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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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lingischen Reiches gelöst hatte, in eine Anzahl selbständiger Staaten zu zer¬
fallen. Aber so ohnmächtig das Königtum war, in den Augen der Franzosen
hatte die Huldigung, welche die Großen dem Könige leisteten, eine ideelle Be¬
deutung, die ihr allmählich auch eine politische verlieh. Deal die kirchliche
Salbung und Krönung begründeten für den König gewisse Vorzüge und Aus¬
zeichnungen: als "Gesalbter des Herrn" stand er auch über den ihm an Besitz
nud Macht überlegenen Großen. Dies legte diesen eine Art moralischer Fessel
an: die politische Selbstsucht wurde durch die Ehrfurcht gezügelt. Denn wer
gegen den "Gesalbten des Herrn" zum Schwert ergriff, rief die Strafe des
Himmels auf sich herab, und die Rebellion gegen den König enthielt den Bruch
der Treue gegen deu eignen Herrn. So wohnte dein französischen Kvnigtume
eine moralische Autorität bei, welche dein Lehnsvcrbaude einen in den Sitten¬
gesetzen wurzelnden Halt gab: in dem Könige ehrten alle den obersten Hüter
der Lehustreue, des Prinzips, auf dem die staatliche, die gesellschaftliche, die
sittliche Ordnung beruhte.

Von dieser mehr ideellen und moralischen als politischen Autorität ans
haben die Karolinger allmählich wirkliche Herrscherrechte erworben. Während
Deutschland Wahlreich wurde, kam Fraukreich zum Erbkönigtum, das ohne
Kampf nach einige" Menschenaltern allgemein anerkannt war. Bis in das
dreizehnte Jahrhundert war es Brauch, daß der König seinem erstgeborenen
Sohne die Nachfolge sicherte, indem er ihn zum Mitregenten nnuahm und als
solchen salben und krönen ließ. Dadurch kam das Wahlrecht der Großen all¬
mählich außer Übung; nur eine Erinnerung daran lebte in der Huldigung fort,
welche die Großen dem zum König erklärten Nachfolger leisteten. Zeitig und
mühelos kam Frankreich dadurch in den Besitz dessen, was Deutschland zu
seinem Unheil dauernd entbehren mußte, einer in der Schule lauger Erfahrung
gereiften Hauspolitik, die, mit den Verhältnissen verwachsen, auch mit denselben
wuchs und, weil sie in den der Dhuastie und der Nation gemeinsamen Inter¬
essen wurzelte, allmählich zur nationalen Politik wurde.

Noch aber war das französische Volk nicht herangereift zur Nation. Noch
fehlte ihm auch die soziale Entwicklung, welche das Königtum über deu Streit
der Stunde erhob und zu der ausgleichende" Vertretung der sozialen Interessen
aller machte.

Zur Nation entwickelt sich ein Volk nur im Gegensatze zu andern Völkern,
oft unter harter Bedrängnis von außen und tiefe" Erschütterungen im Innern;
im Kampfe um ihr Dasein entfalten sich die wahrhaft lebenskräftigen Na¬
tionalitäten. So hat das Ringen um die reichen Landschaften des Südens und
Westens, die um England gefallen waren, Menschenalter hindurch das Leben
des französischen Volkes ausgefüllt. Seitdem trennte die beiden Völker, die
auf einander angewiesen, aber doch nur bei gesonderten Dasein ihrer Zukunft
sicher waren, ein tiefer nationaler Haß; durch große soziale und wirtschaftliche


lingischen Reiches gelöst hatte, in eine Anzahl selbständiger Staaten zu zer¬
fallen. Aber so ohnmächtig das Königtum war, in den Augen der Franzosen
hatte die Huldigung, welche die Großen dem Könige leisteten, eine ideelle Be¬
deutung, die ihr allmählich auch eine politische verlieh. Deal die kirchliche
Salbung und Krönung begründeten für den König gewisse Vorzüge und Aus¬
zeichnungen: als „Gesalbter des Herrn" stand er auch über den ihm an Besitz
nud Macht überlegenen Großen. Dies legte diesen eine Art moralischer Fessel
an: die politische Selbstsucht wurde durch die Ehrfurcht gezügelt. Denn wer
gegen den „Gesalbten des Herrn" zum Schwert ergriff, rief die Strafe des
Himmels auf sich herab, und die Rebellion gegen den König enthielt den Bruch
der Treue gegen deu eignen Herrn. So wohnte dein französischen Kvnigtume
eine moralische Autorität bei, welche dein Lehnsvcrbaude einen in den Sitten¬
gesetzen wurzelnden Halt gab: in dem Könige ehrten alle den obersten Hüter
der Lehustreue, des Prinzips, auf dem die staatliche, die gesellschaftliche, die
sittliche Ordnung beruhte.

