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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

Dies sind Mißstände, welche die örtliche Trennung der sozialen Klassen
überall hervorrufen wird. In England müssen die Folgen solcher Verhältnisse
noch ungünstiger sein. Das Selfgovernment, aus welchem die örtliche Ver¬
waltung in England beruht, hat zur Voraussetzung eine in der Gemeinde an¬
sässige wohlhabende Klasse, welche Zeit und Lust hat, die öffentlichen Angelegen¬
heiten als Ehrenamt zu verwalten. Eine solche Klasse fehlt in Ost-London
vollständig, und damit sind zugleich die Elemente für ein Wohl arbeitendes Gc-
meindeleben verloren. Selbst die besten Gesetze wirken nicht mehr, denn niemand
wacht über ihre Ausführung. Hieraus allein lassen sich manche oft geleugnete
und doch allbekannte Thatsachen erklären wie die, daß in der Stadt, in welcher
die Reichtümer mehrerer Weltteile zusammenfließen, alljährlich eine Anzahl von
Menschen buchstäblich verhungert. Die Entwicklung scheint dahin zu gehen, die
Pflichten der Selbstverwaltung, welche die wohlhabenden Klassen nicht mehr
erfüllen, einem Heere bezahlter Beamten anzuvertrauen. Aber mit dieser
"Büreaukratisiruug der Verfassung," welche Gneist mehrfach als die drohende
Gefahr bezeichnet hat, verläßt man das, was Englands Größe einst begründet
hat. Man vernichtet die Grundlagen seiner Parlamentarischen Freiheit und wirft
die Schutzwehr gegen den andrängenden Radikalismus nieder. Es ist ein
treffender Vergleich, den ich in England gehört zu haben mich erinnere, daß
jenem Wendepunkte in der Geschichte fremder Völker, an dem die Bürger die
Pflicht der Verteidigung des Vaterlandes auf Söldlinge abwälzen, in der eng¬
lischen Geschichte der Augenblick entsprechen würde, in dem die wohlhabenden
Klaffen die altüberkommenen Pflichten der Selbstverwaltung, eine nicht minder
drückende, aber auch nicht minder ehrenvolle Last, dauernd von sich ablehnten.

Gemäß den soeben geschilderten Verhältnissei? erwies sich Ost-London für
das Extension-Movcment als ein durchaus unvorbereiteter Boden; fehlte doch
hier ein Mittelstand, an dem anderwärts, trotz der Zerfahrenheit der unteren
Klassen, das Extensio"-Mvvement einen Rückhalt gefunden hatte. Es mußte
mehr geschehen, als einzelne Lehrer zu vorübergehendem Aufenthalt hinauszu-
schicken. Um auf die vernachlässigte und vielfach zurückgebliebene Bevölkerung
jener Bezirke Londons kräftiger zu wirken, gründete man einen Verein, dessen
dauernde Thätigkeit von dem Wechsel der Mitglieder unabhängig sein sollte;
und um diesen Verein fest mit dem Grund und Boden zu verbinden, erbaute
man ihm inmitten von Ost-London ein bleibendes und wohnliches Heim. Auch
konnte man sich hier, wo die Kluft zwischen Reich und Arm tiefer gähnte als
irgendwo, nicht auf bloße Lehrthätigkeit beschränken. Es handelt sich um den
Versuch, die Klassengegensätze zu mildern und Verständnis für die Anschauungen
und die Empfindungsweise des fremd gewordenen Arbeiterstandes wieder zu ge¬
winnen. Visher waren in dieser Richtung nur Männer thätig gewesen, die
durch religiöse Motive getrieben waren: unzählige Missionäre, Sekten und
fromme Vereine wirkten bereits segensreich in Ost-London. Jetzt folgten dem


Toynbee-Hall.

Dies sind Mißstände, welche die örtliche Trennung der sozialen Klassen
überall hervorrufen wird. In England müssen die Folgen solcher Verhältnisse
noch ungünstiger sein. Das Selfgovernment, aus welchem die örtliche Ver¬
waltung in England beruht, hat zur Voraussetzung eine in der Gemeinde an¬
sässige wohlhabende Klasse, welche Zeit und Lust hat, die öffentlichen Angelegen¬
heiten als Ehrenamt zu verwalten. Eine solche Klasse fehlt in Ost-London
vollständig, und damit sind zugleich die Elemente für ein Wohl arbeitendes Gc-
meindeleben verloren. Selbst die besten Gesetze wirken nicht mehr, denn niemand
wacht über ihre Ausführung. Hieraus allein lassen sich manche oft geleugnete
und doch allbekannte Thatsachen erklären wie die, daß in der Stadt, in welcher
die Reichtümer mehrerer Weltteile zusammenfließen, alljährlich eine Anzahl von
Menschen buchstäblich verhungert. Die Entwicklung scheint dahin zu gehen, die
Pflichten der Selbstverwaltung, welche die wohlhabenden Klassen nicht mehr
erfüllen, einem Heere bezahlter Beamten anzuvertrauen. Aber mit dieser
„Büreaukratisiruug der Verfassung," welche Gneist mehrfach als die drohende
Gefahr bezeichnet hat, verläßt man das, was Englands Größe einst begründet
hat. Man vernichtet die Grundlagen seiner Parlamentarischen Freiheit und wirft
die Schutzwehr gegen den andrängenden Radikalismus nieder. Es ist ein
treffender Vergleich, den ich in England gehört zu haben mich erinnere, daß
jenem Wendepunkte in der Geschichte fremder Völker, an dem die Bürger die
Pflicht der Verteidigung des Vaterlandes auf Söldlinge abwälzen, in der eng¬
lischen Geschichte der Augenblick entsprechen würde, in dem die wohlhabenden
Klaffen die altüberkommenen Pflichten der Selbstverwaltung, eine nicht minder
drückende, aber auch nicht minder ehrenvolle Last, dauernd von sich ablehnten.

