Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Toynbee-Hall.

die Universitäten, der positiv-kirchlichen Richtung, wie man in Deutschland es
ausdrücken würde, folgte eine liberalere.

Wie überall erst die Anregungen gegeben und die Ideen zu einer gewissen
Reife gelangt sein müssen, ehe sie in praktischen Gestaltungen Leben gewinnen,
so ging auch dem ersten IIuiv<zrLit/-iAön's MtUvmout,, d. h, der ersten Uuiversitäts-
niederlassnng in Ost-London, eine mehrjährige Bewegung voraus. Diese war
nichts als eine neue Form der sozial-politischen Bestrebungen, welche seit den
letzten Jahrzehnten auf den englischen Universitäten immer mehr an Boden ge¬
winnen. Als Vertreter der Bewegung heben wir zwei ihrer bedeutendsten Vor¬
kämpfer hervor: Eduard Denison und Arnold Toynbee.

Eduard Denison war 1840 zu Salisbury geboren. Sein kurzes, glän¬
zendes Leben sowie sein frühes, fast tragisches Ende verleihen seiner Persönlich¬
keit ein besondres Interesse. Der Sohn einer begüterten und einflußreichen
Familie, wurde er Angehöriger von Eton und Christ-Church, dem vornehmsten
Lollögs Oxfords. Von seinen Universitätsjahren erzählt einer seiner Freunde,
daß er bei einem in sich zurückgezogenen Wesen nicht das gewesen sei, was
man im OollvAg schlechthin einen xoxu1g.r (zllg-raetor zu nennen pflege, daß er
aber nicht selten, wo andre nur flüchtige Bekanntschaften anknüpften, dauernde
Freundschaft geschlossen habe. Beim Verlassen der Universität stand dem jungen
Manne bereits die Aufgabe fest, der er sein Leben widmen wollte, der Kampf
gegen den in großen Städten verbreiteten Pauperismus. Seine später ver¬
öffentlichten Briefe, die uns gleich mit einer ausnehmend liebenswürdigen Per¬
sönlichkeit bekannt machen, zeigen, wie er alles nud jedes in seinem Leben diesem
einen Zwecke unterordnete. Die vornehmen Zirkel von Se. Germain thaten sich
ihm ebenso auf, wie die politischen und literarischen Kreise des Kaiserreichs.
Victor Hugo stieß ihn durch seine kommunistischen Ideen zurück, denn nach De-
nisons Ansicht beruhen auf dem Irrtum, daß Menschen und Dinge sich unver-
mittelt verändern könnten, all das Unrecht und all die Sünden, welche Revo¬
lutionen über die Menschheit gebracht haben. Sein Hauptaugenmerk wandte
Denison auch in Frankreich den Armenverhältnissen zu. Als ein Bewunderer
des Imperialismus nach Frankreich gekommen, erkannte er bei genauerem Studium
bald die innere Verdorbenheit dieses Systems. Die riesigen öffentlichen Bauten
und anderweitigen öffentlichen Unternehmungen, die, an und für sich unnötig, nur
den Zweck hätten, die arbeitslosen Massen zu beschäftigen, nennt er mit Recht
ein verstecktes Almosen, und eine Regierung, die 74 Millionen Pfd. Se. (1480
Millionen Mark) für solche Zwecke innerhalb von sechzehn Jahren aufgewendet hatte,
einen Mandatar des Prolctariertums. In diesen Maßregeln sieht er den haupt¬
sächlichsten Grund für das gefährliche Anschwellen der französischen Hauptstadt.
Ähnliche Erscheinungen, die sich in seinem Mutterlands fanden, zogen ebenfalls
die Aufmerksamkeit Denisons auf sich. Aus denselben Gründen, wie die Staats¬
almosen, welche das französische Reich gewährte, verwirft er auch die unter-


Grmzbvtm I. 188". 53
Toynbee-Hall.

die Universitäten, der positiv-kirchlichen Richtung, wie man in Deutschland es
ausdrücken würde, folgte eine liberalere.

