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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Goethe als Pädagog,

"Wilhelm Meister" als ihren Ausgangspunkt. In der Fortsetzung der "Lehr¬
jahre" hat sich Goethe auch äußerlich den Erziehungsromanen angereiht, die
weit über Rousseau zurück auf arabische und antike Vorbilder hinweisen. Während
aber in den "Lehrjahren" es sich mir um die Erziehung des Individuums als
Souderwescn handelt, tritt in den "Wanderjahren" der Hinblick auf den Staat
erweiternd hinzu: soziale Probleme durchschlugen sich mit reinpädagogischen.
Und dabei "durchschaut der Dichter scharf die schwerste sittliche Gefahr, welche
dem heranwachsenden Geschlechte drohte, wenn er die Erziehung zur Ehrfurcht
seiner pädagogischen Provinz zur Aufgabe stellte" (v. Treitschke, Deutsche Ge¬
schichte III,' 634).

sind es auch nur leicht stizzirende Andeutungen, mit welchen ich das
Vorwalten der pädagogischen Tendenzen im achtzehnten Jahrhundert und ihre
bedeutende Stellung in Goethes Leben und Schriften in solcher Weise zu
charakterisiren suche, ich hoffe doch, diese Andeutungen werden genügen, um etwa
vorhandnc Bedenken gegen ein Buch, das sich die Darstellung von "Goethes
Pädagogik" zur Aufgabe gestellt hat, zurückzuweisen. Die Engländer haben
längst Shakespeares Werke "ach allen Seiten hin durchforscht, um Shakespeares
medizinische und juristische Kenntnisse, seine Ansichten über Schule und Geschichte,
sein philologisches, botanisches, nautisches Wissen u. s. w. zusammenzustellen.
Kein Zweifel, daß ihr Forschen der strengen Objektivität des Dramatikers
gegenüber zu weit gegangen ist. Wir Deutsche dagegen fangen erst an, Goethes
Viel- oder richtiger eigentlich Allseitigkeit zu würdigen. Und wenn wir forschen,
welche Anschauungen Goethe über diesen oder jenen Zweig der menschlichen
Lebensthätigkeit sich gebildet habe, so giebt uns sein unendlich mannichfaltiges
Sichaussprechen in Poesie und Prosa, in Sentenzen und Briefen, wissenschaftlichen
Abhandlungen und Tagebüchern dazu eine ganz andre Berechtigung, als sie die
Werke des sich fast niemals in eigner Person aussprechenden ältern Dramatikers
bieten. So viel auch über Goethe geschrieben worden ist, wir sind im allgemeinen
noch keineswegs zu einer vollkommenen Würdigung seiner Thätigkeit und Bildung
im einzelnen wie seines unvergleichlichen Gesamtwirkens gelangt. Von diesem
Mangel legt in manchen Einzelheiten auch die vorliegende tüchtige Arbeit wieder
Zeugnis ab/') So behauptet Langguth, Goethe habe für die Philosophie kein Organ
gehabt (S. 20), und wirft ihm (S. 256) Mangel an historischem Sinn vor. Gegen
die erstere Behauptung würden wohl Herder, Schiller, Fichte und Jacobi, Schelling,
Hegel und Schopenhauer, so wenig sie sonst miteinander übereinstimmen, ein¬
stimmig Widerspruch erheben. Sie alle haben zu verschiedenen malen Goethes
philosophischen Sinn bewundert. Goethe war kein zünftiger Philosoph und wollte
keiner sein, obwohl ein so eifriger Leser des morv gsowstrivo beweisenden
Spinoza auch für die formale Seite der Philosophie nicht gleichgiltig ge-



<°) Goethes Ptidagogik, historisch-kritisch dargestellt von Ad. Langguth. Halle a. S.,
Max Niemeyer, 1W6. VIII und :!üO S.
Goethe als Pädagog,

„Wilhelm Meister" als ihren Ausgangspunkt. In der Fortsetzung der „Lehr¬
jahre" hat sich Goethe auch äußerlich den Erziehungsromanen angereiht, die
weit über Rousseau zurück auf arabische und antike Vorbilder hinweisen. Während
aber in den „Lehrjahren" es sich mir um die Erziehung des Individuums als
Souderwescn handelt, tritt in den „Wanderjahren" der Hinblick auf den Staat
erweiternd hinzu: soziale Probleme durchschlugen sich mit reinpädagogischen.
Und dabei „durchschaut der Dichter scharf die schwerste sittliche Gefahr, welche
dem heranwachsenden Geschlechte drohte, wenn er die Erziehung zur Ehrfurcht
seiner pädagogischen Provinz zur Aufgabe stellte" (v. Treitschke, Deutsche Ge¬
schichte III,' 634).

