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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Französische Lharakterköxfe.

gelegt hatte, fällte er über die Lehre des Ministers und Philosophen jenes
scharfe Urteil: "Diese Gedanken sind Glaube und nicht Überzeugung, ein Ver¬
mächtnis der Tradition und nicht eine Errungenschaft der Wissenschaft; als
Wissenschaft kann der Spiritualismus nicht gelten." Und über des Meisters
Jünger, die Jouffroy, Jules Simon, Saisfet und Caro, fügte er nicht minder
keck hinzu: "Die Nachfolger des Lehrers haben nichts zum Spiritualismus
beigetragen. Wenn sie an dem gemeinschaftlichen Werke mitgewirkt haben, so
geschah es durch Einschränkungen und Ausmerzungen. In ihren Händen ist
der Eklektizismus oder Spiritualismus immer weniger philosophisch und immer
korrekter geworden. Heute ist er vollkommen -- für die Klassen der Lyceen
und Gymnasien, als Musterprobe philosophischer Beredsamkeit und Katheder¬
weisheit. Sein jetziger Zustand ist der eines schönen, wohlgckleidetcu und sorg¬
sam einbalsamirten Leichnams." Diese Sprache erklärt allerdings die Hintan¬
setzungen, die sich Taine vonseiten der Direktion der Universität hatte gefallen
lassen müssen, und seinen gewichtigen Entschluß, der Universität den Rücken zu
kehren, um sich nicht zum Werkzeuge und Diener des staatlichen philosophischen
Dogmas, zum resignirten ministör vordi -- Oousini hergeben zu müssen. Ironisch
hat Taine den spätern Auflagen des Buches den Titel vorgesetzt: "Die klassischen
Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts," um eben den schulmeisterlichen, un¬
wissenschaftlichen Charakter des Spiritualismus zu kennzeichnen.

Taines Leben lind Thätigkeit teilte sich in diesen Jahren in literarische
und philosophische Studie" und den freundschaftlichen Verkehr mit einer Reihe
von jungen Leuten, die, allen Wissenschaften angehörend, im lateinischen
Viertel von Paris über alle möglichen Fragen aus allen erdenklichen Gebieten
menschlichen Wissens und menschlicher Forschung disputirten und denen unser
Philosoph eine große Zahl fruchtbarer Anregungen zu verdanken erklärt, in
die Mitwirkung an einigen Zeitschriften und in mehrfache Reisen inner- und
außerhalb Frankreichs. 1855 erschien seine Reisebeschreibung nach den Pyrenäen,
1857 die erste Serie seiner kritischen und historischen Essays, 1860 gab er eine
Umarbeitung und Erweiterung seiner Doktordissertation über Lafontaine heraus.

Aber trotz des großen unleugbaren Erfolges, welchen diese Arbeiten bei
ihren Lesern fanden, hat doch keine seinen Namen derart in den Vordergrund
gestellt wie seine mich in deutscher Übersetzung erschienene große "Geschichte der
englischen Literatur," die er nach einen, Aufenthalte in England ausgearbeitet
und in der er zum erstenmale Gelegenheit gefunden hatte, seine philosophische
Methode, das Leben und Schaffen der Geister und Völker im Zusammenhange
zu analysiren und zu erfassen, Charakter und Eigenheiten derselben zu erklären
und darzustellen, in umfassender Weise darzulegen. Die Kommission der fran¬
zösische" Akademie, welche die für die literarischen Preisbewerbungen zuzulassenden
Schriften zu bezeichnen hatte, schlug einmütig dieses Werk zur Auszeichnung
vor; aber die gelehrte Körperschaft der Unsterblichen im Mazarinpalaste schrak


Französische Lharakterköxfe.

gelegt hatte, fällte er über die Lehre des Ministers und Philosophen jenes
scharfe Urteil: „Diese Gedanken sind Glaube und nicht Überzeugung, ein Ver¬
mächtnis der Tradition und nicht eine Errungenschaft der Wissenschaft; als
Wissenschaft kann der Spiritualismus nicht gelten." Und über des Meisters
Jünger, die Jouffroy, Jules Simon, Saisfet und Caro, fügte er nicht minder
keck hinzu: „Die Nachfolger des Lehrers haben nichts zum Spiritualismus
beigetragen. Wenn sie an dem gemeinschaftlichen Werke mitgewirkt haben, so
geschah es durch Einschränkungen und Ausmerzungen. In ihren Händen ist
der Eklektizismus oder Spiritualismus immer weniger philosophisch und immer
korrekter geworden. Heute ist er vollkommen — für die Klassen der Lyceen
und Gymnasien, als Musterprobe philosophischer Beredsamkeit und Katheder¬
weisheit. Sein jetziger Zustand ist der eines schönen, wohlgckleidetcu und sorg¬
sam einbalsamirten Leichnams." Diese Sprache erklärt allerdings die Hintan¬
setzungen, die sich Taine vonseiten der Direktion der Universität hatte gefallen
lassen müssen, und seinen gewichtigen Entschluß, der Universität den Rücken zu
kehren, um sich nicht zum Werkzeuge und Diener des staatlichen philosophischen
Dogmas, zum resignirten ministör vordi — Oousini hergeben zu müssen. Ironisch
hat Taine den spätern Auflagen des Buches den Titel vorgesetzt: „Die klassischen
Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts," um eben den schulmeisterlichen, un¬
wissenschaftlichen Charakter des Spiritualismus zu kennzeichnen.