Wie überall erst die Anregungen gegeben und die Ideen zu einer gewissen
Reife gelangt sein müssen, ehe sie in praktischen Gestaltungen Leben gewinnen,
so ging auch dem ersten IIuiv<zrLit/-iAön's MtUvmout,, d. h, der ersten Uuiversitäts-
niederlassnng in Ost-London, eine mehrjährige Bewegung voraus. Diese war
nichts als eine neue Form der sozial-politischen Bestrebungen, welche seit den
letzten Jahrzehnten auf den englischen Universitäten immer mehr an Boden ge¬
winnen. Als Vertreter der Bewegung heben wir zwei ihrer bedeutendsten Vor¬
kämpfer hervor: Eduard Denison und Arnold Toynbee.

Eduard Denison war 1840 zu Salisbury geboren. Sein kurzes, glän¬
zendes Leben sowie sein frühes, fast tragisches Ende verleihen seiner Persönlich¬
keit ein besondres Interesse. Der Sohn einer begüterten und einflußreichen
Familie, wurde er Angehöriger von Eton und Christ-Church, dem vornehmsten
Lollögs Oxfords. Von seinen Universitätsjahren erzählt einer seiner Freunde,
daß er bei einem in sich zurückgezogenen Wesen nicht das gewesen sei, was
man im OollvAg schlechthin einen xoxu1g.r (zllg-raetor zu nennen pflege, daß er
aber nicht selten, wo andre nur flüchtige Bekanntschaften anknüpften, dauernde
Freundschaft geschlossen habe. Beim Verlassen der Universität stand dem jungen
Manne bereits die Aufgabe fest, der er sein Leben widmen wollte, der Kampf
gegen den in großen Städten verbreiteten Pauperismus. Seine später ver¬
öffentlichten Briefe, die uns gleich mit einer ausnehmend liebenswürdigen Per¬
sönlichkeit bekannt machen, zeigen, wie er alles nud jedes in seinem Leben diesem
einen Zwecke unterordnete. Die vornehmen Zirkel von Se. Germain thaten sich
ihm ebenso auf, wie die politischen und literarischen Kreise des Kaiserreichs.
Victor Hugo stieß ihn durch seine kommunistischen Ideen zurück, denn nach De-
nisons Ansicht beruhen auf dem Irrtum, daß Menschen und Dinge sich unver-
mittelt verändern könnten, all das Unrecht und all die Sünden, welche Revo¬
lutionen über die Menschheit gebracht haben. Sein Hauptaugenmerk wandte
Denison auch in Frankreich den Armenverhältnissen zu. Als ein Bewunderer
des Imperialismus nach Frankreich gekommen, erkannte er bei genauerem Studium
bald die innere Verdorbenheit dieses Systems. Die riesigen öffentlichen Bauten
und anderweitigen öffentlichen Unternehmungen, die, an und für sich unnötig, nur
den Zweck hätten, die arbeitslosen Massen zu beschäftigen, nennt er mit Recht
ein verstecktes Almosen, und eine Regierung, die 74 Millionen Pfd. Se. (1480
Millionen Mark) für solche Zwecke innerhalb von sechzehn Jahren aufgewendet hatte,
einen Mandatar des Prolctariertums. In diesen Maßregeln sieht er den haupt¬
sächlichsten Grund für das gefährliche Anschwellen der französischen Hauptstadt.
Ähnliche Erscheinungen, die sich in seinem Mutterlands fanden, zogen ebenfalls
die Aufmerksamkeit Denisons auf sich. Aus denselben Gründen, wie die Staats¬
almosen, welche das französische Reich gewährte, verwirft er auch die unter-


