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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Französische "Lharakterköpfe.

seine wissenschaftlichen Instrumente beiseite und griffe zur Palette seines reichen
Stils, zur Leier des Dichters, die ereignisreiche Vergangenheit heranszuzaubern.
Aber freilich, wollte er dies thun, so könnte er es nicht, ohne sein Ziel zu ver¬
fehlen und sein Werk zu zerstören. Er will ja weder epischer noch dramatischer
Erzähler sein; sein Verdienst, die Eigenart seines Schaffens liegt ja gerade in
dieser kalten Darlegung, in dieser anatomischen Zergliederung und exakten, gleichsam
mathematischen Beweisführung. Er selber verbirgt sich ängstlich hinter den aus dem
Munde zeitgenössischer Augenzeugen angeführten Thatsachen, und widersteht mi߬
trauisch jeder Versuchung, seinen persönlichen Stil, seine dramatische Einbildungs¬
und Gestaltungskraft walten zu lassen. Daher die völlige Unbefangenheit seiner
Arbeit, in der man nichts von jener chauvinistischen Ader entdeckt, welche Thiers'
Geschichte des Konsulats und des Kaiserreiches durchzieht, nichts von jenem vor¬
gefaßten Enthusiasmus eines Louis Blaue für die demokratischen Errungen¬
schaften, nichts von jener begeisterten Eingebung Michelets, welche seine Geschichte
zur Epopöe der Revolution macht. Noch mehr muß man Tciine gegen den
Vorwurf in Schutz nehmen, seinem Buche eine politische Färbung gegeben,
damit eine Rüstkammer gegen die Revolution geliefert zu haben. Er verwahrt
sich selber sehr energisch dagegen: "Meiner Ansicht nach -- sagt er in einer Vor¬
rede -- hat die Vergangenheit ihre eigne Gestalt, und das vorliegende Porträi
ist mir das Bild des alten Frankreichs und nichts andres. Ich habe es ge¬
zeichnet, ohne mich um unsre gegenwärtigen Debatten zu kümmern; ich habe es
geschrieben, wie wenn ich Revolutionen von Florenz oder Athen zu schildern
gehabt hätte. Dies ist Geschichte, und nur Geschichte, und -- wenn ich alles sagen
soll -- ich achtete meinen Beruf als Geschichtsschreiber viel zu hoch, als daß ich
daneben noch einem andern, im Geheimen, mich hätte widmen mögen." Und im
Vorworte eines der spätern Bände ruft er seinen Rezensenten zu: "Mit Be¬
dauern sehe ich wieder voraus, daß dieses Buch vielen meiner Landsleute mi߬
fallen wird. Meine Entschuldigung ist, daß sie, glücklicher als ich, fast alle
politische Grundsätze haben und sich derselben zur Beurteilung der Vergangen¬
heit bedienen. Ich hatte keine, und wenn ich mein Werk unternommen
habe, so geschah es gerade, um welche zu suchen." Diese Erklärungen
haben freilich nicht gehindert, daß Taine trotz seiner unbezweifelten Wissenschaft¬
lichkeit, trotz seiner ängstlichen Objektivität von sonst sehr gemäßigten und ein¬
sichtsvollen Leuten wie Edmund Scherer u. a. leidenschaftlicher Voreingenommen¬
heit geziehen wurde. Die Revolution -- schrieb der eben genannte vorwurfsvoll
über Taine --, die Revolution hat es vermocht, aus dem anscheinend uneigen¬
nützigsten und abstraktesten unsrer Denker einen hitzigen Polemiker, einen leiden
schaftlichen Schriftsteller der Partei und vorgefaßter Partei zu machen.

In der That ist es ein düsteres Bild, welches uus Taine von der Revo¬
lution vorführt, düster wie die Zerfleischung des Leichnams im anatomischen Hör-
saale, bei der man sich fragt: Ist das der ganze Mensch? -- Ist das die ganze


Französische «Lharakterköpfe.

seine wissenschaftlichen Instrumente beiseite und griffe zur Palette seines reichen
Stils, zur Leier des Dichters, die ereignisreiche Vergangenheit heranszuzaubern.
Aber freilich, wollte er dies thun, so könnte er es nicht, ohne sein Ziel zu ver¬
fehlen und sein Werk zu zerstören. Er will ja weder epischer noch dramatischer
Erzähler sein; sein Verdienst, die Eigenart seines Schaffens liegt ja gerade in
dieser kalten Darlegung, in dieser anatomischen Zergliederung und exakten, gleichsam
mathematischen Beweisführung. Er selber verbirgt sich ängstlich hinter den aus dem
Munde zeitgenössischer Augenzeugen angeführten Thatsachen, und widersteht mi߬
trauisch jeder Versuchung, seinen persönlichen Stil, seine dramatische Einbildungs¬
und Gestaltungskraft walten zu lassen. Daher die völlige Unbefangenheit seiner
Arbeit, in der man nichts von jener chauvinistischen Ader entdeckt, welche Thiers'
Geschichte des Konsulats und des Kaiserreiches durchzieht, nichts von jenem vor¬
gefaßten Enthusiasmus eines Louis Blaue für die demokratischen Errungen¬
schaften, nichts von jener begeisterten Eingebung Michelets, welche seine Geschichte
zur Epopöe der Revolution macht. Noch mehr muß man Tciine gegen den
Vorwurf in Schutz nehmen, seinem Buche eine politische Färbung gegeben,
damit eine Rüstkammer gegen die Revolution geliefert zu haben. Er verwahrt
sich selber sehr energisch dagegen: „Meiner Ansicht nach — sagt er in einer Vor¬
rede — hat die Vergangenheit ihre eigne Gestalt, und das vorliegende Porträi
ist mir das Bild des alten Frankreichs und nichts andres. Ich habe es ge¬
zeichnet, ohne mich um unsre gegenwärtigen Debatten zu kümmern; ich habe es
geschrieben, wie wenn ich Revolutionen von Florenz oder Athen zu schildern
gehabt hätte. Dies ist Geschichte, und nur Geschichte, und — wenn ich alles sagen
soll — ich achtete meinen Beruf als Geschichtsschreiber viel zu hoch, als daß ich
daneben noch einem andern, im Geheimen, mich hätte widmen mögen." Und im
Vorworte eines der spätern Bände ruft er seinen Rezensenten zu: „Mit Be¬
dauern sehe ich wieder voraus, daß dieses Buch vielen meiner Landsleute mi߬
fallen wird. Meine Entschuldigung ist, daß sie, glücklicher als ich, fast alle
politische Grundsätze haben und sich derselben zur Beurteilung der Vergangen¬
heit bedienen. Ich hatte keine, und wenn ich mein Werk unternommen
habe, so geschah es gerade, um welche zu suchen." Diese Erklärungen
haben freilich nicht gehindert, daß Taine trotz seiner unbezweifelten Wissenschaft¬
lichkeit, trotz seiner ängstlichen Objektivität von sonst sehr gemäßigten und ein¬
sichtsvollen Leuten wie Edmund Scherer u. a. leidenschaftlicher Voreingenommen¬
heit geziehen wurde. Die Revolution — schrieb der eben genannte vorwurfsvoll
über Taine —, die Revolution hat es vermocht, aus dem anscheinend uneigen¬
nützigsten und abstraktesten unsrer Denker einen hitzigen Polemiker, einen leiden
schaftlichen Schriftsteller der Partei und vorgefaßter Partei zu machen.

