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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Französische "Lharakterköxfe,

Augen ist alles, was wir die menschliche Seele nennen, ein Erzeugnis; die
sichtbaren Handlungen gehen aus einem unsichtbaren Zustande hervor, der selber
wieder aus einigen sehr allgemeinen Ursachen, welche das Individuum beherrschen,
entstanden ist; drei dieser Kräfte oder Ursachen sind besonders leicht zu erfassen:
Volksstamm. Ort und Zeit.

Aus dieser Auffassungsweise der Geschichte entspringen gleichzeitig mehrere
Vorzüge vor der rein erzählenden Art, aber auch mehrere Nachteile, und je nach
dem Standpunkte, auf den man sich stellt, je nach Weltanschauung und Ge¬
mütsanlage des Lesers wird er der einen oder der andern den Vorzug geben,
die Vorteile oder Nachteile überwiegend finden. Zunächst entspringt aus der¬
selben eine überraschende Einheit und Einfachheit, die wie keine andre Dar¬
stellungsart die Gesamtwirkung einer so schwer zu überschauenden geschichtlichen
Periode, wie die französische Revolution es ist, hervortreten läßt; anderseits er¬
möglicht sie neben dieser übersichtlichen Einheit wie keine andre die erschöpfende
Vorführung der Einzelheit, die Zerlegung der seelischen Persönlichkeit durch
den Nachweis der auf dasselbe bestimmend einwirkenden, es beherrschenden, es
gestaltenden Erzcuguugsbedingnngen, die Aufzählung der Thatsachen und aller
den Thatbestand bildenden kleinen Einzelheiten. Dagegen fehlt ihr die lebensvolle
Wiedergabe der Szene, die farbige Schilderung des Schauplatzes und der darauf
sich vollziehenden Handlung, mit einem Worte: die dramatische Wahrheit und
Wahrscheinlichkeit. Wie die Systeme der Botanik, der Zoologie, der Mineralogie,
führt sie nichts als Thpen vor, erklärt deren Entstehungsbedingungen, deren
Organismus, aber die malerische Landschaft, die dramatische Szenerie und
Handlung sucht man vergebens. Die Geschichtschreibung Taincs ist eine Demon-
stration der Ursachen, eine psychologische Zerlegung der Menschen und Gruppen,
bei welcher die lebenswahre Vorführung der Handlung selbst keinen Raum findet;
seiner Art fehlt ferner die Abwechslung, der epische Wechsel von Szene und Hand¬
lung; infolge ihrer Einheitlichkeit und einförmigen Klarheit haftet ihr eine ermü¬
dende Eintönigkeit an. Da sie alle Hilfsmittel der Kunst, das Pathos, die farben¬
reiche Malerei, die lebendige Gruppirung der Handlung verschmäht, muß sie not¬
wendig bei der Einförmigkeit der exakten Beweisführung verharren. Wie es
nur eine Art giebt, die Lehrsätze der Geometrie zu beweisen, so giebt es nur
eine Art, den psychologischen Zusammenhang in der Geschichte nachzuweisen.

Ist schon die Taineschc Theorie von der menschlichen Seele eine wenig
tröstliche an und für sich, so wirkt die kalte, unerbittliche Strenge seiner Methode
beklemmend auf das Gemüt des Lesers. Bei dieser fast endlosen Aufzählung
der Thatsachen, bei dieser Zerlegung der Seelen der Menschen und Parteien
vermißt man den wärmenden Strahl des Lebens; bei dieser gänzlichen Ab¬
wesenheit lebendiger und belebender Begeisterung für den behandelten Stoff, bei
diesem kalten Zurücktreten der Individualität des Verfassers sehnt man sich nach
Farbe, nach dem künstlerisch vollendeten Bilde; man wünscht, der Forscher legte


Französische «Lharakterköxfe,

Augen ist alles, was wir die menschliche Seele nennen, ein Erzeugnis; die
sichtbaren Handlungen gehen aus einem unsichtbaren Zustande hervor, der selber
wieder aus einigen sehr allgemeinen Ursachen, welche das Individuum beherrschen,
entstanden ist; drei dieser Kräfte oder Ursachen sind besonders leicht zu erfassen:
Volksstamm. Ort und Zeit.

Aus dieser Auffassungsweise der Geschichte entspringen gleichzeitig mehrere
Vorzüge vor der rein erzählenden Art, aber auch mehrere Nachteile, und je nach
dem Standpunkte, auf den man sich stellt, je nach Weltanschauung und Ge¬
mütsanlage des Lesers wird er der einen oder der andern den Vorzug geben,
die Vorteile oder Nachteile überwiegend finden. Zunächst entspringt aus der¬
selben eine überraschende Einheit und Einfachheit, die wie keine andre Dar¬
stellungsart die Gesamtwirkung einer so schwer zu überschauenden geschichtlichen
Periode, wie die französische Revolution es ist, hervortreten läßt; anderseits er¬
möglicht sie neben dieser übersichtlichen Einheit wie keine andre die erschöpfende
Vorführung der Einzelheit, die Zerlegung der seelischen Persönlichkeit durch
den Nachweis der auf dasselbe bestimmend einwirkenden, es beherrschenden, es
gestaltenden Erzcuguugsbedingnngen, die Aufzählung der Thatsachen und aller
den Thatbestand bildenden kleinen Einzelheiten. Dagegen fehlt ihr die lebensvolle
Wiedergabe der Szene, die farbige Schilderung des Schauplatzes und der darauf
sich vollziehenden Handlung, mit einem Worte: die dramatische Wahrheit und
Wahrscheinlichkeit. Wie die Systeme der Botanik, der Zoologie, der Mineralogie,
führt sie nichts als Thpen vor, erklärt deren Entstehungsbedingungen, deren
Organismus, aber die malerische Landschaft, die dramatische Szenerie und
Handlung sucht man vergebens. Die Geschichtschreibung Taincs ist eine Demon-
stration der Ursachen, eine psychologische Zerlegung der Menschen und Gruppen,
bei welcher die lebenswahre Vorführung der Handlung selbst keinen Raum findet;
seiner Art fehlt ferner die Abwechslung, der epische Wechsel von Szene und Hand¬
lung; infolge ihrer Einheitlichkeit und einförmigen Klarheit haftet ihr eine ermü¬
dende Eintönigkeit an. Da sie alle Hilfsmittel der Kunst, das Pathos, die farben¬
reiche Malerei, die lebendige Gruppirung der Handlung verschmäht, muß sie not¬
wendig bei der Einförmigkeit der exakten Beweisführung verharren. Wie es
nur eine Art giebt, die Lehrsätze der Geometrie zu beweisen, so giebt es nur
eine Art, den psychologischen Zusammenhang in der Geschichte nachzuweisen.

