Zeitschriften sind in den letzten Jahren entstanden, die sich aus¬ schließlich oder doch vorwiegend der Pflege der Lyrik widmen, und wie es auch immer zugehen mag, sie bestehen und in ihrem Schatten gedeihen Dichternamen, von denen die Welt sonst wenig oder nichts weiß. Fast müssen wir fürchten, daß der Widerspruch zwischen der unleugbaren Gleichgiltigkeit gegen die Lyrik und der Unmasse lyrischer Gedichte für die Existenz einer Art von Sport spricht, der ohne innern Anteil Proben deutscher Dichtung mit immer neuen Namen sam¬ melt, wie man ehedem Mücken in Bernstein oder Siegel sammelte. Es wäre noch eine günstigere Lesart, daß die Dichter, wie im siebzehnten Jahrhundert, selbst ihr bestes Publikum bildeten — denn was im engsten Kreise noch wahrhaften und lebendigen Anteil weckt, kaun eines Tages diesen Kreis sprengen und wieder im großen Leben wirken. Die Gefahr für die deutsche lyrische Dichtung liegt nnr darin, daß während dieser Periode cholerischer Existenz sich ein allzugroßes Glcichheits- und Brüderlichkeitsgefühl Heransbilde. Wie vor Zeiten die Stillen im Lande ihre Erkennungszeichen im Däumelu und Tranmdcuteu hatten und darüber beinahe vergaßen nach der Wahrheit und Innerlichkeit der gemein¬ samen Frömmigkeit zu fragen, so erkenne» sich die Genossen in Rhythmus und Reim und verlernen Herz und Nieren zu prüfen, die beim Dichter doch immer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/93>, abgerufen am 01.07.2024.