Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Toynbee-Hall.

so viel gekleidet und gespeist. Aber wenn es noch eine andre Speise giebt, die
für den Kulturmenschen ebenso unentbehrlich ist wie die leibliche, so ist das
Werk doch eine wahre Speisung. Wie wichtig es ist, daß auch diese Nahrung
unverfälscht zugeführt werde, zeigt der Lauf der Geschichte: fast alle Krank¬
heiten des sozialen Körpers sind falschen Ideen entsprungen, die zu Leiden¬
schaften der Masse geworden waren.

Ein weit verzweigtes Eisenbahnnetz gewährt auch Männern, die in West-
London wohnen, die Möglichkeit, in die Verhältnisse Ost-Londons kräftig ein¬
zugreifen. Arbeiterklubs, Arbeiterbildungsvereine, Kinderasyle, daneben auch
Nachschickn und Sonntagsschulen werden von solchen Besuchen aus dein Westen
reichen Vorteil haben. Eine andre Art gemeinnütziger Wirksamkeit dagegen ist
ihrer Natur nach auf die Bewohner des Ostens beschränkt: die Beteiligung an
der Selbstverwaltung.

Die englische Gemeindeverfassung beruht auf dem Ehrenamt; auch die
sozial-reformatorischen Gesetze unsers Jahrhunderts lassen demselben noch breiten
Spielraum, so die Fabrik-, Gesundheits-, Schul- und Armengesetzgebung. Das
Ehrenamt aber verlangt Männer, welche Zeit und Lust haben, sich als Lokal¬
patrioten den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen. Eine solche Klasse fehlt
in Ost-London und den Arbeiterbezirken andrer großer Städte. Daher sind
dies die Punkte, von denen die Bewegung nach einer Büreaukrcitisirung der
Verwaltung ihren Ausgang nimmt. Daß eine Entwicklung nach dieser Richtung
ungesund ist, wurde bereits oben bemerkt. Besonders schädlich wäre es, die
Selbstverwaltung aus dem Gebiete der gesetzlichen Armenpflege zu verdrängen.
Kann doch niemand sich Aufgaben dieser Art besser erledigen, als ein orts¬
erfahrener Ehrenmann, der nach freiem Ermessen und eigner Verantwortlichkeit
handelt. Trotzdem zeigt sich auch auf diesem Gebiete die Neigung zur staat¬
lichen Zentralisirung. Aus der Parlamentskommission, welche ursprünglich nur
vorübergehend zur Ausführung des großen Armeureformgesetzes von 1834 und
insbesondre zur Bildung der neuen Armenverbände, der sogenannten Unions,
eingesetzt war, hat sich eine ständige Behörde entwickelt. Dieser Qsntr^l doarä
wurde 1871 mit der ?rinrg.ry eänes-lion und Gesundheitspflege zu dem Iioval
Aovsrninkrck voarck vereinigt. Als Gegengewicht zu der zentralen Behörde hat
man das lokale Amt des ?00i law FuaräiM, Armenpflegers, geschaffen. Aber
gerade dort, wo der Armenpflege die schwierigsten Aufgaben gestellt sind, fehlen
für dieses Ehrenamt ebenso wie für die Selbstverwaltung überhaupt die geeigneten
Kräfte. Es ist nun eines der Ziele der Ani-versit^ ssttlvrnsnt-ÄSsovi^lion, diesem
Mangel abzuhelfen durch Ansiedlung von IIllivörÄt/-ro.6Q in Ost-London und
andern englischen Industriestädten. Die erste That der Gesellschaft war die
Gründung von Toynbee-Hall. In der That sind die Residenten von Toynbee-
Hall vielfach in der Gemeindeverwaltung thätig. Insbesondre versehen sie in
Verbindung mit den in White-Chapel ansässigen Geistlichen das Amt der ?oc>r


Toynbee-Hall.

so viel gekleidet und gespeist. Aber wenn es noch eine andre Speise giebt, die
für den Kulturmenschen ebenso unentbehrlich ist wie die leibliche, so ist das
Werk doch eine wahre Speisung. Wie wichtig es ist, daß auch diese Nahrung
unverfälscht zugeführt werde, zeigt der Lauf der Geschichte: fast alle Krank¬
heiten des sozialen Körpers sind falschen Ideen entsprungen, die zu Leiden¬
schaften der Masse geworden waren.