Ist schon die Taineschc Theorie von der menschlichen Seele eine wenig
tröstliche an und für sich, so wirkt die kalte, unerbittliche Strenge seiner Methode
beklemmend auf das Gemüt des Lesers. Bei dieser fast endlosen Aufzählung
der Thatsachen, bei dieser Zerlegung der Seelen der Menschen und Parteien
vermißt man den wärmenden Strahl des Lebens; bei dieser gänzlichen Ab¬
wesenheit lebendiger und belebender Begeisterung für den behandelten Stoff, bei
diesem kalten Zurücktreten der Individualität des Verfassers sehnt man sich nach
Farbe, nach dem künstlerisch vollendeten Bilde; man wünscht, der Forscher legte


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[0378] Französische «Lharakterköxfe, Augen ist alles, was wir die menschliche Seele nennen, ein Erzeugnis; die sichtbaren Handlungen gehen aus einem unsichtbaren Zustande hervor, der selber wieder aus einigen sehr allgemeinen Ursachen, welche das Individuum beherrschen, entstanden ist; drei dieser Kräfte oder Ursachen sind besonders leicht zu erfassen: Volksstamm. Ort und Zeit. Aus dieser Auffassungsweise der Geschichte entspringen gleichzeitig mehrere Vorzüge vor der rein erzählenden Art, aber auch mehrere Nachteile, und je nach dem Standpunkte, auf den man sich stellt, je nach Weltanschauung und Ge¬ mütsanlage des Lesers wird er der einen oder der andern den Vorzug geben, die Vorteile oder Nachteile überwiegend finden. Zunächst entspringt aus der¬ selben eine überraschende Einheit und Einfachheit, die wie keine andre Dar¬ stellungsart die Gesamtwirkung einer so schwer zu überschauenden geschichtlichen Periode, wie die französische Revolution es ist, hervortreten läßt; anderseits er¬ möglicht sie neben dieser übersichtlichen Einheit wie keine andre die erschöpfende Vorführung der Einzelheit, die Zerlegung der seelischen Persönlichkeit durch den Nachweis der auf dasselbe bestimmend einwirkenden, es beherrschenden, es gestaltenden Erzcuguugsbedingnngen, die Aufzählung der Thatsachen und aller den Thatbestand bildenden kleinen Einzelheiten. Dagegen fehlt ihr die lebensvolle Wiedergabe der Szene, die farbige Schilderung des Schauplatzes und der darauf sich vollziehenden Handlung, mit einem Worte: die dramatische Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Wie die Systeme der Botanik, der Zoologie, der Mineralogie, führt sie nichts als Thpen vor, erklärt deren Entstehungsbedingungen, deren Organismus, aber die malerische Landschaft, die dramatische Szenerie und Handlung sucht man vergebens. Die Geschichtschreibung Taincs ist eine Demon- stration der Ursachen, eine psychologische Zerlegung der Menschen und Gruppen, bei welcher die lebenswahre Vorführung der Handlung selbst keinen Raum findet; seiner Art fehlt ferner die Abwechslung, der epische Wechsel von Szene und Hand¬ lung; infolge ihrer Einheitlichkeit und einförmigen Klarheit haftet ihr eine ermü¬ dende Eintönigkeit an. Da sie alle Hilfsmittel der Kunst, das Pathos, die farben¬ reiche Malerei, die lebendige Gruppirung der Handlung verschmäht, muß sie not¬ wendig bei der Einförmigkeit der exakten Beweisführung verharren. Wie es nur eine Art giebt, die Lehrsätze der Geometrie zu beweisen, so giebt es nur eine Art, den psychologischen Zusammenhang in der Geschichte nachzuweisen. Ist schon die Taineschc Theorie von der menschlichen Seele eine wenig tröstliche an und für sich, so wirkt die kalte, unerbittliche Strenge seiner Methode beklemmend auf das Gemüt des Lesers. Bei dieser fast endlosen Aufzählung der Thatsachen, bei dieser Zerlegung der Seelen der Menschen und Parteien vermißt man den wärmenden Strahl des Lebens; bei dieser gänzlichen Ab¬ wesenheit lebendiger und belebender Begeisterung für den behandelten Stoff, bei diesem kalten Zurücktreten der Individualität des Verfassers sehnt man sich nach Farbe, nach dem künstlerisch vollendeten Bilde; man wünscht, der Forscher legte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/378>, abgerufen am 22.07.2024.