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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

Zünfte, jene Sitze der Freiheit und des Mannesmutes, einst geringer von sich
gedacht haben? Überall bewährt noch heute ein kräftig entwickeltes Standes¬
gefühl seine materielle und sittlich hebende Kraft. Wer sich in der bestehenden
Gesellschaft eine solche Bedeutung beilegt, kann ihr nicht rein verneinend gegen¬
überstehen. Das Standesgefühl wird so zu der staatserhaltenden Macht, die
es im Laufe der Geschichte mehrfach gewesen ist. Wenn es heute sich wieder
allenthalben regt, selbst nach gesetzlicher Organisation ringt, so liegt darin eine
Gewähr der Zukunft.

Das zweite ist ein ebenfalls hoch entwickeltes Vaterlandsgefühl. In den
oben angeführten Worten mag dasselbe einen fast anmaßenden Ausdruck ge¬
wählt haben. Aber das Vaterlandsgefühl, auch wenn es sich in überschwäng-
licher Weise äußert, bleibt eben doch die einzige populäre Form des Staats¬
gefühls. Denn für den Ungebildeten ist der Staat als Abstraktum unverständlich.

Der Dichter des oben mitgeteilten Liedes, der eben kein andrer als der
xoor, uarä vorlün^ irmn selbst ist, war aber daneben auch entschieden religiös
gestimmt. Der Bau einer Gesellschaft, der äußerlich noch glänzend sein mag,
ist doch innerlich bereits faul, wenn sich die Religion als xaß'Mg, aus dem
Kampfe des Lebens in die stillen Winkel zurückzieht. Diese Entwicklung, der
mau auf dem Festlande nicht allzufern zu sein scheint, liegt in England ent¬
schieden nicht vor. Radikalismus ist dort mit Irreligiosität nicht verschwistert;
im Gegenteil haben sich jene strengen Richtungen, in denen der alte puritanische
Geist fortlebt, auf die Linke zurückgezogen. Wenn man Entstaatlichung der
Hochkirche will, so verlangt man dies von vielen Seiten im Sinne einer Ent-
weltlichung der Kirche.

Standesgefühl, Vaterlandsliebe und Religiosität: diese drei Eigenschaften
innerhalb der breiten Arbeitermassen verwirklicht -- das bedeutet Aussöhnung
derselben mit unsrer Gesellschaftsordnung und unsrer Weltanschauung. Nur
allmählich und nur aus sich heraus werden sich die genannten Eigenschaften
entwickeln, und nur unter einer Reihe günstiger materieller und sittlicher Vor¬
bedingungen. Was die letztern angeht, so liegt ihre Herbeiführung zum guten
Teile an den gebildeten Teilen der Nation. Daß der persönliche Verkehr mit
dem Arbeiterstande von größter Wichtigkeit ist, diese Einsicht bricht sich mehr
und mehr innerhalb der oberen Klassen des englischen Volkes Bahn. Ins¬
besondre gehen auch hier die UnivsrsIt^-lliLn mit gutem Beispiele voran, und
die Bedeutung der sozialpolitische" Bestrebungen in ihren Kreisen ist nur von
diesem allgemeinen Gesichtspunkte aus ganz zu würdigen. Unter ihnen gehören
Männer, welche gleich den Residenten von Toynbee-Hall Opfer M eigner Zeit
dem Verkehr mit den arbeitenden Klassen bringen, nicht zu den Seltenheiten.
Ein solches Wirken ist wahrhaft human; anders aber wie bei der eigentlichen
Wohlthätigkeit reifen seine Früchte nur ganz allmählich und im Verborgenen.
Es läßt sich dabei nicht feststellen: so und so viel Menschen "gerettet," so und


Toynbee-Hall.

Zünfte, jene Sitze der Freiheit und des Mannesmutes, einst geringer von sich
gedacht haben? Überall bewährt noch heute ein kräftig entwickeltes Standes¬
gefühl seine materielle und sittlich hebende Kraft. Wer sich in der bestehenden
Gesellschaft eine solche Bedeutung beilegt, kann ihr nicht rein verneinend gegen¬
überstehen. Das Standesgefühl wird so zu der staatserhaltenden Macht, die
es im Laufe der Geschichte mehrfach gewesen ist. Wenn es heute sich wieder
allenthalben regt, selbst nach gesetzlicher Organisation ringt, so liegt darin eine
Gewähr der Zukunft.

Das zweite ist ein ebenfalls hoch entwickeltes Vaterlandsgefühl. In den
oben angeführten Worten mag dasselbe einen fast anmaßenden Ausdruck ge¬
wählt haben. Aber das Vaterlandsgefühl, auch wenn es sich in überschwäng-
licher Weise äußert, bleibt eben doch die einzige populäre Form des Staats¬
gefühls. Denn für den Ungebildeten ist der Staat als Abstraktum unverständlich.

Der Dichter des oben mitgeteilten Liedes, der eben kein andrer als der
xoor, uarä vorlün^ irmn selbst ist, war aber daneben auch entschieden religiös
gestimmt. Der Bau einer Gesellschaft, der äußerlich noch glänzend sein mag,
ist doch innerlich bereits faul, wenn sich die Religion als xaß'Mg, aus dem
Kampfe des Lebens in die stillen Winkel zurückzieht. Diese Entwicklung, der
mau auf dem Festlande nicht allzufern zu sein scheint, liegt in England ent¬
schieden nicht vor. Radikalismus ist dort mit Irreligiosität nicht verschwistert;
im Gegenteil haben sich jene strengen Richtungen, in denen der alte puritanische
Geist fortlebt, auf die Linke zurückgezogen. Wenn man Entstaatlichung der
Hochkirche will, so verlangt man dies von vielen Seiten im Sinne einer Ent-
weltlichung der Kirche.

