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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gynuiasialunierricht und Fachbildung.

Der Wert der neuen Sprachen liegt indessen keineswegs allein in der
Fertigkeit im Sprechen. Auch für das wissenschaftliche Studium ist die Fähigkeit,
die einschlägige fremde Literatur kennen zu lernen, von hoher Bedeutung. Das
wird von den Verfechtern der klassischen Richtung vielfach übersehen. Es schreibt
niemand mehr lateinisch, selbst nicht in Ungarn. Die Zeiten, wo Leibniz und
Newton die Ergebnisse ihrer Forschungen in dieser toten Sprache mitteilten,
sind vorüber. Wer heutzutage seine Ansichten rasch über die Grenzen des
heimatlichen Sprachgebietes hinaus verbreiten will, wird das Französische oder
Englische wählen. Seitdem übrigens die Doktordissertationen deutsch verfaßt
werden dürfen, hat anch bei uns das Hinarbeiten auf einen lateinischen Aufsah
keinen Zweck mehr. Mit dem Preisgeben dieser frühern Forderung hat die
Universität selbst dem Studium des Lateinischen einen Stoß versetzt. Se. Marc-
Girardin äußerte einmal, von einem gebildeten Manne verlange man heutzm
tage uicht, daß er Lateinisch und Griechisch noch wisse, sondern daß er es ver¬
gessen habe. Diese Bemerkung, so paradox sie klingt, enthält viel Wahres. Das
Bewußtsein, etwas "einmal gekonnt zu haben," erscheint mir für viele Mit¬
glieder der gebildeten Gesellschaft mit dem jetzigen Zeitaufwande doch etwas zu
teuer bezahlt. Theologen, Sprachforscher und Archäologen aber, welche ihr
Beruf ans den steten Berkehr mit den alten Sprachen hinweist, Historiker und
Juristen, welche die erweiterten Kenntnisse des Lateinischen nicht entbehren
können, werden zur Fortführung ihres Ghmnasialstndinms sowohl in der
Selektn wie ans der Universität hinreichend Gelegenheit finden. Für das alt¬
sprachliche Gebiet wird also der Wegfall der jetzigen Prima nicht schwer ins
Gewicht fallen.

Bedenklicher könnte die Einbuße des Unterrichts im Deutschen und in der
Geschichte erscheinen. Der deutsche Aufsatz kann freilich ans der Universität
nicht mehr verfaßt weiden, und diejenigen, welche geneigt sind, ihn als den
Maßstab für Reife und Bildung anzusehen, werden die Pflege desselben,
die ihnen in der Prima zu Teil wird, für schwer entbehrlich halten. Ich
glaube, daß diese Wertschätzung doch nicht genügend begründet ist, und daß der
Wegfall des deutschen Primaanfsatzes dnrch die schriftlichen Arbeiten, welche die
Uuiversitätstentamina fordern würden, vollkommen ausgeglichen werden würde.
Ja ich gehe noch weiter und behaupte, daß die schriftliche Behandlung eines
bestimmten Lehrgebietes auch als Stilübung und als Maßstab für die Be¬
urteilung der Ausdrucksfähigleit geeigneter ist als die Aufstellung eines vagen
Themas, wie sie für Schulaufsätze üblich ist. Diese Aufsätze sind recht eigent¬
lich die Brutstätte des Phrascntums. Eigne Gedanken, ja auch nur eigne
Empfindungen werden sich umso seltener darin finden, als dem Alter des
Verfassers eine gewisse Scheu, mit seinem innerlichen ^eben hervorzutreten, eigen
ist. Nu der Hand des wenig bestimmten Themas wird er unbewußt auf das
Gebiet allgemeiner Redensarten, banaler Schlagworte und schönklingender, aber


Gynuiasialunierricht und Fachbildung.

Der Wert der neuen Sprachen liegt indessen keineswegs allein in der
Fertigkeit im Sprechen. Auch für das wissenschaftliche Studium ist die Fähigkeit,
die einschlägige fremde Literatur kennen zu lernen, von hoher Bedeutung. Das
wird von den Verfechtern der klassischen Richtung vielfach übersehen. Es schreibt
niemand mehr lateinisch, selbst nicht in Ungarn. Die Zeiten, wo Leibniz und
Newton die Ergebnisse ihrer Forschungen in dieser toten Sprache mitteilten,
sind vorüber. Wer heutzutage seine Ansichten rasch über die Grenzen des
heimatlichen Sprachgebietes hinaus verbreiten will, wird das Französische oder
Englische wählen. Seitdem übrigens die Doktordissertationen deutsch verfaßt
werden dürfen, hat anch bei uns das Hinarbeiten auf einen lateinischen Aufsah
keinen Zweck mehr. Mit dem Preisgeben dieser frühern Forderung hat die
Universität selbst dem Studium des Lateinischen einen Stoß versetzt. Se. Marc-
Girardin äußerte einmal, von einem gebildeten Manne verlange man heutzm
tage uicht, daß er Lateinisch und Griechisch noch wisse, sondern daß er es ver¬
gessen habe. Diese Bemerkung, so paradox sie klingt, enthält viel Wahres. Das
Bewußtsein, etwas „einmal gekonnt zu haben," erscheint mir für viele Mit¬
glieder der gebildeten Gesellschaft mit dem jetzigen Zeitaufwande doch etwas zu
teuer bezahlt. Theologen, Sprachforscher und Archäologen aber, welche ihr
Beruf ans den steten Berkehr mit den alten Sprachen hinweist, Historiker und
Juristen, welche die erweiterten Kenntnisse des Lateinischen nicht entbehren
können, werden zur Fortführung ihres Ghmnasialstndinms sowohl in der
Selektn wie ans der Universität hinreichend Gelegenheit finden. Für das alt¬
sprachliche Gebiet wird also der Wegfall der jetzigen Prima nicht schwer ins
Gewicht fallen.

