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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die englische Ministerkrisis.

jetzt, wo das liberalste Mitglied desselben sich zurückgezogen hat, dazu Neigung
empfinden? Und doch würde, wenn Salisbury seinen Posten niederlegte, was
sehr wenig wahrscheinlich ist, Hartington es nicht wagen können, mit nur sechs¬
undsiebzig zu seiner Unterstützung bereiten Stimmen im Unterhause die Minister¬
präsidentschaft zu übernehmen. Gladstone aber bleibt wohl kalt gestellt, solange
Irland existirt und ans der einen Seite Parnell, auf der andern die Unionisten
ihn bedrohen. Das Ende der Ministerkrisis wird also wohl darin bestehen, daß
ein konservatives Kabinet, moralisch und persönlich geschwächt, weiter bestehen
wird, weil die Verwaltung des Landes von einer Zentralbehörde fortgeleitet
werden muß und niemand anders vorhanden ist, diese Arbeit zu thal. Das
wäre dann die neueste und schlimmste Leistung des englischen Systems mit seiner
Parteiregierung.

Wer als Ergebnis der Krisis ein Koalitionsministerium erwartet, zieht
unsrer Meinung nach nicht alles in Rechnung, was die dermcilige politische
Lage in London bezeichnet. Man spricht, als ob die liberalen Unionisten nur
den Lord Hartington und eine Anzahl von Whigs umfaßten, welche sich, wenn
überhaupt, wenig von den Konservativen unterscheiden. Die Unionisten bilden
aber eine Partei für sich, die in der irischen Frage zu gutem Kampfe zusammen¬
gehalten und den Staat durch Fallenlassen der sie von den alten Gegnern
trennenden Meinungen und ebenso der sie untereinander scheidenden Glaubens¬
sätze vor der von Gladstone betriebenen Zerstückelung bewahrt haben. Nehmen
wir an, daß Hartington mit Salisbury in allen Hauptsachen sich verständigen
und zusammenwirken könnte -- was keineswegs sicher ist, da der Erbe des
Hauses Cavendish zwar maßvoll in seinen Äußerungen und billigdeukend gegen¬
über Andersdenkenden, aber trotzdem ein entschieden liberal gesinnter Politiker,
selbst in Landfragen ist, wo man ihn wegen seiner Stellung und seines großen
Grundbesitzes auf konservativer Seite vermuten sollte. Aber dürfen wir auch
glauben, er werde sich bewegen lasten, die zweite, oder wie Salisbury ihm an¬
geboten haben soll, die erste Stelle im Kabinet anzunehmen, so müssen wir uns
doch derer erinnern, welche seine politische Gefolgschaft bilden, und unter denen
Chamberlain der bedeutendste ist. Derselbe gab kurz vor den letzten Wahlen
zu Gunsten einer großen Sache, der Reichseinheit, seine unabhängige Stellung
auf und erkannte in aller Form Hartington als seinen Führer an. Dieser
General der Unionisten wird sich jetzt mit seinen Stabsoffizieren beraten, und
es wäre fast als ein Wunder anzusehen, wem: sich der radikale Chamberlain
bewegen ließe, sich mit Salisbury zu verbinden, es wäre wie eine Vereinigung
von Feuer und Wasser. Dasselbe gilt von Trevelyan, der vermutlich lieber
sein ganzes Leben hindurch ohne eine ministerielle Stellung bliebe, als daß er
sich einem konservativen Kabinet einfügen ließe. Nicht ganz mit derselben
Sicherheit läßt sich die Haltung Göschens und Henry James' voraussagen,
obwohl man keinen Grund hat, sie nicht als echte und feste Liberale zu be-


Die englische Ministerkrisis.

jetzt, wo das liberalste Mitglied desselben sich zurückgezogen hat, dazu Neigung
empfinden? Und doch würde, wenn Salisbury seinen Posten niederlegte, was
sehr wenig wahrscheinlich ist, Hartington es nicht wagen können, mit nur sechs¬
undsiebzig zu seiner Unterstützung bereiten Stimmen im Unterhause die Minister¬
präsidentschaft zu übernehmen. Gladstone aber bleibt wohl kalt gestellt, solange
Irland existirt und ans der einen Seite Parnell, auf der andern die Unionisten
ihn bedrohen. Das Ende der Ministerkrisis wird also wohl darin bestehen, daß
ein konservatives Kabinet, moralisch und persönlich geschwächt, weiter bestehen
wird, weil die Verwaltung des Landes von einer Zentralbehörde fortgeleitet
werden muß und niemand anders vorhanden ist, diese Arbeit zu thal. Das
wäre dann die neueste und schlimmste Leistung des englischen Systems mit seiner
Parteiregierung.

Wer als Ergebnis der Krisis ein Koalitionsministerium erwartet, zieht
unsrer Meinung nach nicht alles in Rechnung, was die dermcilige politische
Lage in London bezeichnet. Man spricht, als ob die liberalen Unionisten nur
den Lord Hartington und eine Anzahl von Whigs umfaßten, welche sich, wenn
überhaupt, wenig von den Konservativen unterscheiden. Die Unionisten bilden
aber eine Partei für sich, die in der irischen Frage zu gutem Kampfe zusammen¬
gehalten und den Staat durch Fallenlassen der sie von den alten Gegnern
trennenden Meinungen und ebenso der sie untereinander scheidenden Glaubens¬
sätze vor der von Gladstone betriebenen Zerstückelung bewahrt haben. Nehmen
wir an, daß Hartington mit Salisbury in allen Hauptsachen sich verständigen
und zusammenwirken könnte — was keineswegs sicher ist, da der Erbe des
Hauses Cavendish zwar maßvoll in seinen Äußerungen und billigdeukend gegen¬
über Andersdenkenden, aber trotzdem ein entschieden liberal gesinnter Politiker,
selbst in Landfragen ist, wo man ihn wegen seiner Stellung und seines großen
Grundbesitzes auf konservativer Seite vermuten sollte. Aber dürfen wir auch
glauben, er werde sich bewegen lasten, die zweite, oder wie Salisbury ihm an¬
geboten haben soll, die erste Stelle im Kabinet anzunehmen, so müssen wir uns
doch derer erinnern, welche seine politische Gefolgschaft bilden, und unter denen
Chamberlain der bedeutendste ist. Derselbe gab kurz vor den letzten Wahlen
zu Gunsten einer großen Sache, der Reichseinheit, seine unabhängige Stellung
auf und erkannte in aller Form Hartington als seinen Führer an. Dieser
General der Unionisten wird sich jetzt mit seinen Stabsoffizieren beraten, und
es wäre fast als ein Wunder anzusehen, wem: sich der radikale Chamberlain
bewegen ließe, sich mit Salisbury zu verbinden, es wäre wie eine Vereinigung
von Feuer und Wasser. Dasselbe gilt von Trevelyan, der vermutlich lieber
sein ganzes Leben hindurch ohne eine ministerielle Stellung bliebe, als daß er
sich einem konservativen Kabinet einfügen ließe. Nicht ganz mit derselben
Sicherheit läßt sich die Haltung Göschens und Henry James' voraussagen,
obwohl man keinen Grund hat, sie nicht als echte und feste Liberale zu be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/61>, abgerufen am 03.07.2024.