Ein weit verzweigtes Eisenbahnnetz gewährt auch Männern, die in West-
London wohnen, die Möglichkeit, in die Verhältnisse Ost-Londons kräftig ein¬
zugreifen. Arbeiterklubs, Arbeiterbildungsvereine, Kinderasyle, daneben auch
Nachschickn und Sonntagsschulen werden von solchen Besuchen aus dein Westen
reichen Vorteil haben. Eine andre Art gemeinnütziger Wirksamkeit dagegen ist
ihrer Natur nach auf die Bewohner des Ostens beschränkt: die Beteiligung an
der Selbstverwaltung.

Die englische Gemeindeverfassung beruht auf dem Ehrenamt; auch die
sozial-reformatorischen Gesetze unsers Jahrhunderts lassen demselben noch breiten
Spielraum, so die Fabrik-, Gesundheits-, Schul- und Armengesetzgebung. Das
Ehrenamt aber verlangt Männer, welche Zeit und Lust haben, sich als Lokal¬
patrioten den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen. Eine solche Klasse fehlt
in Ost-London und den Arbeiterbezirken andrer großer Städte. Daher sind
dies die Punkte, von denen die Bewegung nach einer Büreaukrcitisirung der
Verwaltung ihren Ausgang nimmt. Daß eine Entwicklung nach dieser Richtung
ungesund ist, wurde bereits oben bemerkt. Besonders schädlich wäre es, die
Selbstverwaltung aus dem Gebiete der gesetzlichen Armenpflege zu verdrängen.
Kann doch niemand sich Aufgaben dieser Art besser erledigen, als ein orts¬
erfahrener Ehrenmann, der nach freiem Ermessen und eigner Verantwortlichkeit
handelt. Trotzdem zeigt sich auch auf diesem Gebiete die Neigung zur staat¬
lichen Zentralisirung. Aus der Parlamentskommission, welche ursprünglich nur
vorübergehend zur Ausführung des großen Armeureformgesetzes von 1834 und
insbesondre zur Bildung der neuen Armenverbände, der sogenannten Unions,
eingesetzt war, hat sich eine ständige Behörde entwickelt. Dieser Qsntr^l doarä
wurde 1871 mit der ?rinrg.ry eänes-lion und Gesundheitspflege zu dem Iioval
Aovsrninkrck voarck vereinigt. Als Gegengewicht zu der zentralen Behörde hat
man das lokale Amt des ?00i law FuaräiM, Armenpflegers, geschaffen. Aber
gerade dort, wo der Armenpflege die schwierigsten Aufgaben gestellt sind, fehlen
für dieses Ehrenamt ebenso wie für die Selbstverwaltung überhaupt die geeigneten
Kräfte. Es ist nun eines der Ziele der Ani-versit^ ssttlvrnsnt-ÄSsovi^lion, diesem
Mangel abzuhelfen durch Ansiedlung von IIllivörÄt/-ro.6Q in Ost-London und
andern englischen Industriestädten. Die erste That der Gesellschaft war die
Gründung von Toynbee-Hall. In der That sind die Residenten von Toynbee-
Hall vielfach in der Gemeindeverwaltung thätig. Insbesondre versehen sie in
Verbindung mit den in White-Chapel ansässigen Geistlichen das Amt der ?oc>r


