Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Paul Heyses Roman der Stiftsdame.

heißt ihre Liebesgeschichte, gehabt haben muß. Weil aber Heyse einmal die
Novelle als die epische Darstellung einer einzigen und möglichst absonderlichen,
originellen Handlung definirt hat, bei der es auf die Charakterentwicklung nur
insoweit ankomme, als es das Verständnis der Handlung erfordere, bei der es
ferner nicht am Platze sei, das ganze Leben der Helden von der Wiege bis
zum Grabe vorzuführen, darum bezeichnete er den Roman der Stiftsdame als
eine Lebensgeschichte. Es wird hier eine Biographie geboten, ohne daß, wie es
der eigentliche Roman fordert, ein historisch bestimmter Zustand der Gesellschaft
zugleich ausführlich geschildert würde. Andre Meister der Novelle, z. B. Theodor
Sturm, die sich nicht an die Hessische Definition dieser Kunstform halten, hätten
auch diese Geschichte getrost mit dem geläufigen Namen der Novelle überschrieben,
und es war müßig, hier von einer neuen Form zu sprechen. Freilich hätte
Storm: sich auch kürzer gefaßt, nur die entscheidenden Szenen vorgeführt, nicht
alles in gleichmäßiger Ausführlichkeit geschildert, so fesselnd auch die Hessische
Prosa unter allen Umständen ist.

Es ist eine geistreich erfundene und kunstvoll erzählte Geschichte, die uns
Hesse in seinem Roman der Stiftsdame bietet. Die Handlung hätte uns noch
tragischer erschüttern, noch mächtiger hinreißen können, denn sie ist die Äußerung
einer energievollcn Natur und würde einen andern Erzähler sogar leicht zu pathe¬
tischer Darstellung verführen. Aber der Dichter hat es diesmal vorgezogen, seine
Geschichte in die süße Wehmut der Resignation zu tauchen, aus der Erinnerung
des schmerzlich beteiligte" zu sprechen, gleichsam bei gedämpftem Lichte zu
malen. So ist uns denn beim Lesen immer, als wenn wir im Halbdunkel
jener alten poetischen Kapelle säßen, in welcher der Verfasser zuerst die Be¬
kanntschaft seiner Stiftsdame und jenes Gewährsmannes gemacht haben will,
dem er die Erzählung in den Mund legt. Und auch dieser Vergleich fällt uns
nicht zufällig ein: die Religion, freilich nicht im kirchlich-dogmatischen Sinne,
sondern im Sinne Schleiermachers und des Pietismus, als Gcfühlselement,
spielt in dieser Lebensgeschichte eine bedeutende Rolle, die Handlung der Stifts¬
dame ist überhaupt nur vou hier aus zu verstehen. Das macht diese Dichtung
zu einem tief innerlichen, den neueren realistischen Romanen entgegengesetzten
Werke. Alles Leben, alle gährende Leidenschaft ist unter den glatten Wogen
der in klassischer Ruhe sanft dahinfließenden Prosa Heyses verborgen. Es
stimmt auch sehr wohl dazu, daß meist über die Stiftsdame reflektirt wird, und
daß anch sie selbst sich mehr durch Reflexion als durch Handlung erläutert,
wenn auch die Plastik der Gestalt darunter leidet.

Die Darstellung ist in der jetzt nnr allzusehr in die Mode gekommenen
Ichform gehalten, und diese schwierige Form wird von Heyse in einer kleinen
Erzählung als Einleitung motivirt. Im Juni des Jahres 1864, erzählt er,
sei er in ein weitentlegenes, schläfriges Städtchen der Mark Brandenburg ge¬
raten. Er wollte dort einen Freund besuchen; der war nicht zu Hanse, und so


Grenzboten I. 1887. 64
Paul Heyses Roman der Stiftsdame.

