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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Paul Lzeyses Roman der Stiftsdame.

mußte er einige Tage in dem Städtchen verweilen, um ihn zu erwarten. Auf
einem seiner Spaziergänge kam er zu einer kleinen, alten, offenbar unbenützten
Kapelle, die ihn poetisch aumutetc. Als er näher trat, sah er im Innern der¬
selben die Leiche einer schönen Fran aufgebahrt, welche von der sie bewachenden
alten Spittelfrau kurzweg als die der "Stiftsdame" bezeichnet wurde; die taube
Alte setzte die Kenntnis dieser Stiftsdame bei aller Welt voraus. Bald war
der Fremde Zeuge eines feierlichen Leichenbegängnisses, woran sich das ganze
Städtchen beteiligte. Hier, wie schon früher bei der stillen Kapelle, fiel ihm be¬
sonders die Gestalt eines älteren, wohlgebildeten Mannes auf, dessen Trauer
wohl auf ein näheres Verhältnis zu der toten Stiftsdnme hindeutete. Da
Hesse als Fremder nirgends anders sich Auskunft holen konnte, ergriff er die
erste Gelegenheit, da er kurz uach der Leichenfeier diesen Mann einsam trauernd
in einer Allee fand, ihn selbst um eine Erklärung der allgemeinen Trauer artig
zu bitten. Allein wie verletzt von der profanen Neugier der Welt, zog sich der
Mann auf die erste" Worte des Fremden rasch zurück und ließ ihn in pein¬
licher Verlegenheit stehen. Schlecht gelaunt reiste Heyse, ohne den gesuchten
Freund gesehen und ohne die Erklärung seines Rätsels gefunden zu haben, noch
an demselben Tage aus dem märkischen Neste ab.

Ein Jahr verging über diesem peinlichen Vorfall, da erhielt der Dichter
in seinem gewöhnlichen Wohnort ein umfangreiches Manuskript mit einem langen
Briefe aus der Feder eben jenes in seiner Trauer gestörten Mannes, der sich
Johannes Theodor Weißbrodt nannte und sich als ehemaligen Kandidaten der
Theologie, nunmehr Oberlehrer in jener märkischen Stadt, bezeichnete. Nach einer
Bitte um Entschuldigung wegen seines Benehmens dem Fremden gegenüber, teilte
er dem berühmten Schriftsteller, den er schon seit langem kannte, die Geschichte
der Stiftsdame und seiner selbst, die davon nicht zu trennen sei, als interessanten
Novellenstoff in anspruchsloser Weise mit. Nur die eine Bedingung knüpfte er
an sein Geschenk, daß die Geschichte nicht vor seinem Tode veröffentlicht werde.
Über das Manuskript möge der Dichter im übrigen frei verfügen. Nach zwanzig
Jahren erhielt Heyse die Nachricht von dem Tode des seltsamen Kandidaten der
Theologie, und da ihm die Geschichte der Veröffentlichung würdig erschien, so
besorgte er dieselbe, ohne das anvertraute Manuskript zu überarbeiten, in der
Form, wie sie der Kandidat selbst niedergeschrieben hatte.

Wahrscheinlich hat die Erfahrung selbst dem Dichter die Anregung zu
dieser Erfindung gegeben: es mögen ihm viele enthusiastische Leser seiner No¬
vellen ihre Lebensgeschichte gebeichtet haben, die sie einer novellistischen Ver¬
ewigung für würdig hielten; meist dürften sie damit nur für die Bereicherung
seines Papierkorbcs gesorgt haben. Allein die Art, wie sich Heyse, so taktvoll
es im übrigen geschieht, als berühmten Schriftsteller einführt, dem seines lite¬
rarischen Ruhmes wegen das Vertrauen der Welt in den Schoß fällt, dürfte
doch Bedenken erregen. Man wird vielleicht bloß vom Standpunkte des guten


Paul Lzeyses Roman der Stiftsdame.

mußte er einige Tage in dem Städtchen verweilen, um ihn zu erwarten. Auf
einem seiner Spaziergänge kam er zu einer kleinen, alten, offenbar unbenützten
Kapelle, die ihn poetisch aumutetc. Als er näher trat, sah er im Innern der¬
selben die Leiche einer schönen Fran aufgebahrt, welche von der sie bewachenden
alten Spittelfrau kurzweg als die der „Stiftsdame" bezeichnet wurde; die taube
Alte setzte die Kenntnis dieser Stiftsdame bei aller Welt voraus. Bald war
der Fremde Zeuge eines feierlichen Leichenbegängnisses, woran sich das ganze
Städtchen beteiligte. Hier, wie schon früher bei der stillen Kapelle, fiel ihm be¬
sonders die Gestalt eines älteren, wohlgebildeten Mannes auf, dessen Trauer
wohl auf ein näheres Verhältnis zu der toten Stiftsdnme hindeutete. Da
Hesse als Fremder nirgends anders sich Auskunft holen konnte, ergriff er die
erste Gelegenheit, da er kurz uach der Leichenfeier diesen Mann einsam trauernd
in einer Allee fand, ihn selbst um eine Erklärung der allgemeinen Trauer artig
zu bitten. Allein wie verletzt von der profanen Neugier der Welt, zog sich der
Mann auf die erste» Worte des Fremden rasch zurück und ließ ihn in pein¬
licher Verlegenheit stehen. Schlecht gelaunt reiste Heyse, ohne den gesuchten
Freund gesehen und ohne die Erklärung seines Rätsels gefunden zu haben, noch
an demselben Tage aus dem märkischen Neste ab.

