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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

gelegenen Hänschen vernehmbar werden. Der uns wohlbekannte Mann hantirte
fast täglich auf dem Kirchhofe, indem er die Gräber kürzlich verstorbener sauber
mit frischem Nasen bekleidete, aus andre Gräber Rosenstöcke, eine beliebte Grabes¬
zier, pflanzte, oder schon ältere und eingesunkene Grabhügel auf Wunsch der
Angehörigen der Verstorbenen wieder aufhöhte. Ungeachtet meiner Schüchtern¬
heit, die seit meiner Erkrankung mich jedem Fremden gegenüber befiel, was
mich übertrieben zurückhaltend machte, plagte mich doch die Neugier, dem Toten¬
gräber mit einer direkten Frage zu Leibe zu gehen. Er sah mich ernsthaft an,
nickte sehr bedeutsam mit dem Kopfe und sagte trocken: Das ist so, mein Junge;
wenn einer sterben soll, höre ich das Grabscheit klingen. Manchmal sehe ich
auch das Totenlicht über dem Kopfe des dem Tode verfallenen. Ein blaues
Flämmchen flackert über ihm auf und verlischt ganz allmählich.

Mir standen die Haare zu Berge bei diesen Worten des schlichten Mannes,
der garnicht das Aussehen eines Aufschneiders, absichtlichen Lügners oder
Scheines hatte, und seine Person ward mir ehrwürdig. Ob er selbst an das,
was er erzählte, glaubte, weiß ich nicht, doch ist es mir sehr wahrscheinlich,
denn er gehörte zu den mancherlei Eingebornen des Dorfes, denen oft "etwas
vorkam," die oft "ein Gesicht" hatten. Unaufgefordert erzählte mir derselbe
Mann, wenn ich ihm bei seinen Arbeiten zusah, noch allerhand Geschichten von
Vorbedeutungen, wobei er besonders scharf betonte, daß dies allen Leuten so
gehe, dcrei? Beruf es sei, Verstorbene zu berühren und sie in Sarg und Erde
zu betten. Von der Leichenwäscherin insbesondre wollte er wissen, daß sie von
jedem Sterbenden kurz vor dessen Ableben einen schemenartigen Besuch erhalte,
und daß dieser Besuch, ohne zu sprechen, sich wieder entferne, nachdem er ein
Stück frische Seife auf die Ofenbank gelegt habe.

Mit fast noch unheimlicheren Blicken als das Bahrhaus betrachtete ich das
verrufene Grab an der Kirchhofsmauer. Hier schlummerte nämlich eine Frau
der Auferstehung und dem Gericht entgegen, die sich selbst entleibt hatte, "ub
diese Frau war die Witwe eines Predigers gewesen, der von derselben Kanzel
herab, auf der jetzt mein Vater stand, das Wort der Erlösung gepredigt hatte!
Was die unglückliche Frau bald nach dem Tode ihres Gatten veranlaßt hatte,
selbst Hand an sich zu legen, habe ich nie erfahren können. Es lebten im
Dorfe noch viele hochbetagte Leute, welche die Frau persönlich gekannt hatten,
von diesen war aber in Bezug auf ihr häusliches Leben, ihren Charakter, nichts
zu erfahren. Wäre sie aber auch bei Lebzeiten von engelhafter Güte ge¬
wesen, das Urteil der Menge über sie würde nach dem traurigen Ende, das
sie genommen hatte, doch hart, lieblos, ja großenteils verdammend gelautet
haben.

Man darf nicht vergessen, daß in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr¬
hunderts über Selbstmörder im allgemeinen noch erschreckend streng geurteilt
wurde. Ein Mensch, der sich selbst getötet hatte, ward von dem Volke als ein


Jugenderinnerungen.

gelegenen Hänschen vernehmbar werden. Der uns wohlbekannte Mann hantirte
fast täglich auf dem Kirchhofe, indem er die Gräber kürzlich verstorbener sauber
mit frischem Nasen bekleidete, aus andre Gräber Rosenstöcke, eine beliebte Grabes¬
zier, pflanzte, oder schon ältere und eingesunkene Grabhügel auf Wunsch der
Angehörigen der Verstorbenen wieder aufhöhte. Ungeachtet meiner Schüchtern¬
heit, die seit meiner Erkrankung mich jedem Fremden gegenüber befiel, was
mich übertrieben zurückhaltend machte, plagte mich doch die Neugier, dem Toten¬
gräber mit einer direkten Frage zu Leibe zu gehen. Er sah mich ernsthaft an,
nickte sehr bedeutsam mit dem Kopfe und sagte trocken: Das ist so, mein Junge;
wenn einer sterben soll, höre ich das Grabscheit klingen. Manchmal sehe ich
auch das Totenlicht über dem Kopfe des dem Tode verfallenen. Ein blaues
Flämmchen flackert über ihm auf und verlischt ganz allmählich.

Mir standen die Haare zu Berge bei diesen Worten des schlichten Mannes,
der garnicht das Aussehen eines Aufschneiders, absichtlichen Lügners oder
Scheines hatte, und seine Person ward mir ehrwürdig. Ob er selbst an das,
was er erzählte, glaubte, weiß ich nicht, doch ist es mir sehr wahrscheinlich,
denn er gehörte zu den mancherlei Eingebornen des Dorfes, denen oft „etwas
vorkam," die oft „ein Gesicht" hatten. Unaufgefordert erzählte mir derselbe
Mann, wenn ich ihm bei seinen Arbeiten zusah, noch allerhand Geschichten von
Vorbedeutungen, wobei er besonders scharf betonte, daß dies allen Leuten so
gehe, dcrei? Beruf es sei, Verstorbene zu berühren und sie in Sarg und Erde
zu betten. Von der Leichenwäscherin insbesondre wollte er wissen, daß sie von
jedem Sterbenden kurz vor dessen Ableben einen schemenartigen Besuch erhalte,
und daß dieser Besuch, ohne zu sprechen, sich wieder entferne, nachdem er ein
Stück frische Seife auf die Ofenbank gelegt habe.

