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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

scheidungslose Subskriptionswohlthätigkeit, wie sie in England geübt wird und
dort uns unbekannte Ausdehnungen angenommen hat. Auch in ihr erblickt er
einen schädliche" Umstand, welcher das ungesunde Wachstum der großen Städte
beschleunige.

Bei der Erwägung solcher und ähnlicher Fragen empfand es Denison,
wie er selbst gesteht, öfter als persönlichen Mangel, daß ihm, der auf
dem Lande groß geworden war, jede persönliche Bekanntschaft jener Klasse
fehlte, deren Schicksal ihm so sehr am Herzen lag. Er entschloß sich daher
im Frühjahr 1867, in eine der verarmten und heruntergekommenen Ge¬
meinden Ost-Londons (Philpot Street, Mile End Noad) überzusiedeln.
Während seines dortigen Aufenthaltes wurde es ihm klar, daß das Elend
an einzelnen Punkten nicht das schlimmste sei, sondern vielmehr das ein¬
förmige, niedrige Niveau des Durchschnittslebens, " außer einem kreischenden
Orgelkasten die Abwesenheit von allem, was die Gedanken des Menschen über
das tägliche Brot erhebt, der gänzliche Mangel an Bildung und Religion."
Inmitten von Armen, menschenfreundlichen Geistlichen und Gemcindebeamten
verlebte Denison acht Monate, und bald hatte es der verwöhnte Sohn der
Londoner Salons dahingebracht, daß ihm ein Spaziergang auf Picadillh")
eine Erheiterung und Erholung war. Er hat in seinen Briefen aufs an¬
schaulichste geschildert, wie er heute eiuen Beamten antreibt, die Reinigung einer
vom Fieber angesteckten Straße durchzuführen, morgen an einer Sitzung der voor
^ruz-ramus, d. i. Armcnräte, teilnimmt oder eine Anzahl Dockarbeiter zur Bibel-
stunde um sich vereinigt. Auf seinen Wegen findet er öfters Zustände, die
-- wie er meint -- "die bloße Anwesenheit eines Gentleman schon unmöglich
machen würde." Im Frühjahre 1868 verließ Denison Ost-London, um dem
Rufe zu einer erweiterten Thätigkeit zu folgen. Hauptsächlich wohl ans Grund
von Fmnilieneinflnß, hatte der erst achtundzwanzigjährige einen Sitz im Hause
der Gemeinen erlangt. Seiner parlamentarischen Richtung nach gehörte er dem
rechten Flügel der liberalen Partei an. Auch eine gemäßigt konservative Wähler-
versammlnng hätte seinem Programm zustimmen können. Ein Freund sagt
von ihm, daß er zu denjenigen Politikern gehörte, die, über den Parteien
stehend, eine Schutzwehr gegen die Ausschreitungen des Parteiregiments bilden
und deshalb uicht selten gerade zu Parteileitern und Ministern berufen sind.
Leider war Denisvns parlamentarische Lanfbcchn von kurzer Dauer. Vorboten
eines Lnngenübcls hatten sich schon früher gezeigt, Anstrengungen mochten seine
Gesundheit weiter geschwächt haben. Jedenfalls traten die Anzeichen des Leidens
immer deutlicher zu Tage. Die Ärzte rieten Luftveränderung und schlugen eine
südeuropäische oder transatlantische Reise vor. Denison wählte das letztere.
Denn da auch die Fragen der Auswanderung ihn lebhaft beschäftigt hatten, so



*) Eine der Hauptstraßen des Westens.
Toynbee-Hall.

scheidungslose Subskriptionswohlthätigkeit, wie sie in England geübt wird und
dort uns unbekannte Ausdehnungen angenommen hat. Auch in ihr erblickt er
einen schädliche» Umstand, welcher das ungesunde Wachstum der großen Städte
beschleunige.