Ein Jahr verging über diesem peinlichen Vorfall, da erhielt der Dichter
in seinem gewöhnlichen Wohnort ein umfangreiches Manuskript mit einem langen
Briefe aus der Feder eben jenes in seiner Trauer gestörten Mannes, der sich
Johannes Theodor Weißbrodt nannte und sich als ehemaligen Kandidaten der
Theologie, nunmehr Oberlehrer in jener märkischen Stadt, bezeichnete. Nach einer
Bitte um Entschuldigung wegen seines Benehmens dem Fremden gegenüber, teilte
er dem berühmten Schriftsteller, den er schon seit langem kannte, die Geschichte
der Stiftsdame und seiner selbst, die davon nicht zu trennen sei, als interessanten
Novellenstoff in anspruchsloser Weise mit. Nur die eine Bedingung knüpfte er
an sein Geschenk, daß die Geschichte nicht vor seinem Tode veröffentlicht werde.
Über das Manuskript möge der Dichter im übrigen frei verfügen. Nach zwanzig
Jahren erhielt Heyse die Nachricht von dem Tode des seltsamen Kandidaten der
Theologie, und da ihm die Geschichte der Veröffentlichung würdig erschien, so
besorgte er dieselbe, ohne das anvertraute Manuskript zu überarbeiten, in der
Form, wie sie der Kandidat selbst niedergeschrieben hatte.

Wahrscheinlich hat die Erfahrung selbst dem Dichter die Anregung zu
dieser Erfindung gegeben: es mögen ihm viele enthusiastische Leser seiner No¬
vellen ihre Lebensgeschichte gebeichtet haben, die sie einer novellistischen Ver¬
ewigung für würdig hielten; meist dürften sie damit nur für die Bereicherung
seines Papierkorbcs gesorgt haben. Allein die Art, wie sich Heyse, so taktvoll
es im übrigen geschieht, als berühmten Schriftsteller einführt, dem seines lite¬
rarischen Ruhmes wegen das Vertrauen der Welt in den Schoß fällt, dürfte
doch Bedenken erregen. Man wird vielleicht bloß vom Standpunkte des guten


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[0434] Paul Lzeyses Roman der Stiftsdame. mußte er einige Tage in dem Städtchen verweilen, um ihn zu erwarten. Auf einem seiner Spaziergänge kam er zu einer kleinen, alten, offenbar unbenützten Kapelle, die ihn poetisch aumutetc. Als er näher trat, sah er im Innern der¬ selben die Leiche einer schönen Fran aufgebahrt, welche von der sie bewachenden alten Spittelfrau kurzweg als die der „Stiftsdame" bezeichnet wurde; die taube Alte setzte die Kenntnis dieser Stiftsdame bei aller Welt voraus. Bald war der Fremde Zeuge eines feierlichen Leichenbegängnisses, woran sich das ganze Städtchen beteiligte. Hier, wie schon früher bei der stillen Kapelle, fiel ihm be¬ sonders die Gestalt eines älteren, wohlgebildeten Mannes auf, dessen Trauer wohl auf ein näheres Verhältnis zu der toten Stiftsdnme hindeutete. Da Hesse als Fremder nirgends anders sich Auskunft holen konnte, ergriff er die erste Gelegenheit, da er kurz uach der Leichenfeier diesen Mann einsam trauernd in einer Allee fand, ihn selbst um eine Erklärung der allgemeinen Trauer artig zu bitten. Allein wie verletzt von der profanen Neugier der Welt, zog sich der Mann auf die erste» Worte des Fremden rasch zurück und ließ ihn in pein¬ licher Verlegenheit stehen. Schlecht gelaunt reiste Heyse, ohne den gesuchten Freund gesehen und ohne die Erklärung seines Rätsels gefunden zu haben, noch an demselben Tage aus dem märkischen Neste ab. Ein Jahr verging über diesem peinlichen Vorfall, da erhielt der Dichter in seinem gewöhnlichen Wohnort ein umfangreiches Manuskript mit einem langen Briefe aus der Feder eben jenes in seiner Trauer gestörten Mannes, der sich Johannes Theodor Weißbrodt nannte und sich als ehemaligen Kandidaten der Theologie, nunmehr Oberlehrer in jener märkischen Stadt, bezeichnete. Nach einer Bitte um Entschuldigung wegen seines Benehmens dem Fremden gegenüber, teilte er dem berühmten Schriftsteller, den er schon seit langem kannte, die Geschichte der Stiftsdame und seiner selbst, die davon nicht zu trennen sei, als interessanten Novellenstoff in anspruchsloser Weise mit. Nur die eine Bedingung knüpfte er an sein Geschenk, daß die Geschichte nicht vor seinem Tode veröffentlicht werde. Über das Manuskript möge der Dichter im übrigen frei verfügen. Nach zwanzig Jahren erhielt Heyse die Nachricht von dem Tode des seltsamen Kandidaten der Theologie, und da ihm die Geschichte der Veröffentlichung würdig erschien, so besorgte er dieselbe, ohne das anvertraute Manuskript zu überarbeiten, in der Form, wie sie der Kandidat selbst niedergeschrieben hatte. Wahrscheinlich hat die Erfahrung selbst dem Dichter die Anregung zu dieser Erfindung gegeben: es mögen ihm viele enthusiastische Leser seiner No¬ vellen ihre Lebensgeschichte gebeichtet haben, die sie einer novellistischen Ver¬ ewigung für würdig hielten; meist dürften sie damit nur für die Bereicherung seines Papierkorbcs gesorgt haben. Allein die Art, wie sich Heyse, so taktvoll es im übrigen geschieht, als berühmten Schriftsteller einführt, dem seines lite¬ rarischen Ruhmes wegen das Vertrauen der Welt in den Schoß fällt, dürfte doch Bedenken erregen. Man wird vielleicht bloß vom Standpunkte des guten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/434>, abgerufen am 22.07.2024.