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0587" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200692"/>
          <fw type="header" place="top"> Toynbee-Hall.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1849" prev="#ID_1848"> so viel gekleidet und gespeist. Aber wenn es noch eine andre Speise giebt, die<lb/>
für den Kulturmenschen ebenso unentbehrlich ist wie die leibliche, so ist das<lb/>
Werk doch eine wahre Speisung. Wie wichtig es ist, daß auch diese Nahrung<lb/>
unverfälscht zugeführt werde, zeigt der Lauf der Geschichte: fast alle Krank¬<lb/>
heiten des sozialen Körpers sind falschen Ideen entsprungen, die zu Leiden¬<lb/>
schaften der Masse geworden waren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1850"> Ein weit verzweigtes Eisenbahnnetz gewährt auch Männern, die in West-<lb/>
London wohnen, die Möglichkeit, in die Verhältnisse Ost-Londons kräftig ein¬<lb/>
zugreifen. Arbeiterklubs, Arbeiterbildungsvereine, Kinderasyle, daneben auch<lb/>
Nachschickn und Sonntagsschulen werden von solchen Besuchen aus dein Westen<lb/>
reichen Vorteil haben. Eine andre Art gemeinnütziger Wirksamkeit dagegen ist<lb/>
ihrer Natur nach auf die Bewohner des Ostens beschränkt: die Beteiligung an<lb/>
der Selbstverwaltung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1851" next="#ID_1852"> Die englische Gemeindeverfassung beruht auf dem Ehrenamt; auch die<lb/>
sozial-reformatorischen Gesetze unsers Jahrhunderts lassen demselben noch breiten<lb/>
Spielraum, so die Fabrik-, Gesundheits-, Schul- und Armengesetzgebung. Das<lb/>
Ehrenamt aber verlangt Männer, welche Zeit und Lust haben, sich als Lokal¬<lb/>
patrioten den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen. Eine solche Klasse fehlt<lb/>
in Ost-London und den Arbeiterbezirken andrer großer Städte. Daher sind<lb/>
dies die Punkte, von denen die Bewegung nach einer Büreaukrcitisirung der<lb/>
Verwaltung ihren Ausgang nimmt. Daß eine Entwicklung nach dieser Richtung<lb/>
ungesund ist, wurde bereits oben bemerkt. Besonders schädlich wäre es, die<lb/>
Selbstverwaltung aus dem Gebiete der gesetzlichen Armenpflege zu verdrängen.<lb/>
Kann doch niemand sich Aufgaben dieser Art besser erledigen, als ein orts¬<lb/>
erfahrener Ehrenmann, der nach freiem Ermessen und eigner Verantwortlichkeit<lb/>
handelt. Trotzdem zeigt sich auch auf diesem Gebiete die Neigung zur staat¬<lb/>
lichen Zentralisirung. Aus der Parlamentskommission, welche ursprünglich nur<lb/>
vorübergehend zur Ausführung des großen Armeureformgesetzes von 1834 und<lb/>
insbesondre zur Bildung der neuen Armenverbände, der sogenannten Unions,<lb/>
eingesetzt war, hat sich eine ständige Behörde entwickelt. Dieser Qsntr^l doarä<lb/>
wurde 1871 mit der ?rinrg.ry eänes-lion und Gesundheitspflege zu dem Iioval<lb/>
Aovsrninkrck voarck vereinigt. Als Gegengewicht zu der zentralen Behörde hat<lb/>
man das lokale Amt des ?00i law FuaräiM, Armenpflegers, geschaffen. Aber<lb/>
gerade dort, wo der Armenpflege die schwierigsten Aufgaben gestellt sind, fehlen<lb/>
für dieses Ehrenamt ebenso wie für die Selbstverwaltung überhaupt die geeigneten<lb/>
Kräfte. Es ist nun eines der Ziele der Ani-versit^ ssttlvrnsnt-ÄSsovi^lion, diesem<lb/>
Mangel abzuhelfen durch Ansiedlung von IIllivörÄt/-ro.6Q in Ost-London und<lb/>
andern englischen Industriestädten. Die erste That der Gesellschaft war die<lb/>
Gründung von Toynbee-Hall. In der That sind die Residenten von Toynbee-<lb/>
