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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Revolution? fragt sich unruhig und geängstigt der Leser, wenn er das Tainesche
Buch schließt. Ist das jene Revolution von 1789, jene Bewegung, welche die
ganze Welt aus ihren Angeln hob?

Nein, es ist nicht die ganze Revolution, so wenig wie der Leichnam der
ganze Mensch ist. Taines Schilderung fehlt das Leben, die Handlung, die Be¬
geisterung, die Stimmung und das Verständnis für die Gesinnung; es ist nur
die Zerlegung des toten Wesens, nicht aber das lebensvolle Gemälde der dra¬
matischen Wirklichkeit.

Es liegt in der Natur der Taineschcn Methode, daß eine an Ausschrei¬
tungen und blutigen Greueln so reiche Zeit wie die französische Revolution
darin doppelt hassenswert erscheinen muß, da diese Methode eben nur mit den
kalten Thatsachen rechnet. So kommt dann der Geschichtschreiber zu Auf¬
fassungen wie der folgenden "psychologischen Charakteristik der Revolution":
"Es giebt eine seltsame Krankheit, der man gewöhnlich nur in ärmlichen Stadt¬
vierteln begegnet. Ein von der Arbeit nberangestrengter, armseliger, schlecht
genährter Arbeiter hat sich dein Trunke ergeben; alle Tage trinkt er mehr und
immer stärkere Getränke. Nach einigen Jahren ist sein durch die Entbehrung
ohnehin schon zerrüttetes Nervensystem überreizt und gestört. Eine Stunde
kommt, wo das Gehirn von einem plötzlichen Schlage getroffen die Maschine
zu leiten versagt: es kann lange befehlen, es wird ihm nicht mehr gehorcht;
jedes Glied, jedes Gelenk, jeder Muskel handelt für sich und einzeln, zuckt
krampfhaft in regellosen Stößen auf. Gleichwohl ist der Mann heiter; er
glaubt sich Millionär, König, geliebt und bewundert von allen; er fühlt nicht
das Weh, das er sich anthut; er versteht die Mahnungen und Ratschläge nicht,
die man ihm giebt; er weist die Heilmittel zurück, die man ihm anbietet; er
singt und jubelt ganze Tage lang und trinkt namentlich mehr als je. Gegen
das Ende verfinstert sich sein Gesicht, und seine Augen sind mit Blut unter¬
laufen. Die strahlenden Visionen sind ungeheuerlichen und schwarzen Phan¬
tomen gewichen: er sieht rings um sich her nur noch drohende Gestalten, Ver¬
räter, die ihm aus Verstecken auflauern, um unversehens über ihn herzufallen,
Mörder, die die bewaffnete Hand erheben, um ihm den Hals abzuschneiden,
Henkersknechte, die seine Hinrichtung vorbereiten, und er meint in einer Blut¬
lache zu gehen. Da springt er ans und tötet, um nicht getötet zu werden.
Niemand ist furchtbarer, denn sein Delirium hält ihn aufrecht, seine Kraft ist
übermenschlich, seine Bewegungen sind unberechenbar, und ohne darauf zu achten,
erträgt er Elend und Wunden, denen ein gewöhnlicher, gesunder Mensch unter¬
liegen müßte. So auch Frankreich, aufgerieben durch die unter der Monarchie
erduldeten Entbehrungen, berauscht durch den Fusel des Oontrg,t Loveni und
vieler audern berauschenden und brennenden Getränke. Dann mit einemmale
wird es am Kopfe von Lähmung getroffen; sofort straucheln alle seine Glieder
infolge des ^zusammenhängenden Spieles und der widersprechenden Zuckungen


Revolution? fragt sich unruhig und geängstigt der Leser, wenn er das Tainesche
Buch schließt. Ist das jene Revolution von 1789, jene Bewegung, welche die
ganze Welt aus ihren Angeln hob?

Nein, es ist nicht die ganze Revolution, so wenig wie der Leichnam der
ganze Mensch ist. Taines Schilderung fehlt das Leben, die Handlung, die Be¬
geisterung, die Stimmung und das Verständnis für die Gesinnung; es ist nur
die Zerlegung des toten Wesens, nicht aber das lebensvolle Gemälde der dra¬
matischen Wirklichkeit.