heißt ihre Liebesgeschichte, gehabt haben muß. Weil aber Heyse einmal die
Novelle als die epische Darstellung einer einzigen und möglichst absonderlichen,
originellen Handlung definirt hat, bei der es auf die Charakterentwicklung nur
insoweit ankomme, als es das Verständnis der Handlung erfordere, bei der es
ferner nicht am Platze sei, das ganze Leben der Helden von der Wiege bis
zum Grabe vorzuführen, darum bezeichnete er den Roman der Stiftsdame als
eine Lebensgeschichte. Es wird hier eine Biographie geboten, ohne daß, wie es
der eigentliche Roman fordert, ein historisch bestimmter Zustand der Gesellschaft
zugleich ausführlich geschildert würde. Andre Meister der Novelle, z. B. Theodor
Sturm, die sich nicht an die Hessische Definition dieser Kunstform halten, hätten
auch diese Geschichte getrost mit dem geläufigen Namen der Novelle überschrieben,
und es war müßig, hier von einer neuen Form zu sprechen. Freilich hätte
Storm: sich auch kürzer gefaßt, nur die entscheidenden Szenen vorgeführt, nicht
alles in gleichmäßiger Ausführlichkeit geschildert, so fesselnd auch die Hessische
Prosa unter allen Umständen ist.

Es ist eine geistreich erfundene und kunstvoll erzählte Geschichte, die uns
Hesse in seinem Roman der Stiftsdame bietet. Die Handlung hätte uns noch
tragischer erschüttern, noch mächtiger hinreißen können, denn sie ist die Äußerung
einer energievollcn Natur und würde einen andern Erzähler sogar leicht zu pathe¬
tischer Darstellung verführen. Aber der Dichter hat es diesmal vorgezogen, seine
Geschichte in die süße Wehmut der Resignation zu tauchen, aus der Erinnerung
des schmerzlich beteiligte» zu sprechen, gleichsam bei gedämpftem Lichte zu
malen. So ist uns denn beim Lesen immer, als wenn wir im Halbdunkel
jener alten poetischen Kapelle säßen, in welcher der Verfasser zuerst die Be¬
kanntschaft seiner Stiftsdame und jenes Gewährsmannes gemacht haben will,
dem er die Erzählung in den Mund legt. Und auch dieser Vergleich fällt uns
nicht zufällig ein: die Religion, freilich nicht im kirchlich-dogmatischen Sinne,
sondern im Sinne Schleiermachers und des Pietismus, als Gcfühlselement,
spielt in dieser Lebensgeschichte eine bedeutende Rolle, die Handlung der Stifts¬
dame ist überhaupt nur vou hier aus zu verstehen. Das macht diese Dichtung
zu einem tief innerlichen, den neueren realistischen Romanen entgegengesetzten
Werke. Alles Leben, alle gährende Leidenschaft ist unter den glatten Wogen
der in klassischer Ruhe sanft dahinfließenden Prosa Heyses verborgen. Es
stimmt auch sehr wohl dazu, daß meist über die Stiftsdame reflektirt wird, und
daß anch sie selbst sich mehr durch Reflexion als durch Handlung erläutert,
wenn auch die Plastik der Gestalt darunter leidet.

Die Darstellung ist in der jetzt nnr allzusehr in die Mode gekommenen
Ichform gehalten, und diese schwierige Form wird von Heyse in einer kleinen
Erzählung als Einleitung motivirt. Im Juni des Jahres 1864, erzählt er,
sei er in ein weitentlegenes, schläfriges Städtchen der Mark Brandenburg ge¬
raten. Er wollte dort einen Freund besuchen; der war nicht zu Hanse, und so