Standesgefühl, Vaterlandsliebe und Religiosität: diese drei Eigenschaften
innerhalb der breiten Arbeitermassen verwirklicht — das bedeutet Aussöhnung
derselben mit unsrer Gesellschaftsordnung und unsrer Weltanschauung. Nur
allmählich und nur aus sich heraus werden sich die genannten Eigenschaften
entwickeln, und nur unter einer Reihe günstiger materieller und sittlicher Vor¬
bedingungen. Was die letztern angeht, so liegt ihre Herbeiführung zum guten
Teile an den gebildeten Teilen der Nation. Daß der persönliche Verkehr mit
dem Arbeiterstande von größter Wichtigkeit ist, diese Einsicht bricht sich mehr
und mehr innerhalb der oberen Klassen des englischen Volkes Bahn. Ins¬
besondre gehen auch hier die UnivsrsIt^-lliLn mit gutem Beispiele voran, und
die Bedeutung der sozialpolitische» Bestrebungen in ihren Kreisen ist nur von
diesem allgemeinen Gesichtspunkte aus ganz zu würdigen. Unter ihnen gehören
Männer, welche gleich den Residenten von Toynbee-Hall Opfer M eigner Zeit
dem Verkehr mit den arbeitenden Klassen bringen, nicht zu den Seltenheiten.
Ein solches Wirken ist wahrhaft human; anders aber wie bei der eigentlichen
Wohlthätigkeit reifen seine Früchte nur ganz allmählich und im Verborgenen.
Es läßt sich dabei nicht feststellen: so und so viel Menschen „gerettet," so und


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[0586] Toynbee-Hall. Zünfte, jene Sitze der Freiheit und des Mannesmutes, einst geringer von sich gedacht haben? Überall bewährt noch heute ein kräftig entwickeltes Standes¬ gefühl seine materielle und sittlich hebende Kraft. Wer sich in der bestehenden Gesellschaft eine solche Bedeutung beilegt, kann ihr nicht rein verneinend gegen¬ überstehen. Das Standesgefühl wird so zu der staatserhaltenden Macht, die es im Laufe der Geschichte mehrfach gewesen ist. Wenn es heute sich wieder allenthalben regt, selbst nach gesetzlicher Organisation ringt, so liegt darin eine Gewähr der Zukunft. Das zweite ist ein ebenfalls hoch entwickeltes Vaterlandsgefühl. In den oben angeführten Worten mag dasselbe einen fast anmaßenden Ausdruck ge¬ wählt haben. Aber das Vaterlandsgefühl, auch wenn es sich in überschwäng- licher Weise äußert, bleibt eben doch die einzige populäre Form des Staats¬ gefühls. Denn für den Ungebildeten ist der Staat als Abstraktum unverständlich. Der Dichter des oben mitgeteilten Liedes, der eben kein andrer als der xoor, uarä vorlün^ irmn selbst ist, war aber daneben auch entschieden religiös gestimmt. Der Bau einer Gesellschaft, der äußerlich noch glänzend sein mag, ist doch innerlich bereits faul, wenn sich die Religion als xaß'Mg, aus dem Kampfe des Lebens in die stillen Winkel zurückzieht. Diese Entwicklung, der mau auf dem Festlande nicht allzufern zu sein scheint, liegt in England ent¬ schieden nicht vor. Radikalismus ist dort mit Irreligiosität nicht verschwistert; im Gegenteil haben sich jene strengen Richtungen, in denen der alte puritanische Geist fortlebt, auf die Linke zurückgezogen. Wenn man Entstaatlichung der Hochkirche will, so verlangt man dies von vielen Seiten im Sinne einer Ent- weltlichung der Kirche. Standesgefühl, Vaterlandsliebe und Religiosität: diese drei Eigenschaften innerhalb der breiten Arbeitermassen verwirklicht — das bedeutet Aussöhnung derselben mit unsrer Gesellschaftsordnung und unsrer Weltanschauung. Nur allmählich und nur aus sich heraus werden sich die genannten Eigenschaften entwickeln, und nur unter einer Reihe günstiger materieller und sittlicher Vor¬ bedingungen. Was die letztern angeht, so liegt ihre Herbeiführung zum guten Teile an den gebildeten Teilen der Nation. Daß der persönliche Verkehr mit dem Arbeiterstande von größter Wichtigkeit ist, diese Einsicht bricht sich mehr und mehr innerhalb der oberen Klassen des englischen Volkes Bahn. Ins¬ besondre gehen auch hier die UnivsrsIt^-lliLn mit gutem Beispiele voran, und die Bedeutung der sozialpolitische» Bestrebungen in ihren Kreisen ist nur von diesem allgemeinen Gesichtspunkte aus ganz zu würdigen. Unter ihnen gehören Männer, welche gleich den Residenten von Toynbee-Hall Opfer M eigner Zeit dem Verkehr mit den arbeitenden Klassen bringen, nicht zu den Seltenheiten. Ein solches Wirken ist wahrhaft human; anders aber wie bei der eigentlichen Wohlthätigkeit reifen seine Früchte nur ganz allmählich und im Verborgenen. Es läßt sich dabei nicht feststellen: so und so viel Menschen „gerettet," so und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/586>, abgerufen am 27.08.2024.