Hall vielfach in der Gemeindeverwaltung thätig. Insbesondre versehen sie in<lb/>
Verbindung mit den in White-Chapel ansässigen Geistlichen das Amt der ?oc&gt;r</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0587] Toynbee-Hall. so viel gekleidet und gespeist. Aber wenn es noch eine andre Speise giebt, die für den Kulturmenschen ebenso unentbehrlich ist wie die leibliche, so ist das Werk doch eine wahre Speisung. Wie wichtig es ist, daß auch diese Nahrung unverfälscht zugeführt werde, zeigt der Lauf der Geschichte: fast alle Krank¬ heiten des sozialen Körpers sind falschen Ideen entsprungen, die zu Leiden¬ schaften der Masse geworden waren. Ein weit verzweigtes Eisenbahnnetz gewährt auch Männern, die in West- London wohnen, die Möglichkeit, in die Verhältnisse Ost-Londons kräftig ein¬ zugreifen. Arbeiterklubs, Arbeiterbildungsvereine, Kinderasyle, daneben auch Nachschickn und Sonntagsschulen werden von solchen Besuchen aus dein Westen reichen Vorteil haben. Eine andre Art gemeinnütziger Wirksamkeit dagegen ist ihrer Natur nach auf die Bewohner des Ostens beschränkt: die Beteiligung an der Selbstverwaltung. Die englische Gemeindeverfassung beruht auf dem Ehrenamt; auch die sozial-reformatorischen Gesetze unsers Jahrhunderts lassen demselben noch breiten Spielraum, so die Fabrik-, Gesundheits-, Schul- und Armengesetzgebung. Das Ehrenamt aber verlangt Männer, welche Zeit und Lust haben, sich als Lokal¬ patrioten den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen. Eine solche Klasse fehlt in Ost-London und den Arbeiterbezirken andrer großer Städte. Daher sind dies die Punkte, von denen die Bewegung nach einer Büreaukrcitisirung der Verwaltung ihren Ausgang nimmt. Daß eine Entwicklung nach dieser Richtung ungesund ist, wurde bereits oben bemerkt. Besonders schädlich wäre es, die Selbstverwaltung aus dem Gebiete der gesetzlichen Armenpflege zu verdrängen. Kann doch niemand sich Aufgaben dieser Art besser erledigen, als ein orts¬ erfahrener Ehrenmann, der nach freiem Ermessen und eigner Verantwortlichkeit handelt. Trotzdem zeigt sich auch auf diesem Gebiete die Neigung zur staat¬ lichen Zentralisirung. Aus der Parlamentskommission, welche ursprünglich nur vorübergehend zur Ausführung des großen Armeureformgesetzes von 1834 und insbesondre zur Bildung der neuen Armenverbände, der sogenannten Unions, eingesetzt war, hat sich eine ständige Behörde entwickelt. Dieser Qsntr^l doarä wurde 1871 mit der ?rinrg.ry eänes-lion und Gesundheitspflege zu dem Iioval Aovsrninkrck voarck vereinigt. Als Gegengewicht zu der zentralen Behörde hat man das lokale Amt des ?00i law FuaräiM, Armenpflegers, geschaffen. Aber gerade dort, wo der Armenpflege die schwierigsten Aufgaben gestellt sind, fehlen für dieses Ehrenamt ebenso wie für die Selbstverwaltung überhaupt die geeigneten Kräfte. Es ist nun eines der Ziele der Ani-versit^ ssttlvrnsnt-ÄSsovi^lion, diesem Mangel abzuhelfen durch Ansiedlung von IIllivörÄt/-ro.6Q in Ost-London und andern englischen Industriestädten. Die erste That der Gesellschaft war die Gründung von Toynbee-Hall. In der That sind die Residenten von Toynbee- Hall vielfach in der Gemeindeverwaltung thätig. Insbesondre versehen sie in Verbindung mit den in White-Chapel ansässigen Geistlichen das Amt der ?oc>r

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/587
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/587>, abgerufen am 23.12.2024.