Gemäß den soeben geschilderten Verhältnissei? erwies sich Ost-London für
das Extension-Movcment als ein durchaus unvorbereiteter Boden; fehlte doch
hier ein Mittelstand, an dem anderwärts, trotz der Zerfahrenheit der unteren
Klassen, das Extensio»-Mvvement einen Rückhalt gefunden hatte. Es mußte
mehr geschehen, als einzelne Lehrer zu vorübergehendem Aufenthalt hinauszu-
schicken. Um auf die vernachlässigte und vielfach zurückgebliebene Bevölkerung
jener Bezirke Londons kräftiger zu wirken, gründete man einen Verein, dessen
dauernde Thätigkeit von dem Wechsel der Mitglieder unabhängig sein sollte;
und um diesen Verein fest mit dem Grund und Boden zu verbinden, erbaute
man ihm inmitten von Ost-London ein bleibendes und wohnliches Heim. Auch
konnte man sich hier, wo die Kluft zwischen Reich und Arm tiefer gähnte als
irgendwo, nicht auf bloße Lehrthätigkeit beschränken. Es handelt sich um den
Versuch, die Klassengegensätze zu mildern und Verständnis für die Anschauungen
und die Empfindungsweise des fremd gewordenen Arbeiterstandes wieder zu ge¬
winnen. Visher waren in dieser Richtung nur Männer thätig gewesen, die
durch religiöse Motive getrieben waren: unzählige Missionäre, Sekten und
fromme Vereine wirkten bereits segensreich in Ost-London. Jetzt folgten dem


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[0424] Toynbee-Hall. Dies sind Mißstände, welche die örtliche Trennung der sozialen Klassen überall hervorrufen wird. In England müssen die Folgen solcher Verhältnisse noch ungünstiger sein. Das Selfgovernment, aus welchem die örtliche Ver¬ waltung in England beruht, hat zur Voraussetzung eine in der Gemeinde an¬ sässige wohlhabende Klasse, welche Zeit und Lust hat, die öffentlichen Angelegen¬ heiten als Ehrenamt zu verwalten. Eine solche Klasse fehlt in Ost-London vollständig, und damit sind zugleich die Elemente für ein Wohl arbeitendes Gc- meindeleben verloren. Selbst die besten Gesetze wirken nicht mehr, denn niemand wacht über ihre Ausführung. Hieraus allein lassen sich manche oft geleugnete und doch allbekannte Thatsachen erklären wie die, daß in der Stadt, in welcher die Reichtümer mehrerer Weltteile zusammenfließen, alljährlich eine Anzahl von Menschen buchstäblich verhungert. Die Entwicklung scheint dahin zu gehen, die Pflichten der Selbstverwaltung, welche die wohlhabenden Klassen nicht mehr erfüllen, einem Heere bezahlter Beamten anzuvertrauen. Aber mit dieser „Büreaukratisiruug der Verfassung," welche Gneist mehrfach als die drohende Gefahr bezeichnet hat, verläßt man das, was Englands Größe einst begründet hat. Man vernichtet die Grundlagen seiner Parlamentarischen Freiheit und wirft die Schutzwehr gegen den andrängenden Radikalismus nieder. Es ist ein treffender Vergleich, den ich in England gehört zu haben mich erinnere, daß jenem Wendepunkte in der Geschichte fremder Völker, an dem die Bürger die Pflicht der Verteidigung des Vaterlandes auf Söldlinge abwälzen, in der eng¬ lischen Geschichte der Augenblick entsprechen würde, in dem die wohlhabenden Klaffen die altüberkommenen Pflichten der Selbstverwaltung, eine nicht minder drückende, aber auch nicht minder ehrenvolle Last, dauernd von sich ablehnten. Gemäß den soeben geschilderten Verhältnissei? erwies sich Ost-London für das Extension-Movcment als ein durchaus unvorbereiteter Boden; fehlte doch hier ein Mittelstand, an dem anderwärts, trotz der Zerfahrenheit der unteren Klassen, das Extensio»-Mvvement einen Rückhalt gefunden hatte. Es mußte mehr geschehen, als einzelne Lehrer zu vorübergehendem Aufenthalt hinauszu- schicken. Um auf die vernachlässigte und vielfach zurückgebliebene Bevölkerung jener Bezirke Londons kräftiger zu wirken, gründete man einen Verein, dessen dauernde Thätigkeit von dem Wechsel der Mitglieder unabhängig sein sollte; und um diesen Verein fest mit dem Grund und Boden zu verbinden, erbaute man ihm inmitten von Ost-London ein bleibendes und wohnliches Heim. Auch konnte man sich hier, wo die Kluft zwischen Reich und Arm tiefer gähnte als irgendwo, nicht auf bloße Lehrthätigkeit beschränken. Es handelt sich um den Versuch, die Klassengegensätze zu mildern und Verständnis für die Anschauungen und die Empfindungsweise des fremd gewordenen Arbeiterstandes wieder zu ge¬ winnen. Visher waren in dieser Richtung nur Männer thätig gewesen, die durch religiöse Motive getrieben waren: unzählige Missionäre, Sekten und fromme Vereine wirkten bereits segensreich in Ost-London. Jetzt folgten dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/424>, abgerufen am 22.07.2024.