Grmzbvtm I. 188«. 53
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0425" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200530"/>
            <fw type="header" place="top"> Toynbee-Hall.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1330" prev="#ID_1329"> die Universitäten, der positiv-kirchlichen Richtung, wie man in Deutschland es<lb/>
ausdrücken würde, folgte eine liberalere.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1331"> Wie überall erst die Anregungen gegeben und die Ideen zu einer gewissen<lb/>
Reife gelangt sein müssen, ehe sie in praktischen Gestaltungen Leben gewinnen,<lb/>
so ging auch dem ersten IIuiv&lt;zrLit/-iAön's MtUvmout,, d. h, der ersten Uuiversitäts-<lb/>
niederlassnng in Ost-London, eine mehrjährige Bewegung voraus. Diese war<lb/>
nichts als eine neue Form der sozial-politischen Bestrebungen, welche seit den<lb/>
letzten Jahrzehnten auf den englischen Universitäten immer mehr an Boden ge¬<lb/>
winnen. Als Vertreter der Bewegung heben wir zwei ihrer bedeutendsten Vor¬<lb/>
kämpfer hervor: Eduard Denison und Arnold Toynbee.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1332" next="#ID_1333"> Eduard Denison war 1840 zu Salisbury geboren. Sein kurzes, glän¬<lb/>
zendes Leben sowie sein frühes, fast tragisches Ende verleihen seiner Persönlich¬<lb/>
keit ein besondres Interesse. Der Sohn einer begüterten und einflußreichen<lb/>
Familie, wurde er Angehöriger von Eton und Christ-Church, dem vornehmsten<lb/>
Lollögs Oxfords. Von seinen Universitätsjahren erzählt einer seiner Freunde,<lb/>
daß er bei einem in sich zurückgezogenen Wesen nicht das gewesen sei, was<lb/>
man im OollvAg schlechthin einen xoxu1g.r (zllg-raetor zu nennen pflege, daß er<lb/>
aber nicht selten, wo andre nur flüchtige Bekanntschaften anknüpften, dauernde<lb/>
Freundschaft geschlossen habe. Beim Verlassen der Universität stand dem jungen<lb/>
Manne bereits die Aufgabe fest, der er sein Leben widmen wollte, der Kampf<lb/>
gegen den in großen Städten verbreiteten Pauperismus. Seine später ver¬<lb/>
öffentlichten Briefe, die uns gleich mit einer ausnehmend liebenswürdigen Per¬<lb/>
sönlichkeit bekannt machen, zeigen, wie er alles nud jedes in seinem Leben diesem<lb/>
einen Zwecke unterordnete. Die vornehmen Zirkel von Se. Germain thaten sich<lb/>
ihm ebenso auf, wie die politischen und literarischen Kreise des Kaiserreichs.<lb/>
Victor Hugo stieß ihn durch seine kommunistischen Ideen zurück, denn nach De-<lb/>
nisons Ansicht beruhen auf dem Irrtum, daß Menschen und Dinge sich unver-<lb/>
mittelt verändern könnten, all das Unrecht und all die Sünden, welche Revo¬<lb/>
lutionen über die Menschheit gebracht haben. Sein Hauptaugenmerk wandte<lb/>
Denison auch in Frankreich den Armenverhältnissen zu. Als ein Bewunderer<lb/>
des Imperialismus nach Frankreich gekommen, erkannte er bei genauerem Studium<lb/>
bald die innere Verdorbenheit dieses Systems. Die riesigen öffentlichen Bauten<lb/>
und anderweitigen öffentlichen Unternehmungen, die, an und für sich unnötig, nur<lb/>
den Zweck hätten, die arbeitslosen Massen zu beschäftigen, nennt er mit Recht<lb/>
ein verstecktes Almosen, und eine Regierung, die 74 Millionen Pfd. Se. (1480<lb/>
Millionen Mark) für solche Zwecke innerhalb von sechzehn Jahren aufgewendet hatte,<lb/>
einen Mandatar des Prolctariertums. In diesen Maßregeln sieht er den haupt¬<lb/>
sächlichsten Grund für das gefährliche Anschwellen der französischen Hauptstadt.<lb/>
Ähnliche Erscheinungen, die sich in seinem Mutterlands fanden, zogen ebenfalls<lb/>
