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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Geistes fand, wo er die philosophische Erkenntnis an der konkreten Thatsache
erweisen konnte.

Nach den bis in die Mitte der siebziger Jahre erschienenen Schriften
Tciincs konnte man ahnen, daß er einst auch das Gebiet der Geschichte betreten
würde; dennoch mochte man sich ihn schwer als Geschichtschreiber in des Wortes
eigentlichem Sinne vorstellen, und das ist er anch nicht. Wenn der Geschicht¬
schreiber sich die Aufgabe zu stellen hat, mit scharfsichtiger Kritik und wahr¬
heitsgetreu das große, farbenreiche Gemälde vergangener Zeiten und Geschlechter
mit ihrem Empfinden, Denken und Handeln, mit ihren Charakteren und Ge¬
stalten in epischer Darstellung zu entrollen, die Thatsachen, wie sie sind, in
ihrer Wahrheit wirken zu lassen, so ist Taine kein Historiker. Er ist vielmehr
der Philosoph der Geschichte, welcher an ihr die natürlichen Gesetze aufzeigen
will. Diese Methode der Geschichtschreibung ist gewiß nicht aller Vorzüge bar,
aber sie birgt die große Gefahr in sich, daß der Geschichtschreiber sich die Ge¬
schichte konstruirt, die Thatsache,, einseitig und kurzsichtig so zurecht legt, daß
sich Gesetze an ihnen nachweisen lassen, die doch nur hineindcmonstrirt werden,
und Taine ist dieser Gefahr uicht entgangen. Er selber sagt irgendwo: Die
Geschichtschreibung ist eine Kunst, sie ist aber auch eine Wissenschaft. Nicht
umsonst haben sich die Griechen die Klio in Gesellschaft einer Terpsichore und
einer Thalia gedacht. Als Künstler haben Schiller, Voltaire, Michelet Geschichte
geschrieben, Taine will sie als wissenschaftlicher Denker und Forscher schreiben.
Er begnügt sich dabei nicht mit der geschichtlichen Beweisführung, sondern er will
die Ursachen der geschichtlichen Ereignisse, deren "Ursprünge," wie ja der Titel
seines Werkes selber sagt, philosophisch darlegen. Er hat in einem Essay
über Michelet das Wesen der modernen Geschichtschreibung dahin zusammen¬
gefaßt: Die Geschichtschreibung verlangt vom Schriftsteller die Überlegung;
wenn sie die bildnerische begeisterte Eingebung zur Arbeiterin hat, so hat sie
die weise Kritik und die vorsichtige Verallgemeinerung zu Werkzeugen. Ihre
Gemälde müssen ebenso lebensvoll sein wie die der Dichtung, aber ihr Stil muß
ebenso genau, ihre Einteilung ebenso bestimmt, ihre Gesetze ebenso erwiesen, ihre
Schlußfolgerungen ebenso zutreffend wie die der Naturgeschichte sein.

Bei Taine würde man vergeblich jenes erste Erfordernis des Historikers
suchen: das lebensvolle, epische Gemälde. Bei ihm ist die Geschichtschreibung
Philosophische Methode und Demonstration, die der Mathematik ihre Schärfe
und ihre Klarheit entlehnt; die lebendige Erzählung, die farbenreiche Schilderung
fehlt. Man denkt bei der Lektüre seiner "Ursprünge" unwillkürlich an die Worte
Spinozas in der Vorrede zum dritten Buche der Ethik: Es mag manchem
seltsam erscheinen, aber meine Methode besteht darin, die menschlichen Fehler
und Narrheiten mit dem Verfahren vernunftgemäßer Beweisführung wie es für
die Figuren der Geometrie Anwendung findet, zu behandeln.

Man kaun Taines Auffassung der Geschichte dahin bestimmen: In seinen


Grenzboten I. 1L87. 47

Geistes fand, wo er die philosophische Erkenntnis an der konkreten Thatsache
erweisen konnte.

Nach den bis in die Mitte der siebziger Jahre erschienenen Schriften
Tciincs konnte man ahnen, daß er einst auch das Gebiet der Geschichte betreten
würde; dennoch mochte man sich ihn schwer als Geschichtschreiber in des Wortes
eigentlichem Sinne vorstellen, und das ist er anch nicht. Wenn der Geschicht¬
schreiber sich die Aufgabe zu stellen hat, mit scharfsichtiger Kritik und wahr¬
heitsgetreu das große, farbenreiche Gemälde vergangener Zeiten und Geschlechter
mit ihrem Empfinden, Denken und Handeln, mit ihren Charakteren und Ge¬
stalten in epischer Darstellung zu entrollen, die Thatsachen, wie sie sind, in
ihrer Wahrheit wirken zu lassen, so ist Taine kein Historiker. Er ist vielmehr
der Philosoph der Geschichte, welcher an ihr die natürlichen Gesetze aufzeigen
will. Diese Methode der Geschichtschreibung ist gewiß nicht aller Vorzüge bar,
aber sie birgt die große Gefahr in sich, daß der Geschichtschreiber sich die Ge¬
schichte konstruirt, die Thatsache,, einseitig und kurzsichtig so zurecht legt, daß
sich Gesetze an ihnen nachweisen lassen, die doch nur hineindcmonstrirt werden,
und Taine ist dieser Gefahr uicht entgangen. Er selber sagt irgendwo: Die
Geschichtschreibung ist eine Kunst, sie ist aber auch eine Wissenschaft. Nicht
umsonst haben sich die Griechen die Klio in Gesellschaft einer Terpsichore und
einer Thalia gedacht. Als Künstler haben Schiller, Voltaire, Michelet Geschichte
geschrieben, Taine will sie als wissenschaftlicher Denker und Forscher schreiben.
Er begnügt sich dabei nicht mit der geschichtlichen Beweisführung, sondern er will
die Ursachen der geschichtlichen Ereignisse, deren „Ursprünge," wie ja der Titel
seines Werkes selber sagt, philosophisch darlegen. Er hat in einem Essay
über Michelet das Wesen der modernen Geschichtschreibung dahin zusammen¬
gefaßt: Die Geschichtschreibung verlangt vom Schriftsteller die Überlegung;
wenn sie die bildnerische begeisterte Eingebung zur Arbeiterin hat, so hat sie
die weise Kritik und die vorsichtige Verallgemeinerung zu Werkzeugen. Ihre
Gemälde müssen ebenso lebensvoll sein wie die der Dichtung, aber ihr Stil muß
ebenso genau, ihre Einteilung ebenso bestimmt, ihre Gesetze ebenso erwiesen, ihre
Schlußfolgerungen ebenso zutreffend wie die der Naturgeschichte sein.

