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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die moderne Novellistik und die jedermann^bekannte Wahrheit.

gelassen werden muß. Thatsächlich geschieht dies aber auch -- es ist einfach
nicht wahr, daß z. B. in unsern aristokratischen Kreisen eine derartige Aus¬
schließlichkeit herrsche, wie sie in einer umfangreichen Klasse von Romanen vor¬
ausgesetzt wird, und man möchte im Gegenteil manchmal wünschen, unsre hoch-
adlichcn Kreise besüßen einen ausgeprägteren Familienstolz, der sie z. B. von
den vielen, fast nie zum Glück aufschlagenden Künstlerinnenheiraten zurückhielte.
Ist es denn aber, um zur Sache selbst zu kommen, wirklich so ganz haltlos,
wenn unser Grundbesitz- und Offiziersadel die besondern Eigenschaften erhalten
will, die ihn für diese bestimmte Kategorie von Verhältnissen besonders befähigen,
und ist es nicht völlig unzweifelhaft, daß er hierfür am besten sorgt, wenn er
sich beim Heiraten auf seine oder doch denselben nahestehende Kreise beschränkt?
Auch dies braucht ja nicht schlechterdings maßgebend zu sein, und ist es nicht;
aber eine teilweise Berechtigung dieser Gesichtspunkte erkennen wir, obwohl für
unsre Person bürgerlich, vollständig an, und haben uns durch eine derartige
Gesinnung adlicher Kreise noch niemals gedemütigt gefühlt. Machen es denn
-- Hand aufs Herz! -- bürgerliche, kaufmännische, Beamten- ze. Kreise anders?
und haben nicht auch sie im großen und ganzen die Erfahrung für sich? Nur
nicht zur Karrikatur überspannt, nur nicht so straff gezogen, daß für keine Aus¬
nahmen Raum bleibt, dürfen diese Verhältnisse sein; an sich sind sie durchaus
berechtigt und innerhalb ihres Gebietes sogar entschieden nützlich.

Aber derartige Erwägungen giebt es für unsre Romanliteratur garnicht.
Was Eltern, was Familie, was Abstammung! Da ist z. B. ein edles, tugend-
snmes, von den reinsten Empfindungen überströmendes Fräulein; welcher Mensch
von Gemüt und Vorurteilslosigkeit wird sich darum kümmern, daß sie die
Tochter eines berüchtigten Wucherers ist? und welcher Nomanleser wird denn
etwa so einseitig sein, es doch für schrecklich unwahrscheinlich zu halten, daß
eine solche Wunderblume in der Höhle eines Halsabschneiders erwachsen sein
soll? Da ist ein trefflicher junger Mann, an dem weiter kein Fehl ist, als
daß sein Vater ein Lump, ein früherer Dieb und Betrüger und dann ganz
herabgekommener Mensch ist; wer wird denn an eine solche Kleinigkeit denken,
und welcher hvchsinnige Vater einer schönen Tochter wird denn dem trefflichen
Jünglinge um einer Sache willen, für welche dieser doch nichts kaun, die Hand
seiner Tochter verweigern? Wir möchten es aber Wohl erleben, wenn der¬
gleichen einmal dem Romanschreiber selbst zufließe, ob er sich da nicht bedenklich
am Kopfe kratzen und sich etwa sagen würde: "Man kann doch nicht wissen --
wenn der junge Mensch einmal die Gelegenheit dazu hat, so treibt er es am
Ende gerade so wie sein Vater!" Ein überaus charakteristischer Fall dieser
Art dürfte allen unsern Lesern bekannt sein. Wie haben nicht gedankenlose
Leser und Leserinnen sich erfreut an dem Marlittschen "Geheimnis der alten
Mamsell," und haben mit mitfühlenden, tief empörtem Herzen das Schicksal
der armen Waise in dem stolzen Bürgerhause verfolgt! Aber wie viele ehr-


Die moderne Novellistik und die jedermann^bekannte Wahrheit.

gelassen werden muß. Thatsächlich geschieht dies aber auch — es ist einfach
nicht wahr, daß z. B. in unsern aristokratischen Kreisen eine derartige Aus¬
schließlichkeit herrsche, wie sie in einer umfangreichen Klasse von Romanen vor¬
ausgesetzt wird, und man möchte im Gegenteil manchmal wünschen, unsre hoch-
adlichcn Kreise besüßen einen ausgeprägteren Familienstolz, der sie z. B. von
den vielen, fast nie zum Glück aufschlagenden Künstlerinnenheiraten zurückhielte.
Ist es denn aber, um zur Sache selbst zu kommen, wirklich so ganz haltlos,
wenn unser Grundbesitz- und Offiziersadel die besondern Eigenschaften erhalten
will, die ihn für diese bestimmte Kategorie von Verhältnissen besonders befähigen,
und ist es nicht völlig unzweifelhaft, daß er hierfür am besten sorgt, wenn er
sich beim Heiraten auf seine oder doch denselben nahestehende Kreise beschränkt?
Auch dies braucht ja nicht schlechterdings maßgebend zu sein, und ist es nicht;
aber eine teilweise Berechtigung dieser Gesichtspunkte erkennen wir, obwohl für
unsre Person bürgerlich, vollständig an, und haben uns durch eine derartige
Gesinnung adlicher Kreise noch niemals gedemütigt gefühlt. Machen es denn
— Hand aufs Herz! — bürgerliche, kaufmännische, Beamten- ze. Kreise anders?
und haben nicht auch sie im großen und ganzen die Erfahrung für sich? Nur
nicht zur Karrikatur überspannt, nur nicht so straff gezogen, daß für keine Aus¬
nahmen Raum bleibt, dürfen diese Verhältnisse sein; an sich sind sie durchaus
berechtigt und innerhalb ihres Gebietes sogar entschieden nützlich.