sind es auch nur leicht stizzirende Andeutungen, mit welchen ich das
Vorwalten der pädagogischen Tendenzen im achtzehnten Jahrhundert und ihre
bedeutende Stellung in Goethes Leben und Schriften in solcher Weise zu
charakterisiren suche, ich hoffe doch, diese Andeutungen werden genügen, um etwa
vorhandnc Bedenken gegen ein Buch, das sich die Darstellung von „Goethes
Pädagogik" zur Aufgabe gestellt hat, zurückzuweisen. Die Engländer haben
längst Shakespeares Werke »ach allen Seiten hin durchforscht, um Shakespeares
medizinische und juristische Kenntnisse, seine Ansichten über Schule und Geschichte,
sein philologisches, botanisches, nautisches Wissen u. s. w. zusammenzustellen.
Kein Zweifel, daß ihr Forschen der strengen Objektivität des Dramatikers
gegenüber zu weit gegangen ist. Wir Deutsche dagegen fangen erst an, Goethes
Viel- oder richtiger eigentlich Allseitigkeit zu würdigen. Und wenn wir forschen,
welche Anschauungen Goethe über diesen oder jenen Zweig der menschlichen
Lebensthätigkeit sich gebildet habe, so giebt uns sein unendlich mannichfaltiges
Sichaussprechen in Poesie und Prosa, in Sentenzen und Briefen, wissenschaftlichen
Abhandlungen und Tagebüchern dazu eine ganz andre Berechtigung, als sie die
Werke des sich fast niemals in eigner Person aussprechenden ältern Dramatikers
bieten. So viel auch über Goethe geschrieben worden ist, wir sind im allgemeinen
noch keineswegs zu einer vollkommenen Würdigung seiner Thätigkeit und Bildung
im einzelnen wie seines unvergleichlichen Gesamtwirkens gelangt. Von diesem
Mangel legt in manchen Einzelheiten auch die vorliegende tüchtige Arbeit wieder
Zeugnis ab/') So behauptet Langguth, Goethe habe für die Philosophie kein Organ
gehabt (S. 20), und wirft ihm (S. 256) Mangel an historischem Sinn vor. Gegen
die erstere Behauptung würden wohl Herder, Schiller, Fichte und Jacobi, Schelling,
Hegel und Schopenhauer, so wenig sie sonst miteinander übereinstimmen, ein¬
stimmig Widerspruch erheben. Sie alle haben zu verschiedenen malen Goethes
philosophischen Sinn bewundert. Goethe war kein zünftiger Philosoph und wollte
keiner sein, obwohl ein so eifriger Leser des morv gsowstrivo beweisenden
Spinoza auch für die formale Seite der Philosophie nicht gleichgiltig ge-



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[0182] Goethe als Pädagog, „Wilhelm Meister" als ihren Ausgangspunkt. In der Fortsetzung der „Lehr¬ jahre" hat sich Goethe auch äußerlich den Erziehungsromanen angereiht, die weit über Rousseau zurück auf arabische und antike Vorbilder hinweisen. Während aber in den „Lehrjahren" es sich mir um die Erziehung des Individuums als Souderwescn handelt, tritt in den „Wanderjahren" der Hinblick auf den Staat erweiternd hinzu: soziale Probleme durchschlugen sich mit reinpädagogischen. Und dabei „durchschaut der Dichter scharf die schwerste sittliche Gefahr, welche dem heranwachsenden Geschlechte drohte, wenn er die Erziehung zur Ehrfurcht seiner pädagogischen Provinz zur Aufgabe stellte" (v. Treitschke, Deutsche Ge¬ schichte III,' 634). sind es auch nur leicht stizzirende Andeutungen, mit welchen ich das Vorwalten der pädagogischen Tendenzen im achtzehnten Jahrhundert und ihre bedeutende Stellung in Goethes Leben und Schriften in solcher Weise zu charakterisiren suche, ich hoffe doch, diese Andeutungen werden genügen, um etwa vorhandnc Bedenken gegen ein Buch, das sich die Darstellung von „Goethes Pädagogik" zur Aufgabe gestellt hat, zurückzuweisen. Die Engländer haben längst Shakespeares Werke »ach allen Seiten hin durchforscht, um Shakespeares medizinische und juristische Kenntnisse, seine Ansichten über Schule und Geschichte, sein philologisches, botanisches, nautisches Wissen u. s. w. zusammenzustellen. Kein Zweifel, daß ihr Forschen der strengen Objektivität des Dramatikers gegenüber zu weit gegangen ist. Wir Deutsche dagegen fangen erst an, Goethes Viel- oder richtiger eigentlich Allseitigkeit zu würdigen. Und wenn wir forschen, welche Anschauungen Goethe über diesen oder jenen Zweig der menschlichen Lebensthätigkeit sich gebildet habe, so giebt uns sein unendlich mannichfaltiges Sichaussprechen in Poesie und Prosa, in Sentenzen und Briefen, wissenschaftlichen Abhandlungen und Tagebüchern dazu eine ganz andre Berechtigung, als sie die Werke des sich fast niemals in eigner Person aussprechenden ältern Dramatikers bieten. So viel auch über Goethe geschrieben worden ist, wir sind im allgemeinen noch keineswegs zu einer vollkommenen Würdigung seiner Thätigkeit und Bildung im einzelnen wie seines unvergleichlichen Gesamtwirkens gelangt. Von diesem Mangel legt in manchen Einzelheiten auch die vorliegende tüchtige Arbeit wieder Zeugnis ab/') So behauptet Langguth, Goethe habe für die Philosophie kein Organ gehabt (S. 20), und wirft ihm (S. 256) Mangel an historischem Sinn vor. Gegen die erstere Behauptung würden wohl Herder, Schiller, Fichte und Jacobi, Schelling, Hegel und Schopenhauer, so wenig sie sonst miteinander übereinstimmen, ein¬ stimmig Widerspruch erheben. Sie alle haben zu verschiedenen malen Goethes philosophischen Sinn bewundert. Goethe war kein zünftiger Philosoph und wollte keiner sein, obwohl ein so eifriger Leser des morv gsowstrivo beweisenden Spinoza auch für die formale Seite der Philosophie nicht gleichgiltig ge- <°) Goethes Ptidagogik, historisch-kritisch dargestellt von Ad. Langguth. Halle a. S., Max Niemeyer, 1W6. VIII und :!üO S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/182>, abgerufen am 03.07.2024.