Bedenklicher könnte die Einbuße des Unterrichts im Deutschen und in der
Geschichte erscheinen. Der deutsche Aufsatz kann freilich ans der Universität
nicht mehr verfaßt weiden, und diejenigen, welche geneigt sind, ihn als den
Maßstab für Reife und Bildung anzusehen, werden die Pflege desselben,
die ihnen in der Prima zu Teil wird, für schwer entbehrlich halten. Ich
glaube, daß diese Wertschätzung doch nicht genügend begründet ist, und daß der
Wegfall des deutschen Primaanfsatzes dnrch die schriftlichen Arbeiten, welche die
Uuiversitätstentamina fordern würden, vollkommen ausgeglichen werden würde.
Ja ich gehe noch weiter und behaupte, daß die schriftliche Behandlung eines
bestimmten Lehrgebietes auch als Stilübung und als Maßstab für die Be¬
urteilung der Ausdrucksfähigleit geeigneter ist als die Aufstellung eines vagen
Themas, wie sie für Schulaufsätze üblich ist. Diese Aufsätze sind recht eigent¬
lich die Brutstätte des Phrascntums. Eigne Gedanken, ja auch nur eigne
Empfindungen werden sich umso seltener darin finden, als dem Alter des
Verfassers eine gewisse Scheu, mit seinem innerlichen ^eben hervorzutreten, eigen
ist. Nu der Hand des wenig bestimmten Themas wird er unbewußt auf das
Gebiet allgemeiner Redensarten, banaler Schlagworte und schönklingender, aber


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[0175] Gynuiasialunierricht und Fachbildung. Der Wert der neuen Sprachen liegt indessen keineswegs allein in der Fertigkeit im Sprechen. Auch für das wissenschaftliche Studium ist die Fähigkeit, die einschlägige fremde Literatur kennen zu lernen, von hoher Bedeutung. Das wird von den Verfechtern der klassischen Richtung vielfach übersehen. Es schreibt niemand mehr lateinisch, selbst nicht in Ungarn. Die Zeiten, wo Leibniz und Newton die Ergebnisse ihrer Forschungen in dieser toten Sprache mitteilten, sind vorüber. Wer heutzutage seine Ansichten rasch über die Grenzen des heimatlichen Sprachgebietes hinaus verbreiten will, wird das Französische oder Englische wählen. Seitdem übrigens die Doktordissertationen deutsch verfaßt werden dürfen, hat anch bei uns das Hinarbeiten auf einen lateinischen Aufsah keinen Zweck mehr. Mit dem Preisgeben dieser frühern Forderung hat die Universität selbst dem Studium des Lateinischen einen Stoß versetzt. Se. Marc- Girardin äußerte einmal, von einem gebildeten Manne verlange man heutzm tage uicht, daß er Lateinisch und Griechisch noch wisse, sondern daß er es ver¬ gessen habe. Diese Bemerkung, so paradox sie klingt, enthält viel Wahres. Das Bewußtsein, etwas „einmal gekonnt zu haben," erscheint mir für viele Mit¬ glieder der gebildeten Gesellschaft mit dem jetzigen Zeitaufwande doch etwas zu teuer bezahlt. Theologen, Sprachforscher und Archäologen aber, welche ihr Beruf ans den steten Berkehr mit den alten Sprachen hinweist, Historiker und Juristen, welche die erweiterten Kenntnisse des Lateinischen nicht entbehren können, werden zur Fortführung ihres Ghmnasialstndinms sowohl in der Selektn wie ans der Universität hinreichend Gelegenheit finden. Für das alt¬ sprachliche Gebiet wird also der Wegfall der jetzigen Prima nicht schwer ins Gewicht fallen. Bedenklicher könnte die Einbuße des Unterrichts im Deutschen und in der Geschichte erscheinen. Der deutsche Aufsatz kann freilich ans der Universität nicht mehr verfaßt weiden, und diejenigen, welche geneigt sind, ihn als den Maßstab für Reife und Bildung anzusehen, werden die Pflege desselben, die ihnen in der Prima zu Teil wird, für schwer entbehrlich halten. Ich glaube, daß diese Wertschätzung doch nicht genügend begründet ist, und daß der Wegfall des deutschen Primaanfsatzes dnrch die schriftlichen Arbeiten, welche die Uuiversitätstentamina fordern würden, vollkommen ausgeglichen werden würde. Ja ich gehe noch weiter und behaupte, daß die schriftliche Behandlung eines bestimmten Lehrgebietes auch als Stilübung und als Maßstab für die Be¬ urteilung der Ausdrucksfähigleit geeigneter ist als die Aufstellung eines vagen Themas, wie sie für Schulaufsätze üblich ist. Diese Aufsätze sind recht eigent¬ lich die Brutstätte des Phrascntums. Eigne Gedanken, ja auch nur eigne Empfindungen werden sich umso seltener darin finden, als dem Alter des Verfassers eine gewisse Scheu, mit seinem innerlichen ^eben hervorzutreten, eigen ist. Nu der Hand des wenig bestimmten Themas wird er unbewußt auf das Gebiet allgemeiner Redensarten, banaler Schlagworte und schönklingender, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/175>, abgerufen am 03.07.2024.