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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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unklarer Redewendungen geführt; im günstigsien Falle ist seine Auseinander¬
setzung eine geschickte Zusammenstellung von Gelesenen oder Gehörten, Höchst
selten sind diese Arbeiten der wirkliche Ausdruck eines eignen über den Gegen¬
stand gefaßten Gedankens oder auch nur einer selbstgemachten logischen Analyse
der vorgelegten Begriffe. Weit zweckmäßiger wird es sein, in einem etwas vor¬
gerückten Alter auf der Universität eine schriftliche Arbeit zu verlangen, deren
Inhalt einen Maßstab nicht nur für die Kenntnisse auf dem betreffenden Lehr-
gebictc, sondern auch für die Fähigkeit abgiebt, die dem Verfasser bekannten
Vorgänge oder Vorstellungen in eine anschauliche, knappe und wohlgegliederte
Form zu bringen. Einen noch bessern Prüfstein giebt dann die schriftliche
Klausurarbeit für Selbständigkeit des Denkens und Gewandtheit des Aus¬
druckes ab.

Nicht viel anders ist eS mit der Geschichte, nnr daß, wie beim deutschen
Aufsatz die Produktionsfähigkeit, so hier das Nezeptivnsvcrmögen des Schülers
oft überschätzt wird. Die Schule wird ihrem ganzen Wesen nach nie mehr
bieten können, als die Aufzählung der Thatsachen und die lose Verknüpfung
derselben im weiten Nahmen der Zeit. Das Verständnis des innern Zusammen¬
hanges erfordert eine Reflexion, die von der Jugend nicht erwartet werden kann.
Nur allgemeine, aus Bildung und Sittlichkeit bezügliche Gesichtspunkte dürfen
hier bei der Kritik der Völkergeschichte in Betracht kommen. Alles, was einen
politischen Beigeschmack hat, muß ausgeschlossen bleiben, und je näher die
Geschichtsbetrachtung der Gegenwart rückt, desto schwieriger wird die objektive
Darstellnlig, Mit dieser Beschränkung ist aber bis zum siebzehnten Lebens¬
jahre eine Übersicht der Vorzeit sehr wohl zu geben. Erst die Universität hat
den so vorbereiteten auf das Gebiet der Forschung und kritischen Prüfung zu
führen, und diese kann erst dann wirklich nutzbringend sein, wenn das gleich¬
zeitige Studium des heutigen Staatswesens und seiner Normen den Ausgangs¬
punkt für vergleichende Rückblicke ermöglicht. Die Entwicklungsperiode alter
Völker und die Kämpfe früherer Geschlechter um Erhaltung oder Erweiterung
staatlicher Freiheiten werden von dem jugendlichen Forscher dann in ihrer
wahren Bedeutung begriffen werden. Wenn ein selbständiges Urteil auch jetzt
noch nicht von ihm erwartet werden kann, so tritt er doch an die Betrachtung
dieser Vorgänge heran, unbeeinflußt von den halbverstandenen politischen An¬
schauungen, welche die Parteischattiruug des Lehrers -- im günstigsten Falle
unbewußt -- in den propädentischen Unterricht hineingetragen hat.

(Schos! fvlqt,)




unklarer Redewendungen geführt; im günstigsien Falle ist seine Auseinander¬
setzung eine geschickte Zusammenstellung von Gelesenen oder Gehörten, Höchst
selten sind diese Arbeiten der wirkliche Ausdruck eines eignen über den Gegen¬
stand gefaßten Gedankens oder auch nur einer selbstgemachten logischen Analyse
der vorgelegten Begriffe. Weit zweckmäßiger wird es sein, in einem etwas vor¬
gerückten Alter auf der Universität eine schriftliche Arbeit zu verlangen, deren
Inhalt einen Maßstab nicht nur für die Kenntnisse auf dem betreffenden Lehr-
gebictc, sondern auch für die Fähigkeit abgiebt, die dem Verfasser bekannten
Vorgänge oder Vorstellungen in eine anschauliche, knappe und wohlgegliederte
Form zu bringen. Einen noch bessern Prüfstein giebt dann die schriftliche
Klausurarbeit für Selbständigkeit des Denkens und Gewandtheit des Aus¬
druckes ab.

