Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.Mittelpunktes und einer begrenzten Zeitperiode zum Gegenstande haben, ob sie Taincs Methode nun, seine Art besteht in der Anwendung des Verfahrens Mittelpunktes und einer begrenzten Zeitperiode zum Gegenstande haben, ob sie Taincs Methode nun, seine Art besteht in der Anwendung des Verfahrens <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0376" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200481"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1192" prev="#ID_1191"> Mittelpunktes und einer begrenzten Zeitperiode zum Gegenstande haben, ob sie<lb/> in angenehmer, leichter Form Gesehenes, Anschauungen und Erinnerungen bieten<lb/> sollen, wie seine Reisebeschreibungen in den Pyrenäen und in Italien, ob sie<lb/> von der Geschichte einer ganzen Nation und großen, die Geschicke der ganzen<lb/> Welt beeinflussenden Ereignissen handeln, wie seine „Ursprünge des heutigen<lb/> Frankreich," oder ob sie endlich dem abstrakten Gebiete der reinen Philosophie<lb/> angehören, wie sein Buch von der Intelligenz. Seine Kritiker haben sich be¬<lb/> müht, aus seinen Schriften ein philosophisches System aufzubauen. Taine<lb/> verwahrt sich eifrig dagegen, da er keinen Anspruch darauf erhebe, ein System<lb/> zu besitzen, sondern höchstens versucht habe, einer einheitlichen Methode zu folgen;<lb/> ein System sei die Darstellung und Erklärung eines ausgebauten Ganzen und<lb/> setze ein abgeschlossenes philosophisches Werk voraus; er habe sich lediglich be¬<lb/> müht, in einer gewissen Richtung und auf eine gewisse Art zu arbeiten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1193" next="#ID_1194"> Taincs Methode nun, seine Art besteht in der Anwendung des Verfahrens<lb/> der naturwissenschaftlichen Forschung auf menschliches Empfinden, Denken,<lb/> Schaffen, Handeln. Emporgewachsen in einem Jahrhundert der exakten Ana¬<lb/> lyse, ist Taine der Überzeugung, daß alles Philosophiren nutzlose phantastische<lb/> Spielerei sei, wenn es sich nicht auf die feste Grundlage der empirischen Wissen¬<lb/> schaften stelle. Wie der Naturforscher die Eigentümlichkeiten der Arten als die<lb/> Ergebnisse äußerer Umstände und Einflüsse erklärt, so stellt Taine den Menschen,<lb/> das Kunstwerk, das literarische Denkmal, Gedanken und Anschauungen einer Na¬<lb/> tion, das geschichtliche Ereignis als den Ausfluß der Zusammenwirkung von<lb/> Zeit, Ort und Umgebung, Himmelsstrich und Volksstamm ?e. dar. Wie der<lb/> Naturwisscnschcifter die physiologische Entwicklung der Natur nachweist, so Taine<lb/> die psychologische der Geister, Völker und Zeiten. Seine Methode besteht in<lb/> der Erklärung der geistigen Äußerungen des Lebens des Menschen und der<lb/> Gesellschaft aus den physiologischen Entstehungsbedingungen derselben. Taine<lb/> ist immer philosophischer Denker, er bleibt es als Sittenschildcrcr, als Neise-<lb/> bevbachter, als Kunst- und Literarkritiler, er bleibt es als Geschichtschreiber. In<lb/> allen seineu Schriften begegne» wir den beiden charakteristischen Seiten des<lb/> Philosophen, die Dinge immer nach ihrem allgemeinen Zusammenhange zu er¬<lb/> fassen, die zerstreuten Thatsachen methodisch zu ordnen. Vielleicht würde er,<lb/> wenn ihn die Unduldsamkeit der Universitätstheoretiker nicht zum Schriftsteller-<lb/> bernfe getrieben hätte, seine Arbeit auf das Gebiet der spekulativen Philosophie<lb/> beschränkt haben. Man kann sich ihn leicht wie Spinoza, wie Kant, wie Hegel<lb/> und andre in der einsamen Abgeschlossenheit einer rein spekulativen Thätigkeit,<lb/> mit der Ausarbeitung einer Ethik, einer Kritik der Vernunft, einer Phänomeno-<lb/> logie des Geistes beschäftigt denken. Sein Lebensgang, der Zwang des Brot¬<lb/> erwerbes, aber wohl auch seine große Beobachtungsgabe haben ihn auf Gebiete<lb/> geführt, wo er im Gegensatze zu den unbegrenzten Sphären der Metaphysik,<lb/> der Hypothese ein beschränktes, reelles Wirkungsfeld für Bethätigung seines</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0376]
