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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die systematische -- Kant würde vielleicht nur sagen "schematisirende" --
Ästhetik ist bekanntlich keine alte Wissenschaft. Wir drücken uns absichtlich
negativ ans, wir sagen nicht "eine junge Wissenschaft." Eine junge Wissenschaft
ist eine solche, deren Geburtsstunde wirklich erst vor kurzem geschlagen hat, die
erst eingetreten ist, als überhaupt die Bedingungen für ihr Keimen und Leben
vorhanden waren. Junge Wissenschaften sind die Eisenbahn- und Maschinen¬
kunde, die Elektrotechnik u. s. w., man konnte im Hinblick auf die Volksverhält¬
nisse der modernen Welt vielleicht auch sagen die "Nationalökonomie," Ärzte
würden auch etwa die "Bakteriologie" so nennen. Aber die Ästhetik könnte
bereits so alt sein, wie die erste Erschließung des keimenden Kunstlebens im
Menschengeschlecht zur vollen Blüte, und die liegt über zwei Jahrtausende hinter
uns. Der Grund ist sehr wichtig sür unsern Versuch, dem christlichen Ästhetiker
gerecht zu werden. Beleuchten wir ihn ein wenig.

Es war uns sehr merkwürdig, als wir beim Aufschlagen des Buches gleich
von jenem berühmten Platonische" Dialoge empfangen wurden, in welchem der
eitle Sophist Hippias von dein großen Ironiker auf Grund einer maßlos selbst¬
gefälligen Äußerung über die Schönheit seiner Vorträge so lange mit scheinbar
naiven Fragen herumgehetzt wird, bis er einsehen muß, daß die Schönheit eben
eine Ansichtssache sei. Am Schlüsse des belustigend resultatlosen Wortgefechtes
läßt nun Sokrates anscheinend ganz nebensächlich das Korrektiv für den lächer¬
lichen Prahlhans einfließen, nämlich die bedeutsame Äußerung, er glaube jetzt
den Sinn des Sprichwortes zu verstehen: "Alles Schöne ist schwer." Im
Platon und in diesem Sprichwort liegen für uns schon all jene unabweislichen
Schwierigkeiten, welche die Begründung der Ästhetik so lange hinausschoben,
welche uoch jetzt ihre Existenz in den Augen der strengen Wissenschaft so
problematisch und in denen empfindsamer Geister und schöner Seelen so wert
und anziehend machen, in ihnen liegen zugleich Wurzel und Verteidignngs-
mittel des vorliegenden Buches. Wir wollen versuchen, sie gleich in eine Formel
zusammenzufassen, und wir bitten, sich durch das fremde Aussehe" derselben vor¬
läufig nicht stören zu lassen; sie beruhen auf dem berechtigten Streben, das Schöne
der Empfindung mit dem Schönen in der Erscheinung in Einklang zu bringen.

Das Schöne der Empfindung ist ein wesentlich Einfaches. Es ist
wohl definirbar, aber letzten Endes ein Unaussprechliches, welches mit dem All-
gemeinwvrt "Gefallen" in allen Sprachen ziemlich gleichmäßig bezeichnet wird,")



Wir wollen hierbei gleich rühmend anerkennen, daß die vorliegende "Ästhetik" auf
den psychologischen Faktor in ihrer Wissenschaft äußerlich wenigstens mehr Gewicht legt als
ihre dialektischen Schwestern. Wir glauben in der ausführlichen Berücksichtigung und Ve-
leuchtnug der Willenssphäre bereits eine Einwirkung der in dieser Hinsicht heilsamen Schopen-
haucrscheu Philosophie zu erkennen. Nur hätte der Verfasser, der eine besondere Abhand¬
lung über "Das Gemüt und das Gefühlsvermögen in der neuern Psychologie" geschrieben
hat, in der Ansnujzung dieser Partien, ans deren eigentümliche Wichtigkeit er so energisch hin-

