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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee - Hall.

so viel Einwohnern als Berlin. Selten führt den Fremden sein Weg dahin,
selten aber wird jene Stadt auch von ihrem Bewohner verlassen. Er wird
dort geboren, lebt und stirbt dort, gut oder schlecht, wie seine Verhältnisse eben
sind. Ist er nicht einmal zu einem Meeting auf den Trafalgar-Sauare
hinausmarschirt, so mag es nur wie ein Märchen zu ihm gedrungen sein, daß
es in London neben Armut und Elend, rauchigen und eintönigen Straßen auch
Glanz und Reichtum, prächtige Paläste und großartige Neste der Vergangenheit
giebt. Nirgends sind die oft geschilderten Schattenseiten unsers großstädtischen
Lebens düsterer als in Ost-London. So lange noch der Reiche mit dem Armen
Thür an Thür wohnt, ist neben der Scheidung in soziale Klassen uoch ein
gewisses Gegengewicht vorhanden. Mittelbar genießt der Arme die Vorzüge,
mit denen der Reiche die Umgebungen seines Heims auszustatten liebt. Den An¬
forderungen der modernen Gesundheitslehre entsprechenden Verbesserungen, die
der Reiche vornimmt, kommen beiden zu Gute. Mit der Nachbarschaft knüpfen
sich persönliche Beziehungen. In solchen Verhältnissen ist Wohlthätigkeit möglich
und, wie uns das Beispiel vieler kleinerer Städte zeigt, in der That von bestem
Erfolge. So lange man die Armen persönlich kennt, kann man die Gaben
richtig verteilen und im einzelnen Falle das entsprechende Heilmittel anwenden.
Anders, wenn zu der sozialen Scheidung auch die räumliche hinzukommt. Fast
alle Städte Europas zeigen die Neigung, in zwei Teile zu zerfallen: in den
Westen für die Reichen und in den Osten für die Armen. Nirgends aber ist
diese Entwicklung so weit fortgeschritten wie in London. Allabendlich fliegt der
Kaufmann, der Gewerbetreibende, den seine Geschäfte den Tag über in die Stadt
führen, in dem Eisenbahnwagen hinaus nach den breiten und gesunden Straßen
des Westens, oder noch weiter in die stillen Villenviertel, wo hinter Grün ver¬
steckt reiche Landhäuser von der Straße zurückliegen. Hinter sich läßt er die¬
jenigen, auf deren Arbeit sein Reichtum beruht, die aber zu ermattet und zu
ungebildet sind, um für irgend etwas andres Sinn zu haben, als auszuruhen
für das kommende Tagewerk. Im Westen sammeln sich Macht, Reichtum und
Geist. Aber die Kehrseite des Bildes ist, daß die dort ansässige Bevölkerung
die Pflichten, die ihnen ihre bevorzugte Lage auferlegt, vielfach vergißt.
Schlimmer noch: selbst wenn sie ihrer gedächten, könnten sie ihnen doch häufig
nicht mehr nachkommen. So ist vor allem der Frau, die geeigneter als der
Mann ist, Segen in die Hütte des Elends zu bringen, fast jede persönliche
Teilnahme an der Wohlthätigkeit unmöglich gemacht. Abgesehen davon, daß
es stets eine Eisenbahnreise kosten würde, ist es in vielen Fällen ein Wagnis
für eine Frau aus den gebildeten Ständen, gerade diejenigen Teile Ost-Londons
zu betreten, die ihrer am meisten bedürften. Was an Wohlthätigkeit vorhanden
ist, äußert sich in Geldsammlungen u. s. w. Aber Segen bringt jene Flut von
Gaben, die sich jährlich unterschiedslos von dem Westen nach dem Osten ergießt
nicht mit sich.


Toynbee - Hall.