die Aufmerksamkeit Denisons auf sich. Aus denselben Gründen, wie die Staats¬<lb/>
almosen, welche das französische Reich gewährte, verwirft er auch die unter-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grmzbvtm I. 188«. 53</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0425] Toynbee-Hall. die Universitäten, der positiv-kirchlichen Richtung, wie man in Deutschland es ausdrücken würde, folgte eine liberalere. Wie überall erst die Anregungen gegeben und die Ideen zu einer gewissen Reife gelangt sein müssen, ehe sie in praktischen Gestaltungen Leben gewinnen, so ging auch dem ersten IIuiv<zrLit/-iAön's MtUvmout,, d. h, der ersten Uuiversitäts- niederlassnng in Ost-London, eine mehrjährige Bewegung voraus. Diese war nichts als eine neue Form der sozial-politischen Bestrebungen, welche seit den letzten Jahrzehnten auf den englischen Universitäten immer mehr an Boden ge¬ winnen. Als Vertreter der Bewegung heben wir zwei ihrer bedeutendsten Vor¬ kämpfer hervor: Eduard Denison und Arnold Toynbee. Eduard Denison war 1840 zu Salisbury geboren. Sein kurzes, glän¬ zendes Leben sowie sein frühes, fast tragisches Ende verleihen seiner Persönlich¬ keit ein besondres Interesse. Der Sohn einer begüterten und einflußreichen Familie, wurde er Angehöriger von Eton und Christ-Church, dem vornehmsten Lollögs Oxfords. Von seinen Universitätsjahren erzählt einer seiner Freunde, daß er bei einem in sich zurückgezogenen Wesen nicht das gewesen sei, was man im OollvAg schlechthin einen xoxu1g.r (zllg-raetor zu nennen pflege, daß er aber nicht selten, wo andre nur flüchtige Bekanntschaften anknüpften, dauernde Freundschaft geschlossen habe. Beim Verlassen der Universität stand dem jungen Manne bereits die Aufgabe fest, der er sein Leben widmen wollte, der Kampf gegen den in großen Städten verbreiteten Pauperismus. Seine später ver¬ öffentlichten Briefe, die uns gleich mit einer ausnehmend liebenswürdigen Per¬ sönlichkeit bekannt machen, zeigen, wie er alles nud jedes in seinem Leben diesem einen Zwecke unterordnete. Die vornehmen Zirkel von Se. Germain thaten sich ihm ebenso auf, wie die politischen und literarischen Kreise des Kaiserreichs. Victor Hugo stieß ihn durch seine kommunistischen Ideen zurück, denn nach De- nisons Ansicht beruhen auf dem Irrtum, daß Menschen und Dinge sich unver- mittelt verändern könnten, all das Unrecht und all die Sünden, welche Revo¬ lutionen über die Menschheit gebracht haben. Sein Hauptaugenmerk wandte Denison auch in Frankreich den Armenverhältnissen zu. Als ein Bewunderer des Imperialismus nach Frankreich gekommen, erkannte er bei genauerem Studium bald die innere Verdorbenheit dieses Systems. Die riesigen öffentlichen Bauten und anderweitigen öffentlichen Unternehmungen, die, an und für sich unnötig, nur den Zweck hätten, die arbeitslosen Massen zu beschäftigen, nennt er mit Recht ein verstecktes Almosen, und eine Regierung, die 74 Millionen Pfd. Se. (1480 Millionen Mark) für solche Zwecke innerhalb von sechzehn Jahren aufgewendet hatte, einen Mandatar des Prolctariertums. In diesen Maßregeln sieht er den haupt¬ sächlichsten Grund für das gefährliche Anschwellen der französischen Hauptstadt. Ähnliche Erscheinungen, die sich in seinem Mutterlands fanden, zogen ebenfalls die Aufmerksamkeit Denisons auf sich. Aus denselben Gründen, wie die Staats¬ almosen, welche das französische Reich gewährte, verwirft er auch die unter- Grmzbvtm I. 188«. 53

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/425
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/425>, abgerufen am 22.07.2024.