Grenzboten I. 1887. 64
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0433" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200538"/>
          <fw type="header" place="top"> Paul Heyses Roman der Stiftsdame.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1357" prev="#ID_1356"> heißt ihre Liebesgeschichte, gehabt haben muß. Weil aber Heyse einmal die<lb/>
Novelle als die epische Darstellung einer einzigen und möglichst absonderlichen,<lb/>
originellen Handlung definirt hat, bei der es auf die Charakterentwicklung nur<lb/>
insoweit ankomme, als es das Verständnis der Handlung erfordere, bei der es<lb/>
ferner nicht am Platze sei, das ganze Leben der Helden von der Wiege bis<lb/>
zum Grabe vorzuführen, darum bezeichnete er den Roman der Stiftsdame als<lb/>
eine Lebensgeschichte. Es wird hier eine Biographie geboten, ohne daß, wie es<lb/>
der eigentliche Roman fordert, ein historisch bestimmter Zustand der Gesellschaft<lb/>
zugleich ausführlich geschildert würde. Andre Meister der Novelle, z. B. Theodor<lb/>
Sturm, die sich nicht an die Hessische Definition dieser Kunstform halten, hätten<lb/>
auch diese Geschichte getrost mit dem geläufigen Namen der Novelle überschrieben,<lb/>
und es war müßig, hier von einer neuen Form zu sprechen. Freilich hätte<lb/>
Storm: sich auch kürzer gefaßt, nur die entscheidenden Szenen vorgeführt, nicht<lb/>
alles in gleichmäßiger Ausführlichkeit geschildert, so fesselnd auch die Hessische<lb/>
Prosa unter allen Umständen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1358"> Es ist eine geistreich erfundene und kunstvoll erzählte Geschichte, die uns<lb/>
Hesse in seinem Roman der Stiftsdame bietet. Die Handlung hätte uns noch<lb/>
tragischer erschüttern, noch mächtiger hinreißen können, denn sie ist die Äußerung<lb/>
einer energievollcn Natur und würde einen andern Erzähler sogar leicht zu pathe¬<lb/>
tischer Darstellung verführen. Aber der Dichter hat es diesmal vorgezogen, seine<lb/>
Geschichte in die süße Wehmut der Resignation zu tauchen, aus der Erinnerung<lb/>
des schmerzlich beteiligte» zu sprechen, gleichsam bei gedämpftem Lichte zu<lb/>
malen. So ist uns denn beim Lesen immer, als wenn wir im Halbdunkel<lb/>
jener alten poetischen Kapelle säßen, in welcher der Verfasser zuerst die Be¬<lb/>
kanntschaft seiner Stiftsdame und jenes Gewährsmannes gemacht haben will,<lb/>
dem er die Erzählung in den Mund legt. Und auch dieser Vergleich fällt uns<lb/>
nicht zufällig ein: die Religion, freilich nicht im kirchlich-dogmatischen Sinne,<lb/>
sondern im Sinne Schleiermachers und des Pietismus, als Gcfühlselement,<lb/>
spielt in dieser Lebensgeschichte eine bedeutende Rolle, die Handlung der Stifts¬<lb/>
dame ist überhaupt nur vou hier aus zu verstehen. Das macht diese Dichtung<lb/>
zu einem tief innerlichen, den neueren realistischen Romanen entgegengesetzten<lb/>
Werke. Alles Leben, alle gährende Leidenschaft ist unter den glatten Wogen<lb/>
der in klassischer Ruhe sanft dahinfließenden Prosa Heyses verborgen. Es<lb/>
stimmt auch sehr wohl dazu, daß meist über die Stiftsdame reflektirt wird, und<lb/>
daß anch sie selbst sich mehr durch Reflexion als durch Handlung erläutert,<lb/>
wenn auch die Plastik der Gestalt darunter leidet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1359" next="#ID_1360"> Die Darstellung ist in der jetzt nnr allzusehr in die Mode gekommenen<lb/>
Ichform gehalten, und diese schwierige Form wird von Heyse in einer kleinen<lb/>
Erzählung als Einleitung motivirt. Im Juni des Jahres 1864, erzählt er,<lb/>