Aber derartige Erwägungen giebt es für unsre Romanliteratur garnicht.
Was Eltern, was Familie, was Abstammung! Da ist z. B. ein edles, tugend-
snmes, von den reinsten Empfindungen überströmendes Fräulein; welcher Mensch
von Gemüt und Vorurteilslosigkeit wird sich darum kümmern, daß sie die
Tochter eines berüchtigten Wucherers ist? und welcher Nomanleser wird denn
etwa so einseitig sein, es doch für schrecklich unwahrscheinlich zu halten, daß
eine solche Wunderblume in der Höhle eines Halsabschneiders erwachsen sein
soll? Da ist ein trefflicher junger Mann, an dem weiter kein Fehl ist, als
daß sein Vater ein Lump, ein früherer Dieb und Betrüger und dann ganz
herabgekommener Mensch ist; wer wird denn an eine solche Kleinigkeit denken,
und welcher hvchsinnige Vater einer schönen Tochter wird denn dem trefflichen
Jünglinge um einer Sache willen, für welche dieser doch nichts kaun, die Hand
seiner Tochter verweigern? Wir möchten es aber Wohl erleben, wenn der¬
gleichen einmal dem Romanschreiber selbst zufließe, ob er sich da nicht bedenklich
am Kopfe kratzen und sich etwa sagen würde: „Man kann doch nicht wissen —
wenn der junge Mensch einmal die Gelegenheit dazu hat, so treibt er es am
Ende gerade so wie sein Vater!" Ein überaus charakteristischer Fall dieser
Art dürfte allen unsern Lesern bekannt sein. Wie haben nicht gedankenlose
Leser und Leserinnen sich erfreut an dem Marlittschen „Geheimnis der alten
Mamsell," und haben mit mitfühlenden, tief empörtem Herzen das Schicksal
der armen Waise in dem stolzen Bürgerhause verfolgt! Aber wie viele ehr-


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[0450] Die moderne Novellistik und die jedermann^bekannte Wahrheit. gelassen werden muß. Thatsächlich geschieht dies aber auch — es ist einfach nicht wahr, daß z. B. in unsern aristokratischen Kreisen eine derartige Aus¬ schließlichkeit herrsche, wie sie in einer umfangreichen Klasse von Romanen vor¬ ausgesetzt wird, und man möchte im Gegenteil manchmal wünschen, unsre hoch- adlichcn Kreise besüßen einen ausgeprägteren Familienstolz, der sie z. B. von den vielen, fast nie zum Glück aufschlagenden Künstlerinnenheiraten zurückhielte. Ist es denn aber, um zur Sache selbst zu kommen, wirklich so ganz haltlos, wenn unser Grundbesitz- und Offiziersadel die besondern Eigenschaften erhalten will, die ihn für diese bestimmte Kategorie von Verhältnissen besonders befähigen, und ist es nicht völlig unzweifelhaft, daß er hierfür am besten sorgt, wenn er sich beim Heiraten auf seine oder doch denselben nahestehende Kreise beschränkt? Auch dies braucht ja nicht schlechterdings maßgebend zu sein, und ist es nicht; aber eine teilweise Berechtigung dieser Gesichtspunkte erkennen wir, obwohl für unsre Person bürgerlich, vollständig an, und haben uns durch eine derartige Gesinnung adlicher Kreise noch niemals gedemütigt gefühlt. Machen es denn — Hand aufs Herz! — bürgerliche, kaufmännische, Beamten- ze. Kreise anders? und haben nicht auch sie im großen und ganzen die Erfahrung für sich? Nur nicht zur Karrikatur überspannt, nur nicht so straff gezogen, daß für keine Aus¬ nahmen Raum bleibt, dürfen diese Verhältnisse sein; an sich sind sie durchaus berechtigt und innerhalb ihres Gebietes sogar entschieden nützlich. Aber derartige Erwägungen giebt es für unsre Romanliteratur garnicht. Was Eltern, was Familie, was Abstammung! Da ist z. B. ein edles, tugend- snmes, von den reinsten Empfindungen überströmendes Fräulein; welcher Mensch von Gemüt und Vorurteilslosigkeit wird sich darum kümmern, daß sie die Tochter eines berüchtigten Wucherers ist? und welcher Nomanleser wird denn etwa so einseitig sein, es doch für schrecklich unwahrscheinlich zu halten, daß eine solche Wunderblume in der Höhle eines Halsabschneiders erwachsen sein soll? Da ist ein trefflicher junger Mann, an dem weiter kein Fehl ist, als daß sein Vater ein Lump, ein früherer Dieb und Betrüger und dann ganz herabgekommener Mensch ist; wer wird denn an eine solche Kleinigkeit denken, und welcher hvchsinnige Vater einer schönen Tochter wird denn dem trefflichen Jünglinge um einer Sache willen, für welche dieser doch nichts kaun, die Hand seiner Tochter verweigern? Wir möchten es aber Wohl erleben, wenn der¬ gleichen einmal dem Romanschreiber selbst zufließe, ob er sich da nicht bedenklich am Kopfe kratzen und sich etwa sagen würde: „Man kann doch nicht wissen — wenn der junge Mensch einmal die Gelegenheit dazu hat, so treibt er es am Ende gerade so wie sein Vater!" Ein überaus charakteristischer Fall dieser Art dürfte allen unsern Lesern bekannt sein. Wie haben nicht gedankenlose Leser und Leserinnen sich erfreut an dem Marlittschen „Geheimnis der alten Mamsell," und haben mit mitfühlenden, tief empörtem Herzen das Schicksal der armen Waise in dem stolzen Bürgerhause verfolgt! Aber wie viele ehr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/450>, abgerufen am 22.07.2024.