Taines Leben lind Thätigkeit teilte sich in diesen Jahren in literarische
und philosophische Studie» und den freundschaftlichen Verkehr mit einer Reihe
von jungen Leuten, die, allen Wissenschaften angehörend, im lateinischen
Viertel von Paris über alle möglichen Fragen aus allen erdenklichen Gebieten
menschlichen Wissens und menschlicher Forschung disputirten und denen unser
Philosoph eine große Zahl fruchtbarer Anregungen zu verdanken erklärt, in
die Mitwirkung an einigen Zeitschriften und in mehrfache Reisen inner- und
außerhalb Frankreichs. 1855 erschien seine Reisebeschreibung nach den Pyrenäen,
1857 die erste Serie seiner kritischen und historischen Essays, 1860 gab er eine
Umarbeitung und Erweiterung seiner Doktordissertation über Lafontaine heraus.

Aber trotz des großen unleugbaren Erfolges, welchen diese Arbeiten bei
ihren Lesern fanden, hat doch keine seinen Namen derart in den Vordergrund
gestellt wie seine mich in deutscher Übersetzung erschienene große „Geschichte der
englischen Literatur," die er nach einen, Aufenthalte in England ausgearbeitet
und in der er zum erstenmale Gelegenheit gefunden hatte, seine philosophische
Methode, das Leben und Schaffen der Geister und Völker im Zusammenhange
zu analysiren und zu erfassen, Charakter und Eigenheiten derselben zu erklären
und darzustellen, in umfassender Weise darzulegen. Die Kommission der fran¬
zösische» Akademie, welche die für die literarischen Preisbewerbungen zuzulassenden
Schriften zu bezeichnen hatte, schlug einmütig dieses Werk zur Auszeichnung
vor; aber die gelehrte Körperschaft der Unsterblichen im Mazarinpalaste schrak


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[0235] Französische Lharakterköxfe. gelegt hatte, fällte er über die Lehre des Ministers und Philosophen jenes scharfe Urteil: „Diese Gedanken sind Glaube und nicht Überzeugung, ein Ver¬ mächtnis der Tradition und nicht eine Errungenschaft der Wissenschaft; als Wissenschaft kann der Spiritualismus nicht gelten." Und über des Meisters Jünger, die Jouffroy, Jules Simon, Saisfet und Caro, fügte er nicht minder keck hinzu: „Die Nachfolger des Lehrers haben nichts zum Spiritualismus beigetragen. Wenn sie an dem gemeinschaftlichen Werke mitgewirkt haben, so geschah es durch Einschränkungen und Ausmerzungen. In ihren Händen ist der Eklektizismus oder Spiritualismus immer weniger philosophisch und immer korrekter geworden. Heute ist er vollkommen — für die Klassen der Lyceen und Gymnasien, als Musterprobe philosophischer Beredsamkeit und Katheder¬ weisheit. Sein jetziger Zustand ist der eines schönen, wohlgckleidetcu und sorg¬ sam einbalsamirten Leichnams." Diese Sprache erklärt allerdings die Hintan¬ setzungen, die sich Taine vonseiten der Direktion der Universität hatte gefallen lassen müssen, und seinen gewichtigen Entschluß, der Universität den Rücken zu kehren, um sich nicht zum Werkzeuge und Diener des staatlichen philosophischen Dogmas, zum resignirten ministör vordi — Oousini hergeben zu müssen. Ironisch hat Taine den spätern Auflagen des Buches den Titel vorgesetzt: „Die klassischen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts," um eben den schulmeisterlichen, un¬ wissenschaftlichen Charakter des Spiritualismus zu kennzeichnen. Taines Leben lind Thätigkeit teilte sich in diesen Jahren in literarische und philosophische Studie» und den freundschaftlichen Verkehr mit einer Reihe von jungen Leuten, die, allen Wissenschaften angehörend, im lateinischen Viertel von Paris über alle möglichen Fragen aus allen erdenklichen Gebieten menschlichen Wissens und menschlicher Forschung disputirten und denen unser Philosoph eine große Zahl fruchtbarer Anregungen zu verdanken erklärt, in die Mitwirkung an einigen Zeitschriften und in mehrfache Reisen inner- und außerhalb Frankreichs. 1855 erschien seine Reisebeschreibung nach den Pyrenäen, 1857 die erste Serie seiner kritischen und historischen Essays, 1860 gab er eine Umarbeitung und Erweiterung seiner Doktordissertation über Lafontaine heraus. Aber trotz des großen unleugbaren Erfolges, welchen diese Arbeiten bei ihren Lesern fanden, hat doch keine seinen Namen derart in den Vordergrund gestellt wie seine mich in deutscher Übersetzung erschienene große „Geschichte der englischen Literatur," die er nach einen, Aufenthalte in England ausgearbeitet und in der er zum erstenmale Gelegenheit gefunden hatte, seine philosophische Methode, das Leben und Schaffen der Geister und Völker im Zusammenhange zu analysiren und zu erfassen, Charakter und Eigenheiten derselben zu erklären und darzustellen, in umfassender Weise darzulegen. Die Kommission der fran¬ zösische» Akademie, welche die für die literarischen Preisbewerbungen zuzulassenden Schriften zu bezeichnen hatte, schlug einmütig dieses Werk zur Auszeichnung vor; aber die gelehrte Körperschaft der Unsterblichen im Mazarinpalaste schrak

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/235>, abgerufen am 01.10.2024.