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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Der evangelische Bund.

Gemeindebewußtsein verkümmert. Noch viel verderblicher ist der Parteihader,
welcher die besten Kräfte verzehrt und eine gedeihliche positive Entwicklung des
deutschen Protestantismus lähmt. Während wir uns über innerkirchliche Fragen
entzweien, schreitet der Feind, der uns zu vernichten strebt, unaufhaltsam vor.
Dazu hat er in unserm eignen Lager gefährliche Bundesgenossen. Die in vielen
und einflußreichen Kreisen verbreiteten falschen Paritäts- und Toleranzbegriffe leisten
ihm willkommene Hilfe, und der Materialismus, in welchen ganze Schichten unsers
Volkes versunken sind, nicht minder aber der religiöse Jndifferentismus bahnen ihm
den Weg zur Herrschaft.

Diese Schilderung der Lage muß leider als zutreffend bezeichnet werden.
Es ist daran auch nichts geändert, seitdem die Zwietracht im römischen Lager
ausgebrochen ist. Wenn Windthorst und Konsorten es wagen, dem Papste den
Gehorsam zu verweigern, so handeln sie nicht nach Willkür, sondern auf höhere
Weisung, es ist der Kampf des Jesuitismus gegen das selbständige Kirchenregiment.
Dieser jesuitische Geist, der den Frieden nicht will und nie gewollt hat und dessen Ziel
es ist, den "Kulturkampf" so lange fortzuführen, als noch ein Ketzer in Deutsch¬
land lebt, hat die katholische Kirche und besonders die Kreise des niedern Klerus
durchdrungen und fühlt sich derart erstarkt, daß er auch einen offenen Kampf
gegen das Haupt der katholischen Christenheit nicht scheut, mit der uur zu be¬
gründeten Hoffnung, daß sich Leo XIII. schließlich geradeso unterwerfen werde
wie Pius IX. Wenn dies am Papste geschieht, was wird der evangelische "Ketzer"
für Duldung zu erwarten haben? Die römische Propaganda macht in der
Stille erhebliche Fortschritte, besonders in den hohen Kreisen, die römische Kirche
faßt mitten im evangelischen Lande festen Fuß und bildet Gemeinden. Wo
aber eine solche Gemeinde entstanden ist, entsteht durch die Mischehen und die
konfessionelle Schule die Gefahr, daß Glieder der evangelischen Gemeinden ver¬
loren gehen.

Die evangelische Kirche, als Einheit betrachtet, ist nur eine Abstraktion.
Es giebt Kirchengemeinden und die Zusammenfassung einer Anzahl derselben
durch eine kirchliche oder staatliche Verfassung. Es giebt sogar eine Schwarz-
burg-sondershäusische, eine meiningische und eine weimarische Kirche; der Grenz¬
pfahl eines kleinen thüringischen Ländchens bedeutet zugleich eine Scheidewand,
wenn auch nicht des evangelischen Bekenntnisses, so doch des evangelischen Lebens.
Was fragt der Hannoveraner nach dem Westfalen oder der Sachse nach dem
Schlesier? Sie fühlen sich staatlich eins, aber kirchlich stehen sie sich fremd gegen¬
über. Es fehlt das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, und wo es vorhanden
sein könnte, da richtet der Parteihader desto größern Schaden an. Welchen
Widerstand wird eine Kirche leisten können, deren einer Flügel zwar gegen den
Katholizismus kämpft, aber mehr gegen den Inhalt an positiver Religion als
gegen die Irrlehre, während der andre Flügel aus politischen und kirchlichen
Gründen mit dem Gegner -- dessen Art völlig verkannt wird -- am liebsten
gemeinsame Sache macht?


Der evangelische Bund.

Gemeindebewußtsein verkümmert. Noch viel verderblicher ist der Parteihader,
welcher die besten Kräfte verzehrt und eine gedeihliche positive Entwicklung des
deutschen Protestantismus lähmt. Während wir uns über innerkirchliche Fragen
entzweien, schreitet der Feind, der uns zu vernichten strebt, unaufhaltsam vor.
Dazu hat er in unserm eignen Lager gefährliche Bundesgenossen. Die in vielen
und einflußreichen Kreisen verbreiteten falschen Paritäts- und Toleranzbegriffe leisten
ihm willkommene Hilfe, und der Materialismus, in welchen ganze Schichten unsers
Volkes versunken sind, nicht minder aber der religiöse Jndifferentismus bahnen ihm
den Weg zur Herrschaft.

Diese Schilderung der Lage muß leider als zutreffend bezeichnet werden.
Es ist daran auch nichts geändert, seitdem die Zwietracht im römischen Lager
ausgebrochen ist. Wenn Windthorst und Konsorten es wagen, dem Papste den
Gehorsam zu verweigern, so handeln sie nicht nach Willkür, sondern auf höhere
Weisung, es ist der Kampf des Jesuitismus gegen das selbständige Kirchenregiment.
Dieser jesuitische Geist, der den Frieden nicht will und nie gewollt hat und dessen Ziel
es ist, den „Kulturkampf" so lange fortzuführen, als noch ein Ketzer in Deutsch¬
land lebt, hat die katholische Kirche und besonders die Kreise des niedern Klerus
durchdrungen und fühlt sich derart erstarkt, daß er auch einen offenen Kampf
gegen das Haupt der katholischen Christenheit nicht scheut, mit der uur zu be¬
gründeten Hoffnung, daß sich Leo XIII. schließlich geradeso unterwerfen werde
wie Pius IX. Wenn dies am Papste geschieht, was wird der evangelische „Ketzer"
für Duldung zu erwarten haben? Die römische Propaganda macht in der
Stille erhebliche Fortschritte, besonders in den hohen Kreisen, die römische Kirche
faßt mitten im evangelischen Lande festen Fuß und bildet Gemeinden. Wo
aber eine solche Gemeinde entstanden ist, entsteht durch die Mischehen und die
konfessionelle Schule die Gefahr, daß Glieder der evangelischen Gemeinden ver¬
loren gehen.