Bei der Erwägung solcher und ähnlicher Fragen empfand es Denison,
wie er selbst gesteht, öfter als persönlichen Mangel, daß ihm, der auf
dem Lande groß geworden war, jede persönliche Bekanntschaft jener Klasse
fehlte, deren Schicksal ihm so sehr am Herzen lag. Er entschloß sich daher
im Frühjahr 1867, in eine der verarmten und heruntergekommenen Ge¬
meinden Ost-Londons (Philpot Street, Mile End Noad) überzusiedeln.
Während seines dortigen Aufenthaltes wurde es ihm klar, daß das Elend
an einzelnen Punkten nicht das schlimmste sei, sondern vielmehr das ein¬
förmige, niedrige Niveau des Durchschnittslebens, „ außer einem kreischenden
Orgelkasten die Abwesenheit von allem, was die Gedanken des Menschen über
das tägliche Brot erhebt, der gänzliche Mangel an Bildung und Religion."
Inmitten von Armen, menschenfreundlichen Geistlichen und Gemcindebeamten
verlebte Denison acht Monate, und bald hatte es der verwöhnte Sohn der
Londoner Salons dahingebracht, daß ihm ein Spaziergang auf Picadillh")
eine Erheiterung und Erholung war. Er hat in seinen Briefen aufs an¬
schaulichste geschildert, wie er heute eiuen Beamten antreibt, die Reinigung einer
vom Fieber angesteckten Straße durchzuführen, morgen an einer Sitzung der voor
^ruz-ramus, d. i. Armcnräte, teilnimmt oder eine Anzahl Dockarbeiter zur Bibel-
stunde um sich vereinigt. Auf seinen Wegen findet er öfters Zustände, die
— wie er meint — „die bloße Anwesenheit eines Gentleman schon unmöglich
machen würde." Im Frühjahre 1868 verließ Denison Ost-London, um dem
Rufe zu einer erweiterten Thätigkeit zu folgen. Hauptsächlich wohl ans Grund
von Fmnilieneinflnß, hatte der erst achtundzwanzigjährige einen Sitz im Hause
der Gemeinen erlangt. Seiner parlamentarischen Richtung nach gehörte er dem
rechten Flügel der liberalen Partei an. Auch eine gemäßigt konservative Wähler-
versammlnng hätte seinem Programm zustimmen können. Ein Freund sagt
von ihm, daß er zu denjenigen Politikern gehörte, die, über den Parteien
stehend, eine Schutzwehr gegen die Ausschreitungen des Parteiregiments bilden
und deshalb uicht selten gerade zu Parteileitern und Ministern berufen sind.
Leider war Denisvns parlamentarische Lanfbcchn von kurzer Dauer. Vorboten
eines Lnngenübcls hatten sich schon früher gezeigt, Anstrengungen mochten seine
Gesundheit weiter geschwächt haben. Jedenfalls traten die Anzeichen des Leidens
immer deutlicher zu Tage. Die Ärzte rieten Luftveränderung und schlugen eine
südeuropäische oder transatlantische Reise vor. Denison wählte das letztere.
Denn da auch die Fragen der Auswanderung ihn lebhaft beschäftigt hatten, so



*) Eine der Hauptstraßen des Westens.
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[0426] Toynbee-Hall. scheidungslose Subskriptionswohlthätigkeit, wie sie in England geübt wird und dort uns unbekannte Ausdehnungen angenommen hat. Auch in ihr erblickt er einen schädliche» Umstand, welcher das ungesunde Wachstum der großen Städte beschleunige. Bei der Erwägung solcher und ähnlicher Fragen empfand es Denison, wie er selbst gesteht, öfter als persönlichen Mangel, daß ihm, der auf dem Lande groß geworden war, jede persönliche Bekanntschaft jener Klasse fehlte, deren Schicksal ihm so sehr am Herzen lag. Er entschloß sich daher im Frühjahr 1867, in eine der verarmten und heruntergekommenen Ge¬ meinden Ost-Londons (Philpot Street, Mile End Noad) überzusiedeln. Während seines dortigen Aufenthaltes wurde es ihm klar, daß das Elend an einzelnen Punkten nicht das schlimmste sei, sondern vielmehr das ein¬ förmige, niedrige Niveau des Durchschnittslebens, „ außer einem kreischenden Orgelkasten die Abwesenheit von allem, was die Gedanken des Menschen über das tägliche Brot erhebt, der gänzliche Mangel an Bildung und Religion." Inmitten von Armen, menschenfreundlichen Geistlichen und Gemcindebeamten verlebte Denison acht Monate, und bald hatte es der verwöhnte Sohn der Londoner Salons dahingebracht, daß ihm ein Spaziergang auf Picadillh") eine Erheiterung und Erholung war. Er hat in seinen Briefen aufs an¬ schaulichste geschildert, wie er heute eiuen Beamten antreibt, die Reinigung einer vom Fieber angesteckten Straße durchzuführen, morgen an einer Sitzung der voor ^ruz-ramus, d. i. Armcnräte, teilnimmt oder eine Anzahl Dockarbeiter zur Bibel- stunde um sich vereinigt. Auf seinen Wegen findet er öfters Zustände, die — wie er meint — „die bloße Anwesenheit eines Gentleman schon unmöglich machen würde." Im Frühjahre 1868 verließ Denison Ost-London, um dem Rufe zu einer erweiterten Thätigkeit zu folgen. Hauptsächlich wohl ans Grund von Fmnilieneinflnß, hatte der erst achtundzwanzigjährige einen Sitz im Hause der Gemeinen erlangt. Seiner parlamentarischen Richtung nach gehörte er dem rechten Flügel der liberalen Partei an. Auch eine gemäßigt konservative Wähler- versammlnng hätte seinem Programm zustimmen können. Ein Freund sagt von ihm, daß er zu denjenigen Politikern gehörte, die, über den Parteien stehend, eine Schutzwehr gegen die Ausschreitungen des Parteiregiments bilden und deshalb uicht selten gerade zu Parteileitern und Ministern berufen sind. Leider war Denisvns parlamentarische Lanfbcchn von kurzer Dauer. Vorboten eines Lnngenübcls hatten sich schon früher gezeigt, Anstrengungen mochten seine Gesundheit weiter geschwächt haben. Jedenfalls traten die Anzeichen des Leidens immer deutlicher zu Tage. Die Ärzte rieten Luftveränderung und schlugen eine südeuropäische oder transatlantische Reise vor. Denison wählte das letztere. Denn da auch die Fragen der Auswanderung ihn lebhaft beschäftigt hatten, so *) Eine der Hauptstraßen des Westens.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/426>, abgerufen am 22.12.2024.