In der That ist es ein düsteres Bild, welches uus Taine von der Revo¬
lution vorführt, düster wie die Zerfleischung des Leichnams im anatomischen Hör-
saale, bei der man sich fragt: Ist das der ganze Mensch? — Ist das die ganze


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[0379] Französische «Lharakterköpfe. seine wissenschaftlichen Instrumente beiseite und griffe zur Palette seines reichen Stils, zur Leier des Dichters, die ereignisreiche Vergangenheit heranszuzaubern. Aber freilich, wollte er dies thun, so könnte er es nicht, ohne sein Ziel zu ver¬ fehlen und sein Werk zu zerstören. Er will ja weder epischer noch dramatischer Erzähler sein; sein Verdienst, die Eigenart seines Schaffens liegt ja gerade in dieser kalten Darlegung, in dieser anatomischen Zergliederung und exakten, gleichsam mathematischen Beweisführung. Er selber verbirgt sich ängstlich hinter den aus dem Munde zeitgenössischer Augenzeugen angeführten Thatsachen, und widersteht mi߬ trauisch jeder Versuchung, seinen persönlichen Stil, seine dramatische Einbildungs¬ und Gestaltungskraft walten zu lassen. Daher die völlige Unbefangenheit seiner Arbeit, in der man nichts von jener chauvinistischen Ader entdeckt, welche Thiers' Geschichte des Konsulats und des Kaiserreiches durchzieht, nichts von jenem vor¬ gefaßten Enthusiasmus eines Louis Blaue für die demokratischen Errungen¬ schaften, nichts von jener begeisterten Eingebung Michelets, welche seine Geschichte zur Epopöe der Revolution macht. Noch mehr muß man Tciine gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, seinem Buche eine politische Färbung gegeben, damit eine Rüstkammer gegen die Revolution geliefert zu haben. Er verwahrt sich selber sehr energisch dagegen: „Meiner Ansicht nach — sagt er in einer Vor¬ rede — hat die Vergangenheit ihre eigne Gestalt, und das vorliegende Porträi ist mir das Bild des alten Frankreichs und nichts andres. Ich habe es ge¬ zeichnet, ohne mich um unsre gegenwärtigen Debatten zu kümmern; ich habe es geschrieben, wie wenn ich Revolutionen von Florenz oder Athen zu schildern gehabt hätte. Dies ist Geschichte, und nur Geschichte, und — wenn ich alles sagen soll — ich achtete meinen Beruf als Geschichtsschreiber viel zu hoch, als daß ich daneben noch einem andern, im Geheimen, mich hätte widmen mögen." Und im Vorworte eines der spätern Bände ruft er seinen Rezensenten zu: „Mit Be¬ dauern sehe ich wieder voraus, daß dieses Buch vielen meiner Landsleute mi߬ fallen wird. Meine Entschuldigung ist, daß sie, glücklicher als ich, fast alle politische Grundsätze haben und sich derselben zur Beurteilung der Vergangen¬ heit bedienen. Ich hatte keine, und wenn ich mein Werk unternommen habe, so geschah es gerade, um welche zu suchen." Diese Erklärungen haben freilich nicht gehindert, daß Taine trotz seiner unbezweifelten Wissenschaft¬ lichkeit, trotz seiner ängstlichen Objektivität von sonst sehr gemäßigten und ein¬ sichtsvollen Leuten wie Edmund Scherer u. a. leidenschaftlicher Voreingenommen¬ heit geziehen wurde. Die Revolution — schrieb der eben genannte vorwurfsvoll über Taine —, die Revolution hat es vermocht, aus dem anscheinend uneigen¬ nützigsten und abstraktesten unsrer Denker einen hitzigen Polemiker, einen leiden schaftlichen Schriftsteller der Partei und vorgefaßter Partei zu machen. In der That ist es ein düsteres Bild, welches uus Taine von der Revo¬ lution vorführt, düster wie die Zerfleischung des Leichnams im anatomischen Hör- saale, bei der man sich fragt: Ist das der ganze Mensch? — Ist das die ganze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/379>, abgerufen am 23.12.2024.