sei er in ein weitentlegenes, schläfriges Städtchen der Mark Brandenburg ge¬<lb/>
raten. Er wollte dort einen Freund besuchen; der war nicht zu Hanse, und so</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1887. 64</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0433] Paul Heyses Roman der Stiftsdame. heißt ihre Liebesgeschichte, gehabt haben muß. Weil aber Heyse einmal die Novelle als die epische Darstellung einer einzigen und möglichst absonderlichen, originellen Handlung definirt hat, bei der es auf die Charakterentwicklung nur insoweit ankomme, als es das Verständnis der Handlung erfordere, bei der es ferner nicht am Platze sei, das ganze Leben der Helden von der Wiege bis zum Grabe vorzuführen, darum bezeichnete er den Roman der Stiftsdame als eine Lebensgeschichte. Es wird hier eine Biographie geboten, ohne daß, wie es der eigentliche Roman fordert, ein historisch bestimmter Zustand der Gesellschaft zugleich ausführlich geschildert würde. Andre Meister der Novelle, z. B. Theodor Sturm, die sich nicht an die Hessische Definition dieser Kunstform halten, hätten auch diese Geschichte getrost mit dem geläufigen Namen der Novelle überschrieben, und es war müßig, hier von einer neuen Form zu sprechen. Freilich hätte Storm: sich auch kürzer gefaßt, nur die entscheidenden Szenen vorgeführt, nicht alles in gleichmäßiger Ausführlichkeit geschildert, so fesselnd auch die Hessische Prosa unter allen Umständen ist. Es ist eine geistreich erfundene und kunstvoll erzählte Geschichte, die uns Hesse in seinem Roman der Stiftsdame bietet. Die Handlung hätte uns noch tragischer erschüttern, noch mächtiger hinreißen können, denn sie ist die Äußerung einer energievollcn Natur und würde einen andern Erzähler sogar leicht zu pathe¬ tischer Darstellung verführen. Aber der Dichter hat es diesmal vorgezogen, seine Geschichte in die süße Wehmut der Resignation zu tauchen, aus der Erinnerung des schmerzlich beteiligte» zu sprechen, gleichsam bei gedämpftem Lichte zu malen. So ist uns denn beim Lesen immer, als wenn wir im Halbdunkel jener alten poetischen Kapelle säßen, in welcher der Verfasser zuerst die Be¬ kanntschaft seiner Stiftsdame und jenes Gewährsmannes gemacht haben will, dem er die Erzählung in den Mund legt. Und auch dieser Vergleich fällt uns nicht zufällig ein: die Religion, freilich nicht im kirchlich-dogmatischen Sinne, sondern im Sinne Schleiermachers und des Pietismus, als Gcfühlselement, spielt in dieser Lebensgeschichte eine bedeutende Rolle, die Handlung der Stifts¬ dame ist überhaupt nur vou hier aus zu verstehen. Das macht diese Dichtung zu einem tief innerlichen, den neueren realistischen Romanen entgegengesetzten Werke. Alles Leben, alle gährende Leidenschaft ist unter den glatten Wogen der in klassischer Ruhe sanft dahinfließenden Prosa Heyses verborgen. Es stimmt auch sehr wohl dazu, daß meist über die Stiftsdame reflektirt wird, und daß anch sie selbst sich mehr durch Reflexion als durch Handlung erläutert, wenn auch die Plastik der Gestalt darunter leidet. Die Darstellung ist in der jetzt nnr allzusehr in die Mode gekommenen Ichform gehalten, und diese schwierige Form wird von Heyse in einer kleinen Erzählung als Einleitung motivirt. Im Juni des Jahres 1864, erzählt er, sei er in ein weitentlegenes, schläfriges Städtchen der Mark Brandenburg ge¬ raten. Er wollte dort einen Freund besuchen; der war nicht zu Hanse, und so Grenzboten I. 1887. 64

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/433
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/433>, abgerufen am 23.12.2024.