Die systematische — Kant würde vielleicht nur sagen „schematisirende" —
Ästhetik ist bekanntlich keine alte Wissenschaft. Wir drücken uns absichtlich
negativ ans, wir sagen nicht „eine junge Wissenschaft." Eine junge Wissenschaft
ist eine solche, deren Geburtsstunde wirklich erst vor kurzem geschlagen hat, die
erst eingetreten ist, als überhaupt die Bedingungen für ihr Keimen und Leben
vorhanden waren. Junge Wissenschaften sind die Eisenbahn- und Maschinen¬
kunde, die Elektrotechnik u. s. w., man konnte im Hinblick auf die Volksverhält¬
nisse der modernen Welt vielleicht auch sagen die „Nationalökonomie," Ärzte
würden auch etwa die „Bakteriologie" so nennen. Aber die Ästhetik könnte
bereits so alt sein, wie die erste Erschließung des keimenden Kunstlebens im
Menschengeschlecht zur vollen Blüte, und die liegt über zwei Jahrtausende hinter
uns. Der Grund ist sehr wichtig sür unsern Versuch, dem christlichen Ästhetiker
gerecht zu werden. Beleuchten wir ihn ein wenig.

Es war uns sehr merkwürdig, als wir beim Aufschlagen des Buches gleich
von jenem berühmten Platonische» Dialoge empfangen wurden, in welchem der
eitle Sophist Hippias von dein großen Ironiker auf Grund einer maßlos selbst¬
gefälligen Äußerung über die Schönheit seiner Vorträge so lange mit scheinbar
naiven Fragen herumgehetzt wird, bis er einsehen muß, daß die Schönheit eben
eine Ansichtssache sei. Am Schlüsse des belustigend resultatlosen Wortgefechtes
läßt nun Sokrates anscheinend ganz nebensächlich das Korrektiv für den lächer¬
lichen Prahlhans einfließen, nämlich die bedeutsame Äußerung, er glaube jetzt
den Sinn des Sprichwortes zu verstehen: „Alles Schöne ist schwer." Im
Platon und in diesem Sprichwort liegen für uns schon all jene unabweislichen
Schwierigkeiten, welche die Begründung der Ästhetik so lange hinausschoben,
welche uoch jetzt ihre Existenz in den Augen der strengen Wissenschaft so
problematisch und in denen empfindsamer Geister und schöner Seelen so wert
und anziehend machen, in ihnen liegen zugleich Wurzel und Verteidignngs-
mittel des vorliegenden Buches. Wir wollen versuchen, sie gleich in eine Formel
zusammenzufassen, und wir bitten, sich durch das fremde Aussehe« derselben vor¬
läufig nicht stören zu lassen; sie beruhen auf dem berechtigten Streben, das Schöne
der Empfindung mit dem Schönen in der Erscheinung in Einklang zu bringen.

Das Schöne der Empfindung ist ein wesentlich Einfaches. Es ist
wohl definirbar, aber letzten Endes ein Unaussprechliches, welches mit dem All-
gemeinwvrt „Gefallen" in allen Sprachen ziemlich gleichmäßig bezeichnet wird,")



Wir wollen hierbei gleich rühmend anerkennen, daß die vorliegende „Ästhetik" auf
den psychologischen Faktor in ihrer Wissenschaft äußerlich wenigstens mehr Gewicht legt als
ihre dialektischen Schwestern. Wir glauben in der ausführlichen Berücksichtigung und Ve-
leuchtnug der Willenssphäre bereits eine Einwirkung der in dieser Hinsicht heilsamen Schopen-
haucrscheu Philosophie zu erkennen. Nur hätte der Verfasser, der eine besondere Abhand¬
lung über „Das Gemüt und das Gefühlsvermögen in der neuern Psychologie" geschrieben
hat, in der Ansnujzung dieser Partien, ans deren eigentümliche Wichtigkeit er so energisch hin-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/86>, abgerufen am 22.12.2024.