Bei Taine würde man vergeblich jenes erste Erfordernis des Historikers
suchen: das lebensvolle, epische Gemälde. Bei ihm ist die Geschichtschreibung
Philosophische Methode und Demonstration, die der Mathematik ihre Schärfe
und ihre Klarheit entlehnt; die lebendige Erzählung, die farbenreiche Schilderung
fehlt. Man denkt bei der Lektüre seiner „Ursprünge" unwillkürlich an die Worte
Spinozas in der Vorrede zum dritten Buche der Ethik: Es mag manchem
seltsam erscheinen, aber meine Methode besteht darin, die menschlichen Fehler
und Narrheiten mit dem Verfahren vernunftgemäßer Beweisführung wie es für
die Figuren der Geometrie Anwendung findet, zu behandeln.

Man kaun Taines Auffassung der Geschichte dahin bestimmen: In seinen


Grenzboten I. 1L87. 47
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[0377] Geistes fand, wo er die philosophische Erkenntnis an der konkreten Thatsache erweisen konnte. Nach den bis in die Mitte der siebziger Jahre erschienenen Schriften Tciincs konnte man ahnen, daß er einst auch das Gebiet der Geschichte betreten würde; dennoch mochte man sich ihn schwer als Geschichtschreiber in des Wortes eigentlichem Sinne vorstellen, und das ist er anch nicht. Wenn der Geschicht¬ schreiber sich die Aufgabe zu stellen hat, mit scharfsichtiger Kritik und wahr¬ heitsgetreu das große, farbenreiche Gemälde vergangener Zeiten und Geschlechter mit ihrem Empfinden, Denken und Handeln, mit ihren Charakteren und Ge¬ stalten in epischer Darstellung zu entrollen, die Thatsachen, wie sie sind, in ihrer Wahrheit wirken zu lassen, so ist Taine kein Historiker. Er ist vielmehr der Philosoph der Geschichte, welcher an ihr die natürlichen Gesetze aufzeigen will. Diese Methode der Geschichtschreibung ist gewiß nicht aller Vorzüge bar, aber sie birgt die große Gefahr in sich, daß der Geschichtschreiber sich die Ge¬ schichte konstruirt, die Thatsache,, einseitig und kurzsichtig so zurecht legt, daß sich Gesetze an ihnen nachweisen lassen, die doch nur hineindcmonstrirt werden, und Taine ist dieser Gefahr uicht entgangen. Er selber sagt irgendwo: Die Geschichtschreibung ist eine Kunst, sie ist aber auch eine Wissenschaft. Nicht umsonst haben sich die Griechen die Klio in Gesellschaft einer Terpsichore und einer Thalia gedacht. Als Künstler haben Schiller, Voltaire, Michelet Geschichte geschrieben, Taine will sie als wissenschaftlicher Denker und Forscher schreiben. Er begnügt sich dabei nicht mit der geschichtlichen Beweisführung, sondern er will die Ursachen der geschichtlichen Ereignisse, deren „Ursprünge," wie ja der Titel seines Werkes selber sagt, philosophisch darlegen. Er hat in einem Essay über Michelet das Wesen der modernen Geschichtschreibung dahin zusammen¬ gefaßt: Die Geschichtschreibung verlangt vom Schriftsteller die Überlegung; wenn sie die bildnerische begeisterte Eingebung zur Arbeiterin hat, so hat sie die weise Kritik und die vorsichtige Verallgemeinerung zu Werkzeugen. Ihre Gemälde müssen ebenso lebensvoll sein wie die der Dichtung, aber ihr Stil muß ebenso genau, ihre Einteilung ebenso bestimmt, ihre Gesetze ebenso erwiesen, ihre Schlußfolgerungen ebenso zutreffend wie die der Naturgeschichte sein. Bei Taine würde man vergeblich jenes erste Erfordernis des Historikers suchen: das lebensvolle, epische Gemälde. Bei ihm ist die Geschichtschreibung Philosophische Methode und Demonstration, die der Mathematik ihre Schärfe und ihre Klarheit entlehnt; die lebendige Erzählung, die farbenreiche Schilderung fehlt. Man denkt bei der Lektüre seiner „Ursprünge" unwillkürlich an die Worte Spinozas in der Vorrede zum dritten Buche der Ethik: Es mag manchem seltsam erscheinen, aber meine Methode besteht darin, die menschlichen Fehler und Narrheiten mit dem Verfahren vernunftgemäßer Beweisführung wie es für die Figuren der Geometrie Anwendung findet, zu behandeln. Man kaun Taines Auffassung der Geschichte dahin bestimmen: In seinen Grenzboten I. 1L87. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/377>, abgerufen am 22.07.2024.