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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht und Fachbildung.

tieferes Eingehe" in den Geist der klassischen Literatur, das Verständnis für
grammatische Subtilitäten bleibe dem spätern Selbststudium oder dem aka¬
demischen Unterricht vorbehalten. Ans jede Weise sei dem Gymnasium sein
propädentischer Charakter gewahrt. Ob man in der Verteilung der Stunden
die lateinische oder die griechische Sprache mehr begünstigen soll, mag dem fach¬
männischer Urteile überlassen bleiben. Die Frage ist nicht von der Wichtigkeit,
zu welcher sie in philologischen Fachschriften vielfach aufgebauscht wird; richtig
ist uur, das; die Behandlung beider Sprachgebiete und ihrer Literatur dein
Gymnasium zugewiesen und nicht etwa, wie realistische Eiferer fordern, das
Griechische überhaupt Preisgegeben wird. Die Schulmänner werden nur mit
äußerstem Widerstreben daran gehen, das Lchrpensum der Prima verschwinden
zu sehen. Es ist dies auch ganz begreiflich, dn der Unterricht in der obern
Klasse zweifellos mehr Befriedigung und Interesse gewährt als in den untern.
Indessen bietet sich ihnen in der Selekta teilweise ein Ersatz, und der Verlust
an Lehrstoff beschränkt sich somit auf ein, höchstens zwei Semester. Anderseits
wird der Unterricht in dieser Klasse sich für die Schiller wie für die Lehrer
angenehmer gestalten, dn nicht mehr auf ein Examen hingearbeitet zu werden
braucht.

Wenn mau dagegen einwendet, daß der Versuch einer Reform schon durch
die veränderte Lehrverfafsung von 1882 gemacht und deren Erfolg daher erst
abzuwarten sei, so erwiedere ich darauf, daß diese Veränderungen nicht ein¬
schneidend genug sind, um die Beseitigung der Übelstände, die sich so fühlbar
machen, jemals hoffen zu lasse". Die Zahl der Stunden, welche dem Unterricht
in den Naturwissenschaften und neueren Sprachen eingeräumt sind, reichen nicht
ans, um zu höhern Leistungen in diesen Fächern zu verhelfen; und doch soll
eben mehr geleistet werden. Man erwartet von dem Schüler, daß er das
Französische und Englische so beherrsche, daß er einen Nutzen für den Verkehr
in diesen Sprachen daraus erzielt. Dennoch wird, wenn nicht Privatunterricht
ergänzend eintritt, der Klassennnterricht selten mehr bieten als die Fähigkeit,
sich mit Hilfe eines Lexikons notdürftig in einem fremden Schriftsteller zurecht-
zufinden, und wer genötigt ist, lediglich mit seinen Schnlkenntnissen ausgestattet,
das Ausland zu bereisen, wird de" Mangel um Fertigkeit im Sprechen, noch
mehr im Verstehen, peinlich empfinden. Und nun gar die Aussprache! Allerdings
liegt bei dem ueusprcichliche" Unterricht der Fehler weniger in dem Mangel der
zugemessenen Zeit, als in der falschen Methode. Gute Aussprache ist nur von
einer" Franzosen oder Englcmder zu erlernen. Nun wird aber der Elementar-
unterricht in diesen Sprachen sehr oft von deutschen Lehrern gegeben, welche sich
an der Hand der Grammatik mühsam durcharbeiten, und die falsche Aussprache
ist später sehr schwer wieder zu verbessern. Eine lebende Sprache wird jn
überhaupt am richtigsten durchs Ohr gelernt; die Gewöhnung an die Eigen-
tümlichkeiten der Lautbildung ist dabei el" wesentliches Hilfsmittel.


Gymnasialunterricht und Fachbildung.

tieferes Eingehe» in den Geist der klassischen Literatur, das Verständnis für
grammatische Subtilitäten bleibe dem spätern Selbststudium oder dem aka¬
demischen Unterricht vorbehalten. Ans jede Weise sei dem Gymnasium sein
propädentischer Charakter gewahrt. Ob man in der Verteilung der Stunden
die lateinische oder die griechische Sprache mehr begünstigen soll, mag dem fach¬
männischer Urteile überlassen bleiben. Die Frage ist nicht von der Wichtigkeit,
zu welcher sie in philologischen Fachschriften vielfach aufgebauscht wird; richtig
ist uur, das; die Behandlung beider Sprachgebiete und ihrer Literatur dein
Gymnasium zugewiesen und nicht etwa, wie realistische Eiferer fordern, das
Griechische überhaupt Preisgegeben wird. Die Schulmänner werden nur mit
äußerstem Widerstreben daran gehen, das Lchrpensum der Prima verschwinden
zu sehen. Es ist dies auch ganz begreiflich, dn der Unterricht in der obern
Klasse zweifellos mehr Befriedigung und Interesse gewährt als in den untern.
Indessen bietet sich ihnen in der Selekta teilweise ein Ersatz, und der Verlust
an Lehrstoff beschränkt sich somit auf ein, höchstens zwei Semester. Anderseits
wird der Unterricht in dieser Klasse sich für die Schiller wie für die Lehrer
angenehmer gestalten, dn nicht mehr auf ein Examen hingearbeitet zu werden
braucht.

