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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die moderne Novellist!? und die jedermann bekannte Wahrheit.

bare Familien würden sich Wohl in Wirklichkeit gefunden haben, die das Kind
des umherziehenden Gauklerpaares bei sich hätten aufnehmen oder gar zum
Gliede der eignen Familie macheu mögen? und aus welchem vernünftigen Grunde
sollte denn ein Mädchen ohne Vermögen und Familie zu etwas anderm als zur
"Dienstbarkeit" bestimmt sein? Und zu guterletzt sitzt der Verfasserin der Schelm
im Nacken, ohne daß sie selbst es weiß; Felicitas ist allerdings edel, hochstrebend
und bildungsfähig, aber -- sie stammt ja eben aus vornehmer Familie!

Ein andrer, mit dem ersten verwandter Satz: "Der bergende und erziehende
Schutz eines gesicherten Familienlebens ist eine unbedeutende, nicht selten für
die freie Entwicklung eines Geistes mehr schädliche als nützliche Sache, und
verdient immer nur im Lichte einer gewissen spöttischen Geringschätzung be¬
trachtet zu werden." In den Schöpfungen unsrer Dichter, in den Bildern und
Skizzen unsrer Maler, in Staats- und volkswissenschaftlichcn Darlegungen über
die Quellen unsrer sittlichen Kraft ist immer unser Familienleben, auch da, wo
es beschränkt und kleinlich dahinfließt, als der beste Schatz unsers ganzen Volks-
tums betrachtet worden. Das Lesefutter aber, welches den Mitgliedern einer
solchen Familie zubereitet wird, weiß nichts von diesem unaussprechlichen Reize
und von dem garnicht hoch genug anzuschlagende" Einflüsse auf Charakter- und
Gemütsbildung, den das Familienheim auszuüben vermag und in der Mehr¬
zahl von Fällen auch ausübt, wenn auch meist in einer nach dieser oder jener
Seite hin beschränkten Weise; hier wird in den engen Gewöhnungen und Not¬
wendigkeiten des geregelten Hausstandes nichts andres erblickt als eine Fessel,
die den "Geist" nicht zu erkennen vermag und ihm ans Schritt und Tritt die
Flügel bindet, und die endlich das edle Gemüt gar zur Verzweiflung treibt.
Gewiß ist es wahr, daß manche Jünglingsköpfe sich einrennen möchten an den
Schranken, die das gute, warme, sichere elterliche Haus ihnen setzt. Aber wie
unendlich überwiegend ist nicht die Zahl der Fälle, in denen böse Antriebe
zurückgehalten, gute Keime entfaltet, verborgene Kräfte hervorgezogen und ge¬
pflegt worden sind durch eben dieses feste Heim! Wie unendlich viele Menschen
würden verloren gegangen sein, hätte nicht das Wort der Mutter, das Beispiel
des Vaters, hätte nicht diese ganze Summe sich täglich wiederholender guter
Einflüsse auf ihn gewirkt, und wäre nicht manchmal noch nach vielen Jahren
die Erinnerung an diese Tage in ihm lebendig geworden. Es ist das Beste in
uns, was gepflegt und behütet wird durch die Genien einer wohlumfriedetcn
Häuslichkeit; wohl dem, der den Antrieben sein Leben lang folgen kann, die ihm
aus einer solchen erwachsen, und wehe dem, der aus Jugcndübermut, trotziger
Unfügsamkeit oder kraftgenialischer Geringschätzung diesen Genien den Rücken
kehrt, um seine eignen Bahnen zu gehen! Zu Ruhm und Größe mögen sie
ihn in einzelnen Fällen führen, zu harmonischer Ausgestaltung seines Wesens
aber werden sie ihn selten, und zum Glücke Wohl nie geleiten!

"Vor der Liebe zwischen Mann und Weib müssen alle andern Ansprüche


Die moderne Novellist!? und die jedermann bekannte Wahrheit.

bare Familien würden sich Wohl in Wirklichkeit gefunden haben, die das Kind
des umherziehenden Gauklerpaares bei sich hätten aufnehmen oder gar zum
Gliede der eignen Familie macheu mögen? und aus welchem vernünftigen Grunde
sollte denn ein Mädchen ohne Vermögen und Familie zu etwas anderm als zur
„Dienstbarkeit" bestimmt sein? Und zu guterletzt sitzt der Verfasserin der Schelm
im Nacken, ohne daß sie selbst es weiß; Felicitas ist allerdings edel, hochstrebend
und bildungsfähig, aber — sie stammt ja eben aus vornehmer Familie!