Von dieser mehr ideellen und moralischen als politischen Autorität ans
haben die Karolinger allmählich wirkliche Herrscherrechte erworben. Während
Deutschland Wahlreich wurde, kam Fraukreich zum Erbkönigtum, das ohne
Kampf nach einige» Menschenaltern allgemein anerkannt war. Bis in das
dreizehnte Jahrhundert war es Brauch, daß der König seinem erstgeborenen
Sohne die Nachfolge sicherte, indem er ihn zum Mitregenten nnuahm und als
solchen salben und krönen ließ. Dadurch kam das Wahlrecht der Großen all¬
mählich außer Übung; nur eine Erinnerung daran lebte in der Huldigung fort,
welche die Großen dem zum König erklärten Nachfolger leisteten. Zeitig und
mühelos kam Frankreich dadurch in den Besitz dessen, was Deutschland zu
seinem Unheil dauernd entbehren mußte, einer in der Schule lauger Erfahrung
gereiften Hauspolitik, die, mit den Verhältnissen verwachsen, auch mit denselben
wuchs und, weil sie in den der Dhuastie und der Nation gemeinsamen Inter¬
essen wurzelte, allmählich zur nationalen Politik wurde.

Noch aber war das französische Volk nicht herangereift zur Nation. Noch
fehlte ihm auch die soziale Entwicklung, welche das Königtum über deu Streit
der Stunde erhob und zu der ausgleichende» Vertretung der sozialen Interessen
aller machte.

Zur Nation entwickelt sich ein Volk nur im Gegensatze zu andern Völkern,
oft unter harter Bedrängnis von außen und tiefe» Erschütterungen im Innern;
im Kampfe um ihr Dasein entfalten sich die wahrhaft lebenskräftigen Na¬
tionalitäten. So hat das Ringen um die reichen Landschaften des Südens und
Westens, die um England gefallen waren, Menschenalter hindurch das Leben
des französischen Volkes ausgefüllt. Seitdem trennte die beiden Völker, die
auf einander angewiesen, aber doch nur bei gesonderten Dasein ihrer Zukunft
sicher waren, ein tiefer nationaler Haß; durch große soziale und wirtschaftliche


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[0214] lingischen Reiches gelöst hatte, in eine Anzahl selbständiger Staaten zu zer¬ fallen. Aber so ohnmächtig das Königtum war, in den Augen der Franzosen hatte die Huldigung, welche die Großen dem Könige leisteten, eine ideelle Be¬ deutung, die ihr allmählich auch eine politische verlieh. Deal die kirchliche Salbung und Krönung begründeten für den König gewisse Vorzüge und Aus¬ zeichnungen: als „Gesalbter des Herrn" stand er auch über den ihm an Besitz nud Macht überlegenen Großen. Dies legte diesen eine Art moralischer Fessel an: die politische Selbstsucht wurde durch die Ehrfurcht gezügelt. Denn wer gegen den „Gesalbten des Herrn" zum Schwert ergriff, rief die Strafe des Himmels auf sich herab, und die Rebellion gegen den König enthielt den Bruch der Treue gegen deu eignen Herrn. So wohnte dein französischen Kvnigtume eine moralische Autorität bei, welche dein Lehnsvcrbaude einen in den Sitten¬ gesetzen wurzelnden Halt gab: in dem Könige ehrten alle den obersten Hüter der Lehustreue, des Prinzips, auf dem die staatliche, die gesellschaftliche, die sittliche Ordnung beruhte. Von dieser mehr ideellen und moralischen als politischen Autorität ans haben die Karolinger allmählich wirkliche Herrscherrechte erworben. Während Deutschland Wahlreich wurde, kam Fraukreich zum Erbkönigtum, das ohne Kampf nach einige» Menschenaltern allgemein anerkannt war. Bis in das dreizehnte Jahrhundert war es Brauch, daß der König seinem erstgeborenen Sohne die Nachfolge sicherte, indem er ihn zum Mitregenten nnuahm und als solchen salben und krönen ließ. Dadurch kam das Wahlrecht der Großen all¬ mählich außer Übung; nur eine Erinnerung daran lebte in der Huldigung fort, welche die Großen dem zum König erklärten Nachfolger leisteten. Zeitig und mühelos kam Frankreich dadurch in den Besitz dessen, was Deutschland zu seinem Unheil dauernd entbehren mußte, einer in der Schule lauger Erfahrung gereiften Hauspolitik, die, mit den Verhältnissen verwachsen, auch mit denselben wuchs und, weil sie in den der Dhuastie und der Nation gemeinsamen Inter¬ essen wurzelte, allmählich zur nationalen Politik wurde. Noch aber war das französische Volk nicht herangereift zur Nation. Noch fehlte ihm auch die soziale Entwicklung, welche das Königtum über deu Streit der Stunde erhob und zu der ausgleichende» Vertretung der sozialen Interessen aller machte. Zur Nation entwickelt sich ein Volk nur im Gegensatze zu andern Völkern, oft unter harter Bedrängnis von außen und tiefe» Erschütterungen im Innern; im Kampfe um ihr Dasein entfalten sich die wahrhaft lebenskräftigen Na¬ tionalitäten. So hat das Ringen um die reichen Landschaften des Südens und Westens, die um England gefallen waren, Menschenalter hindurch das Leben des französischen Volkes ausgefüllt. Seitdem trennte die beiden Völker, die auf einander angewiesen, aber doch nur bei gesonderten Dasein ihrer Zukunft sicher waren, ein tiefer nationaler Haß; durch große soziale und wirtschaftliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/214>, abgerufen am 03.07.2024.