Wenn mau dagegen einwendet, daß der Versuch einer Reform schon durch
die veränderte Lehrverfafsung von 1882 gemacht und deren Erfolg daher erst
abzuwarten sei, so erwiedere ich darauf, daß diese Veränderungen nicht ein¬
schneidend genug sind, um die Beseitigung der Übelstände, die sich so fühlbar
machen, jemals hoffen zu lasse». Die Zahl der Stunden, welche dem Unterricht
in den Naturwissenschaften und neueren Sprachen eingeräumt sind, reichen nicht
ans, um zu höhern Leistungen in diesen Fächern zu verhelfen; und doch soll
eben mehr geleistet werden. Man erwartet von dem Schüler, daß er das
Französische und Englische so beherrsche, daß er einen Nutzen für den Verkehr
in diesen Sprachen daraus erzielt. Dennoch wird, wenn nicht Privatunterricht
ergänzend eintritt, der Klassennnterricht selten mehr bieten als die Fähigkeit,
sich mit Hilfe eines Lexikons notdürftig in einem fremden Schriftsteller zurecht-
zufinden, und wer genötigt ist, lediglich mit seinen Schnlkenntnissen ausgestattet,
das Ausland zu bereisen, wird de» Mangel um Fertigkeit im Sprechen, noch
mehr im Verstehen, peinlich empfinden. Und nun gar die Aussprache! Allerdings
liegt bei dem ueusprcichliche» Unterricht der Fehler weniger in dem Mangel der
zugemessenen Zeit, als in der falschen Methode. Gute Aussprache ist nur von
einer» Franzosen oder Englcmder zu erlernen. Nun wird aber der Elementar-
unterricht in diesen Sprachen sehr oft von deutschen Lehrern gegeben, welche sich
an der Hand der Grammatik mühsam durcharbeiten, und die falsche Aussprache
ist später sehr schwer wieder zu verbessern. Eine lebende Sprache wird jn
überhaupt am richtigsten durchs Ohr gelernt; die Gewöhnung an die Eigen-
tümlichkeiten der Lautbildung ist dabei el» wesentliches Hilfsmittel.


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[0174] Gymnasialunterricht und Fachbildung. tieferes Eingehe» in den Geist der klassischen Literatur, das Verständnis für grammatische Subtilitäten bleibe dem spätern Selbststudium oder dem aka¬ demischen Unterricht vorbehalten. Ans jede Weise sei dem Gymnasium sein propädentischer Charakter gewahrt. Ob man in der Verteilung der Stunden die lateinische oder die griechische Sprache mehr begünstigen soll, mag dem fach¬ männischer Urteile überlassen bleiben. Die Frage ist nicht von der Wichtigkeit, zu welcher sie in philologischen Fachschriften vielfach aufgebauscht wird; richtig ist uur, das; die Behandlung beider Sprachgebiete und ihrer Literatur dein Gymnasium zugewiesen und nicht etwa, wie realistische Eiferer fordern, das Griechische überhaupt Preisgegeben wird. Die Schulmänner werden nur mit äußerstem Widerstreben daran gehen, das Lchrpensum der Prima verschwinden zu sehen. Es ist dies auch ganz begreiflich, dn der Unterricht in der obern Klasse zweifellos mehr Befriedigung und Interesse gewährt als in den untern. Indessen bietet sich ihnen in der Selekta teilweise ein Ersatz, und der Verlust an Lehrstoff beschränkt sich somit auf ein, höchstens zwei Semester. Anderseits wird der Unterricht in dieser Klasse sich für die Schiller wie für die Lehrer angenehmer gestalten, dn nicht mehr auf ein Examen hingearbeitet zu werden braucht. Wenn mau dagegen einwendet, daß der Versuch einer Reform schon durch die veränderte Lehrverfafsung von 1882 gemacht und deren Erfolg daher erst abzuwarten sei, so erwiedere ich darauf, daß diese Veränderungen nicht ein¬ schneidend genug sind, um die Beseitigung der Übelstände, die sich so fühlbar machen, jemals hoffen zu lasse». Die Zahl der Stunden, welche dem Unterricht in den Naturwissenschaften und neueren Sprachen eingeräumt sind, reichen nicht ans, um zu höhern Leistungen in diesen Fächern zu verhelfen; und doch soll eben mehr geleistet werden. Man erwartet von dem Schüler, daß er das Französische und Englische so beherrsche, daß er einen Nutzen für den Verkehr in diesen Sprachen daraus erzielt. Dennoch wird, wenn nicht Privatunterricht ergänzend eintritt, der Klassennnterricht selten mehr bieten als die Fähigkeit, sich mit Hilfe eines Lexikons notdürftig in einem fremden Schriftsteller zurecht- zufinden, und wer genötigt ist, lediglich mit seinen Schnlkenntnissen ausgestattet, das Ausland zu bereisen, wird de» Mangel um Fertigkeit im Sprechen, noch mehr im Verstehen, peinlich empfinden. Und nun gar die Aussprache! Allerdings liegt bei dem ueusprcichliche» Unterricht der Fehler weniger in dem Mangel der zugemessenen Zeit, als in der falschen Methode. Gute Aussprache ist nur von einer» Franzosen oder Englcmder zu erlernen. Nun wird aber der Elementar- unterricht in diesen Sprachen sehr oft von deutschen Lehrern gegeben, welche sich an der Hand der Grammatik mühsam durcharbeiten, und die falsche Aussprache ist später sehr schwer wieder zu verbessern. Eine lebende Sprache wird jn überhaupt am richtigsten durchs Ohr gelernt; die Gewöhnung an die Eigen- tümlichkeiten der Lautbildung ist dabei el» wesentliches Hilfsmittel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/174>, abgerufen am 01.10.2024.