Ein andrer, mit dem ersten verwandter Satz: „Der bergende und erziehende
Schutz eines gesicherten Familienlebens ist eine unbedeutende, nicht selten für
die freie Entwicklung eines Geistes mehr schädliche als nützliche Sache, und
verdient immer nur im Lichte einer gewissen spöttischen Geringschätzung be¬
trachtet zu werden." In den Schöpfungen unsrer Dichter, in den Bildern und
Skizzen unsrer Maler, in Staats- und volkswissenschaftlichcn Darlegungen über
die Quellen unsrer sittlichen Kraft ist immer unser Familienleben, auch da, wo
es beschränkt und kleinlich dahinfließt, als der beste Schatz unsers ganzen Volks-
tums betrachtet worden. Das Lesefutter aber, welches den Mitgliedern einer
solchen Familie zubereitet wird, weiß nichts von diesem unaussprechlichen Reize
und von dem garnicht hoch genug anzuschlagende» Einflüsse auf Charakter- und
Gemütsbildung, den das Familienheim auszuüben vermag und in der Mehr¬
zahl von Fällen auch ausübt, wenn auch meist in einer nach dieser oder jener
Seite hin beschränkten Weise; hier wird in den engen Gewöhnungen und Not¬
wendigkeiten des geregelten Hausstandes nichts andres erblickt als eine Fessel,
die den „Geist" nicht zu erkennen vermag und ihm ans Schritt und Tritt die
Flügel bindet, und die endlich das edle Gemüt gar zur Verzweiflung treibt.
Gewiß ist es wahr, daß manche Jünglingsköpfe sich einrennen möchten an den
Schranken, die das gute, warme, sichere elterliche Haus ihnen setzt. Aber wie
unendlich überwiegend ist nicht die Zahl der Fälle, in denen böse Antriebe
zurückgehalten, gute Keime entfaltet, verborgene Kräfte hervorgezogen und ge¬
pflegt worden sind durch eben dieses feste Heim! Wie unendlich viele Menschen
würden verloren gegangen sein, hätte nicht das Wort der Mutter, das Beispiel
des Vaters, hätte nicht diese ganze Summe sich täglich wiederholender guter
Einflüsse auf ihn gewirkt, und wäre nicht manchmal noch nach vielen Jahren
die Erinnerung an diese Tage in ihm lebendig geworden. Es ist das Beste in
uns, was gepflegt und behütet wird durch die Genien einer wohlumfriedetcn
Häuslichkeit; wohl dem, der den Antrieben sein Leben lang folgen kann, die ihm
aus einer solchen erwachsen, und wehe dem, der aus Jugcndübermut, trotziger
Unfügsamkeit oder kraftgenialischer Geringschätzung diesen Genien den Rücken
kehrt, um seine eignen Bahnen zu gehen! Zu Ruhm und Größe mögen sie
ihn in einzelnen Fällen führen, zu harmonischer Ausgestaltung seines Wesens
aber werden sie ihn selten, und zum Glücke Wohl nie geleiten!

„Vor der Liebe zwischen Mann und Weib müssen alle andern Ansprüche


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[0451] Die moderne Novellist!? und die jedermann bekannte Wahrheit. bare Familien würden sich Wohl in Wirklichkeit gefunden haben, die das Kind des umherziehenden Gauklerpaares bei sich hätten aufnehmen oder gar zum Gliede der eignen Familie macheu mögen? und aus welchem vernünftigen Grunde sollte denn ein Mädchen ohne Vermögen und Familie zu etwas anderm als zur „Dienstbarkeit" bestimmt sein? Und zu guterletzt sitzt der Verfasserin der Schelm im Nacken, ohne daß sie selbst es weiß; Felicitas ist allerdings edel, hochstrebend und bildungsfähig, aber — sie stammt ja eben aus vornehmer Familie! Ein andrer, mit dem ersten verwandter Satz: „Der bergende und erziehende Schutz eines gesicherten Familienlebens ist eine unbedeutende, nicht selten für die freie Entwicklung eines Geistes mehr schädliche als nützliche Sache, und verdient immer nur im Lichte einer gewissen spöttischen Geringschätzung be¬ trachtet zu werden." In den Schöpfungen unsrer Dichter, in den Bildern und Skizzen unsrer Maler, in Staats- und volkswissenschaftlichcn Darlegungen über die Quellen unsrer sittlichen Kraft ist immer unser Familienleben, auch da, wo es beschränkt und kleinlich dahinfließt, als der beste Schatz unsers ganzen Volks- tums betrachtet worden. Das Lesefutter aber, welches den Mitgliedern einer solchen Familie zubereitet wird, weiß nichts von diesem unaussprechlichen Reize und von dem garnicht hoch genug anzuschlagende» Einflüsse auf Charakter- und Gemütsbildung, den das Familienheim auszuüben vermag und in der Mehr¬ zahl von Fällen auch ausübt, wenn auch meist in einer nach dieser oder jener Seite hin beschränkten Weise; hier wird in den engen Gewöhnungen und Not¬ wendigkeiten des geregelten Hausstandes nichts andres erblickt als eine Fessel, die den „Geist" nicht zu erkennen vermag und ihm ans Schritt und Tritt die Flügel bindet, und die endlich das edle Gemüt gar zur Verzweiflung treibt. Gewiß ist es wahr, daß manche Jünglingsköpfe sich einrennen möchten an den Schranken, die das gute, warme, sichere elterliche Haus ihnen setzt. Aber wie unendlich überwiegend ist nicht die Zahl der Fälle, in denen böse Antriebe zurückgehalten, gute Keime entfaltet, verborgene Kräfte hervorgezogen und ge¬ pflegt worden sind durch eben dieses feste Heim! Wie unendlich viele Menschen würden verloren gegangen sein, hätte nicht das Wort der Mutter, das Beispiel des Vaters, hätte nicht diese ganze Summe sich täglich wiederholender guter Einflüsse auf ihn gewirkt, und wäre nicht manchmal noch nach vielen Jahren die Erinnerung an diese Tage in ihm lebendig geworden. Es ist das Beste in uns, was gepflegt und behütet wird durch die Genien einer wohlumfriedetcn Häuslichkeit; wohl dem, der den Antrieben sein Leben lang folgen kann, die ihm aus einer solchen erwachsen, und wehe dem, der aus Jugcndübermut, trotziger Unfügsamkeit oder kraftgenialischer Geringschätzung diesen Genien den Rücken kehrt, um seine eignen Bahnen zu gehen! Zu Ruhm und Größe mögen sie ihn in einzelnen Fällen führen, zu harmonischer Ausgestaltung seines Wesens aber werden sie ihn selten, und zum Glücke Wohl nie geleiten! „Vor der Liebe zwischen Mann und Weib müssen alle andern Ansprüche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/451>, abgerufen am 22.07.2024.