Es liegt in der Natur der Taineschcn Methode, daß eine an Ausschrei¬
tungen und blutigen Greueln so reiche Zeit wie die französische Revolution
darin doppelt hassenswert erscheinen muß, da diese Methode eben nur mit den
kalten Thatsachen rechnet. So kommt dann der Geschichtschreiber zu Auf¬
fassungen wie der folgenden „psychologischen Charakteristik der Revolution":
„Es giebt eine seltsame Krankheit, der man gewöhnlich nur in ärmlichen Stadt¬
vierteln begegnet. Ein von der Arbeit nberangestrengter, armseliger, schlecht
genährter Arbeiter hat sich dein Trunke ergeben; alle Tage trinkt er mehr und
immer stärkere Getränke. Nach einigen Jahren ist sein durch die Entbehrung
ohnehin schon zerrüttetes Nervensystem überreizt und gestört. Eine Stunde
kommt, wo das Gehirn von einem plötzlichen Schlage getroffen die Maschine
zu leiten versagt: es kann lange befehlen, es wird ihm nicht mehr gehorcht;
jedes Glied, jedes Gelenk, jeder Muskel handelt für sich und einzeln, zuckt
krampfhaft in regellosen Stößen auf. Gleichwohl ist der Mann heiter; er
glaubt sich Millionär, König, geliebt und bewundert von allen; er fühlt nicht
das Weh, das er sich anthut; er versteht die Mahnungen und Ratschläge nicht,
die man ihm giebt; er weist die Heilmittel zurück, die man ihm anbietet; er
singt und jubelt ganze Tage lang und trinkt namentlich mehr als je. Gegen
das Ende verfinstert sich sein Gesicht, und seine Augen sind mit Blut unter¬
laufen. Die strahlenden Visionen sind ungeheuerlichen und schwarzen Phan¬
tomen gewichen: er sieht rings um sich her nur noch drohende Gestalten, Ver¬
räter, die ihm aus Verstecken auflauern, um unversehens über ihn herzufallen,
Mörder, die die bewaffnete Hand erheben, um ihm den Hals abzuschneiden,
Henkersknechte, die seine Hinrichtung vorbereiten, und er meint in einer Blut¬
lache zu gehen. Da springt er ans und tötet, um nicht getötet zu werden.
Niemand ist furchtbarer, denn sein Delirium hält ihn aufrecht, seine Kraft ist
übermenschlich, seine Bewegungen sind unberechenbar, und ohne darauf zu achten,
erträgt er Elend und Wunden, denen ein gewöhnlicher, gesunder Mensch unter¬
liegen müßte. So auch Frankreich, aufgerieben durch die unter der Monarchie
erduldeten Entbehrungen, berauscht durch den Fusel des Oontrg,t Loveni und
vieler audern berauschenden und brennenden Getränke. Dann mit einemmale
wird es am Kopfe von Lähmung getroffen; sofort straucheln alle seine Glieder
infolge des ^zusammenhängenden Spieles und der widersprechenden Zuckungen


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[0380] Revolution? fragt sich unruhig und geängstigt der Leser, wenn er das Tainesche Buch schließt. Ist das jene Revolution von 1789, jene Bewegung, welche die ganze Welt aus ihren Angeln hob? Nein, es ist nicht die ganze Revolution, so wenig wie der Leichnam der ganze Mensch ist. Taines Schilderung fehlt das Leben, die Handlung, die Be¬ geisterung, die Stimmung und das Verständnis für die Gesinnung; es ist nur die Zerlegung des toten Wesens, nicht aber das lebensvolle Gemälde der dra¬ matischen Wirklichkeit. Es liegt in der Natur der Taineschcn Methode, daß eine an Ausschrei¬ tungen und blutigen Greueln so reiche Zeit wie die französische Revolution darin doppelt hassenswert erscheinen muß, da diese Methode eben nur mit den kalten Thatsachen rechnet. So kommt dann der Geschichtschreiber zu Auf¬ fassungen wie der folgenden „psychologischen Charakteristik der Revolution": „Es giebt eine seltsame Krankheit, der man gewöhnlich nur in ärmlichen Stadt¬ vierteln begegnet. Ein von der Arbeit nberangestrengter, armseliger, schlecht genährter Arbeiter hat sich dein Trunke ergeben; alle Tage trinkt er mehr und immer stärkere Getränke. Nach einigen Jahren ist sein durch die Entbehrung ohnehin schon zerrüttetes Nervensystem überreizt und gestört. Eine Stunde kommt, wo das Gehirn von einem plötzlichen Schlage getroffen die Maschine zu leiten versagt: es kann lange befehlen, es wird ihm nicht mehr gehorcht; jedes Glied, jedes Gelenk, jeder Muskel handelt für sich und einzeln, zuckt krampfhaft in regellosen Stößen auf. Gleichwohl ist der Mann heiter; er glaubt sich Millionär, König, geliebt und bewundert von allen; er fühlt nicht das Weh, das er sich anthut; er versteht die Mahnungen und Ratschläge nicht, die man ihm giebt; er weist die Heilmittel zurück, die man ihm anbietet; er singt und jubelt ganze Tage lang und trinkt namentlich mehr als je. Gegen das Ende verfinstert sich sein Gesicht, und seine Augen sind mit Blut unter¬ laufen. Die strahlenden Visionen sind ungeheuerlichen und schwarzen Phan¬ tomen gewichen: er sieht rings um sich her nur noch drohende Gestalten, Ver¬ räter, die ihm aus Verstecken auflauern, um unversehens über ihn herzufallen, Mörder, die die bewaffnete Hand erheben, um ihm den Hals abzuschneiden, Henkersknechte, die seine Hinrichtung vorbereiten, und er meint in einer Blut¬ lache zu gehen. Da springt er ans und tötet, um nicht getötet zu werden. Niemand ist furchtbarer, denn sein Delirium hält ihn aufrecht, seine Kraft ist übermenschlich, seine Bewegungen sind unberechenbar, und ohne darauf zu achten, erträgt er Elend und Wunden, denen ein gewöhnlicher, gesunder Mensch unter¬ liegen müßte. So auch Frankreich, aufgerieben durch die unter der Monarchie erduldeten Entbehrungen, berauscht durch den Fusel des Oontrg,t Loveni und vieler audern berauschenden und brennenden Getränke. Dann mit einemmale wird es am Kopfe von Lähmung getroffen; sofort straucheln alle seine Glieder infolge des ^zusammenhängenden Spieles und der widersprechenden Zuckungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/380>, abgerufen am 22.07.2024.