Mit fast noch unheimlicheren Blicken als das Bahrhaus betrachtete ich das
verrufene Grab an der Kirchhofsmauer. Hier schlummerte nämlich eine Frau
der Auferstehung und dem Gericht entgegen, die sich selbst entleibt hatte, «ub
diese Frau war die Witwe eines Predigers gewesen, der von derselben Kanzel
herab, auf der jetzt mein Vater stand, das Wort der Erlösung gepredigt hatte!
Was die unglückliche Frau bald nach dem Tode ihres Gatten veranlaßt hatte,
selbst Hand an sich zu legen, habe ich nie erfahren können. Es lebten im
Dorfe noch viele hochbetagte Leute, welche die Frau persönlich gekannt hatten,
von diesen war aber in Bezug auf ihr häusliches Leben, ihren Charakter, nichts
zu erfahren. Wäre sie aber auch bei Lebzeiten von engelhafter Güte ge¬
wesen, das Urteil der Menge über sie würde nach dem traurigen Ende, das
sie genommen hatte, doch hart, lieblos, ja großenteils verdammend gelautet
haben.

Man darf nicht vergessen, daß in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr¬
hunderts über Selbstmörder im allgemeinen noch erschreckend streng geurteilt
wurde. Ein Mensch, der sich selbst getötet hatte, ward von dem Volke als ein


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[0501] Jugenderinnerungen. gelegenen Hänschen vernehmbar werden. Der uns wohlbekannte Mann hantirte fast täglich auf dem Kirchhofe, indem er die Gräber kürzlich verstorbener sauber mit frischem Nasen bekleidete, aus andre Gräber Rosenstöcke, eine beliebte Grabes¬ zier, pflanzte, oder schon ältere und eingesunkene Grabhügel auf Wunsch der Angehörigen der Verstorbenen wieder aufhöhte. Ungeachtet meiner Schüchtern¬ heit, die seit meiner Erkrankung mich jedem Fremden gegenüber befiel, was mich übertrieben zurückhaltend machte, plagte mich doch die Neugier, dem Toten¬ gräber mit einer direkten Frage zu Leibe zu gehen. Er sah mich ernsthaft an, nickte sehr bedeutsam mit dem Kopfe und sagte trocken: Das ist so, mein Junge; wenn einer sterben soll, höre ich das Grabscheit klingen. Manchmal sehe ich auch das Totenlicht über dem Kopfe des dem Tode verfallenen. Ein blaues Flämmchen flackert über ihm auf und verlischt ganz allmählich. Mir standen die Haare zu Berge bei diesen Worten des schlichten Mannes, der garnicht das Aussehen eines Aufschneiders, absichtlichen Lügners oder Scheines hatte, und seine Person ward mir ehrwürdig. Ob er selbst an das, was er erzählte, glaubte, weiß ich nicht, doch ist es mir sehr wahrscheinlich, denn er gehörte zu den mancherlei Eingebornen des Dorfes, denen oft „etwas vorkam," die oft „ein Gesicht" hatten. Unaufgefordert erzählte mir derselbe Mann, wenn ich ihm bei seinen Arbeiten zusah, noch allerhand Geschichten von Vorbedeutungen, wobei er besonders scharf betonte, daß dies allen Leuten so gehe, dcrei? Beruf es sei, Verstorbene zu berühren und sie in Sarg und Erde zu betten. Von der Leichenwäscherin insbesondre wollte er wissen, daß sie von jedem Sterbenden kurz vor dessen Ableben einen schemenartigen Besuch erhalte, und daß dieser Besuch, ohne zu sprechen, sich wieder entferne, nachdem er ein Stück frische Seife auf die Ofenbank gelegt habe. Mit fast noch unheimlicheren Blicken als das Bahrhaus betrachtete ich das verrufene Grab an der Kirchhofsmauer. Hier schlummerte nämlich eine Frau der Auferstehung und dem Gericht entgegen, die sich selbst entleibt hatte, «ub diese Frau war die Witwe eines Predigers gewesen, der von derselben Kanzel herab, auf der jetzt mein Vater stand, das Wort der Erlösung gepredigt hatte! Was die unglückliche Frau bald nach dem Tode ihres Gatten veranlaßt hatte, selbst Hand an sich zu legen, habe ich nie erfahren können. Es lebten im Dorfe noch viele hochbetagte Leute, welche die Frau persönlich gekannt hatten, von diesen war aber in Bezug auf ihr häusliches Leben, ihren Charakter, nichts zu erfahren. Wäre sie aber auch bei Lebzeiten von engelhafter Güte ge¬ wesen, das Urteil der Menge über sie würde nach dem traurigen Ende, das sie genommen hatte, doch hart, lieblos, ja großenteils verdammend gelautet haben. Man darf nicht vergessen, daß in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr¬ hunderts über Selbstmörder im allgemeinen noch erschreckend streng geurteilt wurde. Ein Mensch, der sich selbst getötet hatte, ward von dem Volke als ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/501>, abgerufen am 22.07.2024.