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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche?/ romanisches und preußisches Königtum.

Gegensätze verschärft, entlud er sich furchtbar in dem hundertjährigen Erbfolge¬
kriege. Durch eine neue Dynastie in verhängnisvoller Verblendung den be¬
währten Grundlagen seiner Existenz entfremdet, that das französische Königtum
einen tiefen Fall, und mit seinen Armeen zugleich wurde das alte Frankreich
in Trummer geschlagen. In brudernwrderischem Kampfe kehrten sich die natio¬
nalen, sozialen und wirtschaftlichen Elemente Frankreichs wider einander; das
nationale Dasein des französischen Volles stand ans dem Spiele. Erst mit
dem Auftreten der Jungfrau von Orleans erfolgte die rettende Krisis: von dem
Glänze des Wunders umstrahlt, entsprang sie doch nur der verzweifelten Selbst¬
hilfe einer Nation, welche den Glauben an ihren Bestand erst mit dem letzten
Atemzuge aufgeben konnte.

Und da sammeln sich nun die versprengten Neste des Volkes, das, durch
Verrat und Bürgerkrieg zerrissen, durch sittliche Verwilderung und politische
Niedertracht zu Grunde gerichtet, dem Untergänge geweiht schien, in gläubiger
Begeisterung um das, was von dem alten Frankreich allein noch übrig war,
den dürftigen Schatten des nationalen Königtums, obgleich dieses sich darstellte
in dem unkvniglichen Karl VII. In einer Zeit, wo auch die entartete Kirche
der verzweifeltem Nation nichts zu bieten vermochte, entstand in dem von der
Jungfran begründetem Kultus des Königtums gleichsam eine neue Religion:
sie gab dein zerfallenden französischen Staate deu rettenden Halt, dem Volte
den Glauben an eine bessere Zukunft und damit die Kraft zur Ertnmpsung
derselben.

Um aber das Palladium der wiedergebornen Nation zu bleiben, mußte das
Königtum mit einem neuen Inhalte erfüllt werden. Die Feudalität war in den
Schrecken des englischen Krieges elend zusammengebrochen oder hatte durch
Hochverrat ihr Recht verwirkt. Der Adel hatte uicht bloß politisch, sondern
anch moralisch Bankerott gemacht; was Frankreichs Bürger und Bauern unter
der ans ihrer Mitte erstcmdnen Heldin begonnen, konnte nur mit Bürgern und
Bauern zu Ende geführt werden. Mit einer neuen sozialen Ordnung trat eine
neue Staatsordnung in das Leben und an deren Spitze ein neues Königtum.

Ganz anders in Deutschlnud.

Seine zentrale Lage und der internationale Charakter seines Reiches ließen
das deutsche Volk des Gegensatzes zu deu rudern Böllern sich viel zu wenig
bewußt werden, und uicht zu seinem Glücke ist ihm damals der Kampf nur die
Existenz erspart geblieben, als die deutschen Heere schmachvoll den böhmischen
Ketzern erlagen, welche das Banner der kirchlichen und der sozialen Revolution
siegreich bis an die preußische Küste trugen. Unabwendbar schien die Katastrophe
des Reiches, dessen Träger, Fürsten und Ritter, ruhmlos niedergeschlagen waren.
Hier aber sah der gemeine Mann dem mit Schadenfreude zu, längst gewöhnt,
sei" Interesse dem der herrschenden Stände entgegenzusetzen. Die Versuche
zur Reform des Reiches aber, die unter dem Eindruck des Hussitenschrcckcus


Deutsche?/ romanisches und preußisches Königtum.

Gegensätze verschärft, entlud er sich furchtbar in dem hundertjährigen Erbfolge¬
kriege. Durch eine neue Dynastie in verhängnisvoller Verblendung den be¬
währten Grundlagen seiner Existenz entfremdet, that das französische Königtum
einen tiefen Fall, und mit seinen Armeen zugleich wurde das alte Frankreich
in Trummer geschlagen. In brudernwrderischem Kampfe kehrten sich die natio¬
nalen, sozialen und wirtschaftlichen Elemente Frankreichs wider einander; das
nationale Dasein des französischen Volles stand ans dem Spiele. Erst mit
dem Auftreten der Jungfrau von Orleans erfolgte die rettende Krisis: von dem
Glänze des Wunders umstrahlt, entsprang sie doch nur der verzweifelten Selbst¬
hilfe einer Nation, welche den Glauben an ihren Bestand erst mit dem letzten
Atemzuge aufgeben konnte.

Und da sammeln sich nun die versprengten Neste des Volkes, das, durch
Verrat und Bürgerkrieg zerrissen, durch sittliche Verwilderung und politische
Niedertracht zu Grunde gerichtet, dem Untergänge geweiht schien, in gläubiger
Begeisterung um das, was von dem alten Frankreich allein noch übrig war,
den dürftigen Schatten des nationalen Königtums, obgleich dieses sich darstellte
in dem unkvniglichen Karl VII. In einer Zeit, wo auch die entartete Kirche
der verzweifeltem Nation nichts zu bieten vermochte, entstand in dem von der
Jungfran begründetem Kultus des Königtums gleichsam eine neue Religion:
sie gab dein zerfallenden französischen Staate deu rettenden Halt, dem Volte
den Glauben an eine bessere Zukunft und damit die Kraft zur Ertnmpsung
derselben.