so viel Einwohnern als Berlin. Selten führt den Fremden sein Weg dahin,
selten aber wird jene Stadt auch von ihrem Bewohner verlassen. Er wird
dort geboren, lebt und stirbt dort, gut oder schlecht, wie seine Verhältnisse eben
sind. Ist er nicht einmal zu einem Meeting auf den Trafalgar-Sauare
hinausmarschirt, so mag es nur wie ein Märchen zu ihm gedrungen sein, daß
es in London neben Armut und Elend, rauchigen und eintönigen Straßen auch
Glanz und Reichtum, prächtige Paläste und großartige Neste der Vergangenheit
giebt. Nirgends sind die oft geschilderten Schattenseiten unsers großstädtischen
Lebens düsterer als in Ost-London. So lange noch der Reiche mit dem Armen
Thür an Thür wohnt, ist neben der Scheidung in soziale Klassen uoch ein
gewisses Gegengewicht vorhanden. Mittelbar genießt der Arme die Vorzüge,
mit denen der Reiche die Umgebungen seines Heims auszustatten liebt. Den An¬
forderungen der modernen Gesundheitslehre entsprechenden Verbesserungen, die
der Reiche vornimmt, kommen beiden zu Gute. Mit der Nachbarschaft knüpfen
sich persönliche Beziehungen. In solchen Verhältnissen ist Wohlthätigkeit möglich
und, wie uns das Beispiel vieler kleinerer Städte zeigt, in der That von bestem
Erfolge. So lange man die Armen persönlich kennt, kann man die Gaben
richtig verteilen und im einzelnen Falle das entsprechende Heilmittel anwenden.
Anders, wenn zu der sozialen Scheidung auch die räumliche hinzukommt. Fast
alle Städte Europas zeigen die Neigung, in zwei Teile zu zerfallen: in den
Westen für die Reichen und in den Osten für die Armen. Nirgends aber ist
diese Entwicklung so weit fortgeschritten wie in London. Allabendlich fliegt der
Kaufmann, der Gewerbetreibende, den seine Geschäfte den Tag über in die Stadt
führen, in dem Eisenbahnwagen hinaus nach den breiten und gesunden Straßen
des Westens, oder noch weiter in die stillen Villenviertel, wo hinter Grün ver¬
steckt reiche Landhäuser von der Straße zurückliegen. Hinter sich läßt er die¬
jenigen, auf deren Arbeit sein Reichtum beruht, die aber zu ermattet und zu
ungebildet sind, um für irgend etwas andres Sinn zu haben, als auszuruhen
für das kommende Tagewerk. Im Westen sammeln sich Macht, Reichtum und
Geist. Aber die Kehrseite des Bildes ist, daß die dort ansässige Bevölkerung
die Pflichten, die ihnen ihre bevorzugte Lage auferlegt, vielfach vergißt.
Schlimmer noch: selbst wenn sie ihrer gedächten, könnten sie ihnen doch häufig
nicht mehr nachkommen. So ist vor allem der Frau, die geeigneter als der
Mann ist, Segen in die Hütte des Elends zu bringen, fast jede persönliche
Teilnahme an der Wohlthätigkeit unmöglich gemacht. Abgesehen davon, daß
es stets eine Eisenbahnreise kosten würde, ist es in vielen Fällen ein Wagnis
für eine Frau aus den gebildeten Ständen, gerade diejenigen Teile Ost-Londons
zu betreten, die ihrer am meisten bedürften. Was an Wohlthätigkeit vorhanden
ist, äußert sich in Geldsammlungen u. s. w. Aber Segen bringt jene Flut von
Gaben, die sich jährlich unterschiedslos von dem Westen nach dem Osten ergießt
nicht mit sich.


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[0423] Toynbee - Hall. so viel Einwohnern als Berlin. Selten führt den Fremden sein Weg dahin, selten aber wird jene Stadt auch von ihrem Bewohner verlassen. Er wird dort geboren, lebt und stirbt dort, gut oder schlecht, wie seine Verhältnisse eben sind. Ist er nicht einmal zu einem Meeting auf den Trafalgar-Sauare hinausmarschirt, so mag es nur wie ein Märchen zu ihm gedrungen sein, daß es in London neben Armut und Elend, rauchigen und eintönigen Straßen auch Glanz und Reichtum, prächtige Paläste und großartige Neste der Vergangenheit giebt. Nirgends sind die oft geschilderten Schattenseiten unsers großstädtischen Lebens düsterer als in Ost-London. So lange noch der Reiche mit dem Armen Thür an Thür wohnt, ist neben der Scheidung in soziale Klassen uoch ein gewisses Gegengewicht vorhanden. Mittelbar genießt der Arme die Vorzüge, mit denen der Reiche die Umgebungen seines Heims auszustatten liebt. Den An¬ forderungen der modernen Gesundheitslehre entsprechenden Verbesserungen, die der Reiche vornimmt, kommen beiden zu Gute. Mit der Nachbarschaft knüpfen sich persönliche Beziehungen. In solchen Verhältnissen ist Wohlthätigkeit möglich und, wie uns das Beispiel vieler kleinerer Städte zeigt, in der That von bestem Erfolge. So lange man die Armen persönlich kennt, kann man die Gaben richtig verteilen und im einzelnen Falle das entsprechende Heilmittel anwenden. Anders, wenn zu der sozialen Scheidung auch die räumliche hinzukommt. Fast alle Städte Europas zeigen die Neigung, in zwei Teile zu zerfallen: in den Westen für die Reichen und in den Osten für die Armen. Nirgends aber ist diese Entwicklung so weit fortgeschritten wie in London. Allabendlich fliegt der Kaufmann, der Gewerbetreibende, den seine Geschäfte den Tag über in die Stadt führen, in dem Eisenbahnwagen hinaus nach den breiten und gesunden Straßen des Westens, oder noch weiter in die stillen Villenviertel, wo hinter Grün ver¬ steckt reiche Landhäuser von der Straße zurückliegen. Hinter sich läßt er die¬ jenigen, auf deren Arbeit sein Reichtum beruht, die aber zu ermattet und zu ungebildet sind, um für irgend etwas andres Sinn zu haben, als auszuruhen für das kommende Tagewerk. Im Westen sammeln sich Macht, Reichtum und Geist. Aber die Kehrseite des Bildes ist, daß die dort ansässige Bevölkerung die Pflichten, die ihnen ihre bevorzugte Lage auferlegt, vielfach vergißt. Schlimmer noch: selbst wenn sie ihrer gedächten, könnten sie ihnen doch häufig nicht mehr nachkommen. So ist vor allem der Frau, die geeigneter als der Mann ist, Segen in die Hütte des Elends zu bringen, fast jede persönliche Teilnahme an der Wohlthätigkeit unmöglich gemacht. Abgesehen davon, daß es stets eine Eisenbahnreise kosten würde, ist es in vielen Fällen ein Wagnis für eine Frau aus den gebildeten Ständen, gerade diejenigen Teile Ost-Londons zu betreten, die ihrer am meisten bedürften. Was an Wohlthätigkeit vorhanden ist, äußert sich in Geldsammlungen u. s. w. Aber Segen bringt jene Flut von Gaben, die sich jährlich unterschiedslos von dem Westen nach dem Osten ergießt nicht mit sich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/423>, abgerufen am 22.07.2024.