Die evangelische Kirche, als Einheit betrachtet, ist nur eine Abstraktion.
Es giebt Kirchengemeinden und die Zusammenfassung einer Anzahl derselben
durch eine kirchliche oder staatliche Verfassung. Es giebt sogar eine Schwarz-
burg-sondershäusische, eine meiningische und eine weimarische Kirche; der Grenz¬
pfahl eines kleinen thüringischen Ländchens bedeutet zugleich eine Scheidewand,
wenn auch nicht des evangelischen Bekenntnisses, so doch des evangelischen Lebens.
Was fragt der Hannoveraner nach dem Westfalen oder der Sachse nach dem
Schlesier? Sie fühlen sich staatlich eins, aber kirchlich stehen sie sich fremd gegen¬
über. Es fehlt das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, und wo es vorhanden
sein könnte, da richtet der Parteihader desto größern Schaden an. Welchen
Widerstand wird eine Kirche leisten können, deren einer Flügel zwar gegen den
Katholizismus kämpft, aber mehr gegen den Inhalt an positiver Religion als
gegen die Irrlehre, während der andre Flügel aus politischen und kirchlichen
Gründen mit dem Gegner — dessen Art völlig verkannt wird — am liebsten
gemeinsame Sache macht?


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[0626] Der evangelische Bund. Gemeindebewußtsein verkümmert. Noch viel verderblicher ist der Parteihader, welcher die besten Kräfte verzehrt und eine gedeihliche positive Entwicklung des deutschen Protestantismus lähmt. Während wir uns über innerkirchliche Fragen entzweien, schreitet der Feind, der uns zu vernichten strebt, unaufhaltsam vor. Dazu hat er in unserm eignen Lager gefährliche Bundesgenossen. Die in vielen und einflußreichen Kreisen verbreiteten falschen Paritäts- und Toleranzbegriffe leisten ihm willkommene Hilfe, und der Materialismus, in welchen ganze Schichten unsers Volkes versunken sind, nicht minder aber der religiöse Jndifferentismus bahnen ihm den Weg zur Herrschaft. Diese Schilderung der Lage muß leider als zutreffend bezeichnet werden. Es ist daran auch nichts geändert, seitdem die Zwietracht im römischen Lager ausgebrochen ist. Wenn Windthorst und Konsorten es wagen, dem Papste den Gehorsam zu verweigern, so handeln sie nicht nach Willkür, sondern auf höhere Weisung, es ist der Kampf des Jesuitismus gegen das selbständige Kirchenregiment. Dieser jesuitische Geist, der den Frieden nicht will und nie gewollt hat und dessen Ziel es ist, den „Kulturkampf" so lange fortzuführen, als noch ein Ketzer in Deutsch¬ land lebt, hat die katholische Kirche und besonders die Kreise des niedern Klerus durchdrungen und fühlt sich derart erstarkt, daß er auch einen offenen Kampf gegen das Haupt der katholischen Christenheit nicht scheut, mit der uur zu be¬ gründeten Hoffnung, daß sich Leo XIII. schließlich geradeso unterwerfen werde wie Pius IX. Wenn dies am Papste geschieht, was wird der evangelische „Ketzer" für Duldung zu erwarten haben? Die römische Propaganda macht in der Stille erhebliche Fortschritte, besonders in den hohen Kreisen, die römische Kirche faßt mitten im evangelischen Lande festen Fuß und bildet Gemeinden. Wo aber eine solche Gemeinde entstanden ist, entsteht durch die Mischehen und die konfessionelle Schule die Gefahr, daß Glieder der evangelischen Gemeinden ver¬ loren gehen. Die evangelische Kirche, als Einheit betrachtet, ist nur eine Abstraktion. Es giebt Kirchengemeinden und die Zusammenfassung einer Anzahl derselben durch eine kirchliche oder staatliche Verfassung. Es giebt sogar eine Schwarz- burg-sondershäusische, eine meiningische und eine weimarische Kirche; der Grenz¬ pfahl eines kleinen thüringischen Ländchens bedeutet zugleich eine Scheidewand, wenn auch nicht des evangelischen Bekenntnisses, so doch des evangelischen Lebens. Was fragt der Hannoveraner nach dem Westfalen oder der Sachse nach dem Schlesier? Sie fühlen sich staatlich eins, aber kirchlich stehen sie sich fremd gegen¬ über. Es fehlt das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, und wo es vorhanden sein könnte, da richtet der Parteihader desto größern Schaden an. Welchen Widerstand wird eine Kirche leisten können, deren einer Flügel zwar gegen den Katholizismus kämpft, aber mehr gegen den Inhalt an positiver Religion als gegen die Irrlehre, während der andre Flügel aus politischen und kirchlichen Gründen mit dem Gegner — dessen Art völlig verkannt wird — am liebsten gemeinsame Sache macht?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/626>, abgerufen am 22.07.2024.