Um aber das Palladium der wiedergebornen Nation zu bleiben, mußte das
Königtum mit einem neuen Inhalte erfüllt werden. Die Feudalität war in den
Schrecken des englischen Krieges elend zusammengebrochen oder hatte durch
Hochverrat ihr Recht verwirkt. Der Adel hatte uicht bloß politisch, sondern
anch moralisch Bankerott gemacht; was Frankreichs Bürger und Bauern unter
der ans ihrer Mitte erstcmdnen Heldin begonnen, konnte nur mit Bürgern und
Bauern zu Ende geführt werden. Mit einer neuen sozialen Ordnung trat eine
neue Staatsordnung in das Leben und an deren Spitze ein neues Königtum.

Ganz anders in Deutschlnud.

Seine zentrale Lage und der internationale Charakter seines Reiches ließen
das deutsche Volk des Gegensatzes zu deu rudern Böllern sich viel zu wenig
bewußt werden, und uicht zu seinem Glücke ist ihm damals der Kampf nur die
Existenz erspart geblieben, als die deutschen Heere schmachvoll den böhmischen
Ketzern erlagen, welche das Banner der kirchlichen und der sozialen Revolution
siegreich bis an die preußische Küste trugen. Unabwendbar schien die Katastrophe
des Reiches, dessen Träger, Fürsten und Ritter, ruhmlos niedergeschlagen waren.
Hier aber sah der gemeine Mann dem mit Schadenfreude zu, längst gewöhnt,
sei» Interesse dem der herrschenden Stände entgegenzusetzen. Die Versuche
zur Reform des Reiches aber, die unter dem Eindruck des Hussitenschrcckcus


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[0215] Deutsche?/ romanisches und preußisches Königtum. Gegensätze verschärft, entlud er sich furchtbar in dem hundertjährigen Erbfolge¬ kriege. Durch eine neue Dynastie in verhängnisvoller Verblendung den be¬ währten Grundlagen seiner Existenz entfremdet, that das französische Königtum einen tiefen Fall, und mit seinen Armeen zugleich wurde das alte Frankreich in Trummer geschlagen. In brudernwrderischem Kampfe kehrten sich die natio¬ nalen, sozialen und wirtschaftlichen Elemente Frankreichs wider einander; das nationale Dasein des französischen Volles stand ans dem Spiele. Erst mit dem Auftreten der Jungfrau von Orleans erfolgte die rettende Krisis: von dem Glänze des Wunders umstrahlt, entsprang sie doch nur der verzweifelten Selbst¬ hilfe einer Nation, welche den Glauben an ihren Bestand erst mit dem letzten Atemzuge aufgeben konnte. Und da sammeln sich nun die versprengten Neste des Volkes, das, durch Verrat und Bürgerkrieg zerrissen, durch sittliche Verwilderung und politische Niedertracht zu Grunde gerichtet, dem Untergänge geweiht schien, in gläubiger Begeisterung um das, was von dem alten Frankreich allein noch übrig war, den dürftigen Schatten des nationalen Königtums, obgleich dieses sich darstellte in dem unkvniglichen Karl VII. In einer Zeit, wo auch die entartete Kirche der verzweifeltem Nation nichts zu bieten vermochte, entstand in dem von der Jungfran begründetem Kultus des Königtums gleichsam eine neue Religion: sie gab dein zerfallenden französischen Staate deu rettenden Halt, dem Volte den Glauben an eine bessere Zukunft und damit die Kraft zur Ertnmpsung derselben. Um aber das Palladium der wiedergebornen Nation zu bleiben, mußte das Königtum mit einem neuen Inhalte erfüllt werden. Die Feudalität war in den Schrecken des englischen Krieges elend zusammengebrochen oder hatte durch Hochverrat ihr Recht verwirkt. Der Adel hatte uicht bloß politisch, sondern anch moralisch Bankerott gemacht; was Frankreichs Bürger und Bauern unter der ans ihrer Mitte erstcmdnen Heldin begonnen, konnte nur mit Bürgern und Bauern zu Ende geführt werden. Mit einer neuen sozialen Ordnung trat eine neue Staatsordnung in das Leben und an deren Spitze ein neues Königtum. Ganz anders in Deutschlnud. Seine zentrale Lage und der internationale Charakter seines Reiches ließen das deutsche Volk des Gegensatzes zu deu rudern Böllern sich viel zu wenig bewußt werden, und uicht zu seinem Glücke ist ihm damals der Kampf nur die Existenz erspart geblieben, als die deutschen Heere schmachvoll den böhmischen Ketzern erlagen, welche das Banner der kirchlichen und der sozialen Revolution siegreich bis an die preußische Küste trugen. Unabwendbar schien die Katastrophe des Reiches, dessen Träger, Fürsten und Ritter, ruhmlos niedergeschlagen waren. Hier aber sah der gemeine Mann dem mit Schadenfreude zu, längst gewöhnt, sei» Interesse dem der herrschenden Stände entgegenzusetzen. Die Versuche zur Reform des Reiches aber, die unter dem Eindruck des Hussitenschrcckcus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/215>, abgerufen am 23.12.2024.