Mittelpunktes und einer begrenzten Zeitperiode zum Gegenstande haben, ob sie
in angenehmer, leichter Form Gesehenes, Anschauungen und Erinnerungen bieten
sollen, wie seine Reisebeschreibungen in den Pyrenäen und in Italien, ob sie
von der Geschichte einer ganzen Nation und großen, die Geschicke der ganzen
Welt beeinflussenden Ereignissen handeln, wie seine „Ursprünge des heutigen
Frankreich," oder ob sie endlich dem abstrakten Gebiete der reinen Philosophie
angehören, wie sein Buch von der Intelligenz. Seine Kritiker haben sich be¬
müht, aus seinen Schriften ein philosophisches System aufzubauen. Taine
verwahrt sich eifrig dagegen, da er keinen Anspruch darauf erhebe, ein System
zu besitzen, sondern höchstens versucht habe, einer einheitlichen Methode zu folgen;
ein System sei die Darstellung und Erklärung eines ausgebauten Ganzen und
setze ein abgeschlossenes philosophisches Werk voraus; er habe sich lediglich be¬
müht, in einer gewissen Richtung und auf eine gewisse Art zu arbeiten.
Taincs Methode nun, seine Art besteht in der Anwendung des Verfahrens
der naturwissenschaftlichen Forschung auf menschliches Empfinden, Denken,
Schaffen, Handeln. Emporgewachsen in einem Jahrhundert der exakten Ana¬
lyse, ist Taine der Überzeugung, daß alles Philosophiren nutzlose phantastische
Spielerei sei, wenn es sich nicht auf die feste Grundlage der empirischen Wissen¬
schaften stelle. Wie der Naturforscher die Eigentümlichkeiten der Arten als die
Ergebnisse äußerer Umstände und Einflüsse erklärt, so stellt Taine den Menschen,
das Kunstwerk, das literarische Denkmal, Gedanken und Anschauungen einer Na¬
tion, das geschichtliche Ereignis als den Ausfluß der Zusammenwirkung von
Zeit, Ort und Umgebung, Himmelsstrich und Volksstamm ?e. dar. Wie der
Naturwisscnschcifter die physiologische Entwicklung der Natur nachweist, so Taine
die psychologische der Geister, Völker und Zeiten. Seine Methode besteht in
der Erklärung der geistigen Äußerungen des Lebens des Menschen und der
Gesellschaft aus den physiologischen Entstehungsbedingungen derselben. Taine
ist immer philosophischer Denker, er bleibt es als Sittenschildcrcr, als Neise-
bevbachter, als Kunst- und Literarkritiler, er bleibt es als Geschichtschreiber. In
allen seineu Schriften begegne» wir den beiden charakteristischen Seiten des
Philosophen, die Dinge immer nach ihrem allgemeinen Zusammenhange zu er¬
fassen, die zerstreuten Thatsachen methodisch zu ordnen. Vielleicht würde er,
wenn ihn die Unduldsamkeit der Universitätstheoretiker nicht zum Schriftsteller-
bernfe getrieben hätte, seine Arbeit auf das Gebiet der spekulativen Philosophie
beschränkt haben. Man kann sich ihn leicht wie Spinoza, wie Kant, wie Hegel
und andre in der einsamen Abgeschlossenheit einer rein spekulativen Thätigkeit,
mit der Ausarbeitung einer Ethik, einer Kritik der Vernunft, einer Phänomeno-
logie des Geistes beschäftigt denken. Sein Lebensgang, der Zwang des Brot¬
erwerbes, aber wohl auch seine große Beobachtungsgabe haben ihn auf Gebiete
geführt, wo er im Gegensatze zu den unbegrenzten Sphären der Metaphysik,
der Hypothese ein beschränktes, reelles Wirkungsfeld für Bethätigung seines
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