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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gespenster.

Oswald. Das ist im äußersten Falle sehr vernünftig; aber es wird selten
genug nötig sein --

U
Dritter. nd lügt in Briefen tapfer drauf los, schildert den schuldigen
Teil dem Kinde als ein Ideal --

N Oswald. a, viel besser als ein Kretin kann ein Kind auch nicht sein,
welches so etwas unter diesen Umständen glaubt. Wer nicht geradezu auf den
Kopf gefallen ist, macht sich doch seinen Vers auf die Verhältnisse. Und
übrigens wäre ein solches Beginnen vonseiten eines Vaters oder einer Mutter
in solchem Falle völlig unmöglich -- nnpsychologisch, so nennt ihr's doch? Ich
warf neulich einmal einen Blick in den Kolportageroman meines Burschen, da
kam so etwas ähnliches vor. Nein, da wird sich schon eine Form finden lassen,
eine Art Vorhang oder besser Trost- und Liudernngsmittcl für solch ein armes
Menschenkind.

Du billigst also solche Verhältnisse?


Dritter.

Füllt Oswald. mir nicht ein. So etwas ist immer ein Unglück. Aber Unglück
bleibt Unglück, ob man es billigt oder nicht. Und ein Unglück ist am wenigsten
eine Lüge, sondern im Gegenteil eine traurige Wahrheit. Wo bleibt auch
schließlich die Sünde, das Unrecht, das es erzeugt? Ich möchte sogar be¬
haupten, daß es weniger Übel erzeugt, als manches Glück -- natürlich immer
euer bedeutendes Drama ausgenommen. Solche Verhältnisse bilden oft die
nachsichtigsten, zartfühligsteu und dabei selbständigsten Naturen. Ich erinnere
mich, gelesen zu haben, daß viele bedeutende Männer ihnen ihr Dasein ver¬
danken. Ob aber auch dein Drama, Helene -- el, du ziehst dich zurück?

Ja, ich komme gleich wieder.


Helene.

Hoffentlich ist sie jetzt auch überzeugt.


Oswald.

D Dritter. as gute Kind! Sie kennt freilich uur die Hälfte. Das übrige
ahnt sie nur oder reimt sich's auf ihre Art zusammen. Eigentlich länft die
Sache auf die bekannte darwinistische Schrulle von der Vererbung hinaus, mit
der man jetzt alles zu erklären liebt, die Milben im Käse und die Zustände im
menschlichen Geiste. Alles, was wir sind und bedeuten, alles, was wir denken,
dichten und thun, das sind nicht wir, sondern die aufgegangenen Keime, Thaten
und Raten aller unsrer werten Voreltern. Wir sind nnr das Fazit, der Käse,
natürlich der verdorbene Käse, denn bei so hohem Alter --

Oswald. Du bedienst dich da sehr wohlriechender Vergleiche. Und es
giebt noch immer Leute, die so etwas glauben?

E
Dritter. s giebt sogar ihrer, wie du siehst, die darüber Dramen
schreiben. Nächstens wird man es in Musik setzen, und die Primadonnen unsrer
Opernbühnen werden es als Ziel ihres Ehrgeizes betrachten, sich darall ihre
Stimmen zu verderben. Ja, die Poesie ist eben exakt geworden. Es war auch
hohe Zeit. Wohin sollte es schließlich führen, dieses Herumstttmpern an gänzlich
unbelegter Thatsachen, wie Liebe, Glaube, Freiheit, Gott, Mensch und dergleichen


Gespenster.

Oswald. Das ist im äußersten Falle sehr vernünftig; aber es wird selten
genug nötig sein —

U
Dritter. nd lügt in Briefen tapfer drauf los, schildert den schuldigen
Teil dem Kinde als ein Ideal —

N Oswald. a, viel besser als ein Kretin kann ein Kind auch nicht sein,
welches so etwas unter diesen Umständen glaubt. Wer nicht geradezu auf den
Kopf gefallen ist, macht sich doch seinen Vers auf die Verhältnisse. Und
übrigens wäre ein solches Beginnen vonseiten eines Vaters oder einer Mutter
in solchem Falle völlig unmöglich — nnpsychologisch, so nennt ihr's doch? Ich
warf neulich einmal einen Blick in den Kolportageroman meines Burschen, da
kam so etwas ähnliches vor. Nein, da wird sich schon eine Form finden lassen,
eine Art Vorhang oder besser Trost- und Liudernngsmittcl für solch ein armes
Menschenkind.

Du billigst also solche Verhältnisse?


Dritter.

Füllt Oswald. mir nicht ein. So etwas ist immer ein Unglück. Aber Unglück
bleibt Unglück, ob man es billigt oder nicht. Und ein Unglück ist am wenigsten
eine Lüge, sondern im Gegenteil eine traurige Wahrheit. Wo bleibt auch
schließlich die Sünde, das Unrecht, das es erzeugt? Ich möchte sogar be¬
haupten, daß es weniger Übel erzeugt, als manches Glück — natürlich immer
euer bedeutendes Drama ausgenommen. Solche Verhältnisse bilden oft die
nachsichtigsten, zartfühligsteu und dabei selbständigsten Naturen. Ich erinnere
mich, gelesen zu haben, daß viele bedeutende Männer ihnen ihr Dasein ver¬
danken. Ob aber auch dein Drama, Helene — el, du ziehst dich zurück?

Ja, ich komme gleich wieder.


Helene.

Hoffentlich ist sie jetzt auch überzeugt.


Oswald.

D Dritter. as gute Kind! Sie kennt freilich uur die Hälfte. Das übrige
ahnt sie nur oder reimt sich's auf ihre Art zusammen. Eigentlich länft die
Sache auf die bekannte darwinistische Schrulle von der Vererbung hinaus, mit
der man jetzt alles zu erklären liebt, die Milben im Käse und die Zustände im
menschlichen Geiste. Alles, was wir sind und bedeuten, alles, was wir denken,
dichten und thun, das sind nicht wir, sondern die aufgegangenen Keime, Thaten
und Raten aller unsrer werten Voreltern. Wir sind nnr das Fazit, der Käse,
natürlich der verdorbene Käse, denn bei so hohem Alter —

Oswald. Du bedienst dich da sehr wohlriechender Vergleiche. Und es
giebt noch immer Leute, die so etwas glauben?

E
Dritter. s giebt sogar ihrer, wie du siehst, die darüber Dramen
schreiben. Nächstens wird man es in Musik setzen, und die Primadonnen unsrer
Opernbühnen werden es als Ziel ihres Ehrgeizes betrachten, sich darall ihre
Stimmen zu verderben. Ja, die Poesie ist eben exakt geworden. Es war auch
hohe Zeit. Wohin sollte es schließlich führen, dieses Herumstttmpern an gänzlich
unbelegter Thatsachen, wie Liebe, Glaube, Freiheit, Gott, Mensch und dergleichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/335>, abgerufen am 23.12.2024.