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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Nur der Vnder verbot nur und dem Bruder streng, uns hinter den Scheunen
der Nachbarhöfe oder auf dem Felde mit andern Knaben herumzutreiben und
ungebührlichen Spektakel zu machen, er vermehrte uns aber nicht, die so tief
gewurzelte Abneigung gegen Preußen auf der Schiefertafel auszutoben. Hier
schlugen wir denn im tiefsten Frieden und ohne Geschrei Tag für Tag unsre
Geguer, bis dies wenig amüsante Spiel, dem aller Neiz der Erregung fehlte,
uns zu langweilen begann und wir deshalb in sehr kurzer Zeit ganz darauf
verzichteten.

Warum ich dieser Knabenspiele gedenke? Weil sie eine treue Spiegelung
der Zeitstimmung waren, die lange Jahre im Herzen des Volkes vorhielt.
Allerorten beim Spiel der Kinder konnte man dieselbe Beobachtung machen; es
war wie eine Krankheit, die epidemisch die gesamte Jugend ergriffen hatte.

Wie kam dies? wird mancher Leser fragen. Die richtige Antwort auf
solche Frage kauu nur ein Blick auf die politische Zerfahrenheit Deutschlands
nach den Befreiungskriegen geben, die von der jetzigen Generation kaum noch
verstanden werden dürfte. Sorgfältig gearbeitet an dieser Zerfahrenheit, gründlich
vorbereitet hatte sie zumeist die Weisheit der Diplomatie auf dem Wiener
Kongreß, welcher die Meisterschöpfung des Bundesstaates zustande brachte,
der achtunddreißig oder neununddreißig -- mau vergißt dergleichen mit der
Zeit -- einzelne deutsche Vaterländer mit eben so vielen Sondcrinteresseu, Sonder-
Pvlititen und Farben schuf. Dem deutschen Charakter war diese politische
Harlekinsjacke recht auf den Leib zugeschnitten, denn nunmehr hatte jeder Gau,
jedes Vaterländchen das volle Recht, sich ganz individuell zu entwickeln und ein
recht eigensinnig einseitiges politisches Sonderleben für sich allein zu führen.
Weiter entfernt von dem heiß ersehnten Ziele einzelner, aus den verschiednen
dentschen Stämmen ein einiges, großes, mächtiges Volk zu machen, ist unser
Vaterland kaum je gewesen, als in der Zeit, wo mau es unter den Schutz des
hohen deutsche" Bundes stellte.

Die Gesamteinrichtnng des deutschen Bundes mußte erschlaffend auf das
Volk wirken, im besten Falle aber den Partikularismus großziehen. Nur inner
halb des Landes, dem jemand angehörte, dessen Unterthan er war, gab es noch
eiuen schwachen Halt. Jenseits der Grenze, die manchmal keinen Büchsenschuß
weit entfernt war, hörte politisches Recht, politischer Schutz vollständig auf.
Man war dann vogelfrei und konnte, wenn die unerläßliche Legitimation fehlte,
eingesteckt oder mildes Schildes über die Grenze geschafft werden.

Einsichtige Männer gestanden sich Wohl unter einander, daß diese politische
Morgenröte, die nach den fürchterlichen Schlachten anbrach, welchen wir die Be¬
freiung des deutschen Vaterlandes verdankten, kein Erwachen zu einem gesunden,
kräftigen und frohen Staatsleben sei. Der Gebildete schämte sich der Errungen¬
schaften, welche mit so viel Blut erkauft worden waren, und weil nach demi
Dafürhalten der meisten behauptet wurde. durch die Vertreibung der Fremden


Gu'nzlwlen I. 1887. ^
Jugenderinnerungen.

Nur der Vnder verbot nur und dem Bruder streng, uns hinter den Scheunen
der Nachbarhöfe oder auf dem Felde mit andern Knaben herumzutreiben und
ungebührlichen Spektakel zu machen, er vermehrte uns aber nicht, die so tief
gewurzelte Abneigung gegen Preußen auf der Schiefertafel auszutoben. Hier
schlugen wir denn im tiefsten Frieden und ohne Geschrei Tag für Tag unsre
Geguer, bis dies wenig amüsante Spiel, dem aller Neiz der Erregung fehlte,
uns zu langweilen begann und wir deshalb in sehr kurzer Zeit ganz darauf
verzichteten.

Warum ich dieser Knabenspiele gedenke? Weil sie eine treue Spiegelung
der Zeitstimmung waren, die lange Jahre im Herzen des Volkes vorhielt.
Allerorten beim Spiel der Kinder konnte man dieselbe Beobachtung machen; es
war wie eine Krankheit, die epidemisch die gesamte Jugend ergriffen hatte.

Wie kam dies? wird mancher Leser fragen. Die richtige Antwort auf
solche Frage kauu nur ein Blick auf die politische Zerfahrenheit Deutschlands
nach den Befreiungskriegen geben, die von der jetzigen Generation kaum noch
verstanden werden dürfte. Sorgfältig gearbeitet an dieser Zerfahrenheit, gründlich
vorbereitet hatte sie zumeist die Weisheit der Diplomatie auf dem Wiener
Kongreß, welcher die Meisterschöpfung des Bundesstaates zustande brachte,
der achtunddreißig oder neununddreißig — mau vergißt dergleichen mit der
Zeit — einzelne deutsche Vaterländer mit eben so vielen Sondcrinteresseu, Sonder-
Pvlititen und Farben schuf. Dem deutschen Charakter war diese politische
Harlekinsjacke recht auf den Leib zugeschnitten, denn nunmehr hatte jeder Gau,
jedes Vaterländchen das volle Recht, sich ganz individuell zu entwickeln und ein
recht eigensinnig einseitiges politisches Sonderleben für sich allein zu führen.
Weiter entfernt von dem heiß ersehnten Ziele einzelner, aus den verschiednen
dentschen Stämmen ein einiges, großes, mächtiges Volk zu machen, ist unser
Vaterland kaum je gewesen, als in der Zeit, wo mau es unter den Schutz des
hohen deutsche» Bundes stellte.

Die Gesamteinrichtnng des deutschen Bundes mußte erschlaffend auf das
Volk wirken, im besten Falle aber den Partikularismus großziehen. Nur inner
halb des Landes, dem jemand angehörte, dessen Unterthan er war, gab es noch
eiuen schwachen Halt. Jenseits der Grenze, die manchmal keinen Büchsenschuß
weit entfernt war, hörte politisches Recht, politischer Schutz vollständig auf.
Man war dann vogelfrei und konnte, wenn die unerläßliche Legitimation fehlte,
eingesteckt oder mildes Schildes über die Grenze geschafft werden.

Einsichtige Männer gestanden sich Wohl unter einander, daß diese politische
Morgenröte, die nach den fürchterlichen Schlachten anbrach, welchen wir die Be¬
freiung des deutschen Vaterlandes verdankten, kein Erwachen zu einem gesunden,
kräftigen und frohen Staatsleben sei. Der Gebildete schämte sich der Errungen¬
schaften, welche mit so viel Blut erkauft worden waren, und weil nach demi
Dafürhalten der meisten behauptet wurde. durch die Vertreibung der Fremden


Gu'nzlwlen I. 1887. ^
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[0345] Jugenderinnerungen. Nur der Vnder verbot nur und dem Bruder streng, uns hinter den Scheunen der Nachbarhöfe oder auf dem Felde mit andern Knaben herumzutreiben und ungebührlichen Spektakel zu machen, er vermehrte uns aber nicht, die so tief gewurzelte Abneigung gegen Preußen auf der Schiefertafel auszutoben. Hier schlugen wir denn im tiefsten Frieden und ohne Geschrei Tag für Tag unsre Geguer, bis dies wenig amüsante Spiel, dem aller Neiz der Erregung fehlte, uns zu langweilen begann und wir deshalb in sehr kurzer Zeit ganz darauf verzichteten. Warum ich dieser Knabenspiele gedenke? Weil sie eine treue Spiegelung der Zeitstimmung waren, die lange Jahre im Herzen des Volkes vorhielt. Allerorten beim Spiel der Kinder konnte man dieselbe Beobachtung machen; es war wie eine Krankheit, die epidemisch die gesamte Jugend ergriffen hatte. Wie kam dies? wird mancher Leser fragen. Die richtige Antwort auf solche Frage kauu nur ein Blick auf die politische Zerfahrenheit Deutschlands nach den Befreiungskriegen geben, die von der jetzigen Generation kaum noch verstanden werden dürfte. Sorgfältig gearbeitet an dieser Zerfahrenheit, gründlich vorbereitet hatte sie zumeist die Weisheit der Diplomatie auf dem Wiener Kongreß, welcher die Meisterschöpfung des Bundesstaates zustande brachte, der achtunddreißig oder neununddreißig — mau vergißt dergleichen mit der Zeit — einzelne deutsche Vaterländer mit eben so vielen Sondcrinteresseu, Sonder- Pvlititen und Farben schuf. Dem deutschen Charakter war diese politische Harlekinsjacke recht auf den Leib zugeschnitten, denn nunmehr hatte jeder Gau, jedes Vaterländchen das volle Recht, sich ganz individuell zu entwickeln und ein recht eigensinnig einseitiges politisches Sonderleben für sich allein zu führen. Weiter entfernt von dem heiß ersehnten Ziele einzelner, aus den verschiednen dentschen Stämmen ein einiges, großes, mächtiges Volk zu machen, ist unser Vaterland kaum je gewesen, als in der Zeit, wo mau es unter den Schutz des hohen deutsche» Bundes stellte. Die Gesamteinrichtnng des deutschen Bundes mußte erschlaffend auf das Volk wirken, im besten Falle aber den Partikularismus großziehen. Nur inner halb des Landes, dem jemand angehörte, dessen Unterthan er war, gab es noch eiuen schwachen Halt. Jenseits der Grenze, die manchmal keinen Büchsenschuß weit entfernt war, hörte politisches Recht, politischer Schutz vollständig auf. Man war dann vogelfrei und konnte, wenn die unerläßliche Legitimation fehlte, eingesteckt oder mildes Schildes über die Grenze geschafft werden. Einsichtige Männer gestanden sich Wohl unter einander, daß diese politische Morgenröte, die nach den fürchterlichen Schlachten anbrach, welchen wir die Be¬ freiung des deutschen Vaterlandes verdankten, kein Erwachen zu einem gesunden, kräftigen und frohen Staatsleben sei. Der Gebildete schämte sich der Errungen¬ schaften, welche mit so viel Blut erkauft worden waren, und weil nach demi Dafürhalten der meisten behauptet wurde. durch die Vertreibung der Fremden Gu'nzlwlen I. 1887. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/345>, abgerufen am 22.07.2024.