Nicht viel anders ist eS mit der Geschichte, nnr daß, wie beim deutschen
Aufsatz die Produktionsfähigkeit, so hier das Nezeptivnsvcrmögen des Schülers
oft überschätzt wird. Die Schule wird ihrem ganzen Wesen nach nie mehr
bieten können, als die Aufzählung der Thatsachen und die lose Verknüpfung
derselben im weiten Nahmen der Zeit. Das Verständnis des innern Zusammen¬
hanges erfordert eine Reflexion, die von der Jugend nicht erwartet werden kann.
Nur allgemeine, aus Bildung und Sittlichkeit bezügliche Gesichtspunkte dürfen
hier bei der Kritik der Völkergeschichte in Betracht kommen. Alles, was einen
politischen Beigeschmack hat, muß ausgeschlossen bleiben, und je näher die
Geschichtsbetrachtung der Gegenwart rückt, desto schwieriger wird die objektive
Darstellnlig, Mit dieser Beschränkung ist aber bis zum siebzehnten Lebens¬
jahre eine Übersicht der Vorzeit sehr wohl zu geben. Erst die Universität hat
den so vorbereiteten auf das Gebiet der Forschung und kritischen Prüfung zu
führen, und diese kann erst dann wirklich nutzbringend sein, wenn das gleich¬
zeitige Studium des heutigen Staatswesens und seiner Normen den Ausgangs¬
punkt für vergleichende Rückblicke ermöglicht. Die Entwicklungsperiode alter
Völker und die Kämpfe früherer Geschlechter um Erhaltung oder Erweiterung
staatlicher Freiheiten werden von dem jugendlichen Forscher dann in ihrer
wahren Bedeutung begriffen werden. Wenn ein selbständiges Urteil auch jetzt
noch nicht von ihm erwartet werden kann, so tritt er doch an die Betrachtung
dieser Vorgänge heran, unbeeinflußt von den halbverstandenen politischen An¬
schauungen, welche die Parteischattiruug des Lehrers — im günstigsten Falle
unbewußt — in den propädentischen Unterricht hineingetragen hat.

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[0176] unklarer Redewendungen geführt; im günstigsien Falle ist seine Auseinander¬ setzung eine geschickte Zusammenstellung von Gelesenen oder Gehörten, Höchst selten sind diese Arbeiten der wirkliche Ausdruck eines eignen über den Gegen¬ stand gefaßten Gedankens oder auch nur einer selbstgemachten logischen Analyse der vorgelegten Begriffe. Weit zweckmäßiger wird es sein, in einem etwas vor¬ gerückten Alter auf der Universität eine schriftliche Arbeit zu verlangen, deren Inhalt einen Maßstab nicht nur für die Kenntnisse auf dem betreffenden Lehr- gebictc, sondern auch für die Fähigkeit abgiebt, die dem Verfasser bekannten Vorgänge oder Vorstellungen in eine anschauliche, knappe und wohlgegliederte Form zu bringen. Einen noch bessern Prüfstein giebt dann die schriftliche Klausurarbeit für Selbständigkeit des Denkens und Gewandtheit des Aus¬ druckes ab. Nicht viel anders ist eS mit der Geschichte, nnr daß, wie beim deutschen Aufsatz die Produktionsfähigkeit, so hier das Nezeptivnsvcrmögen des Schülers oft überschätzt wird. Die Schule wird ihrem ganzen Wesen nach nie mehr bieten können, als die Aufzählung der Thatsachen und die lose Verknüpfung derselben im weiten Nahmen der Zeit. Das Verständnis des innern Zusammen¬ hanges erfordert eine Reflexion, die von der Jugend nicht erwartet werden kann. Nur allgemeine, aus Bildung und Sittlichkeit bezügliche Gesichtspunkte dürfen hier bei der Kritik der Völkergeschichte in Betracht kommen. Alles, was einen politischen Beigeschmack hat, muß ausgeschlossen bleiben, und je näher die Geschichtsbetrachtung der Gegenwart rückt, desto schwieriger wird die objektive Darstellnlig, Mit dieser Beschränkung ist aber bis zum siebzehnten Lebens¬ jahre eine Übersicht der Vorzeit sehr wohl zu geben. Erst die Universität hat den so vorbereiteten auf das Gebiet der Forschung und kritischen Prüfung zu führen, und diese kann erst dann wirklich nutzbringend sein, wenn das gleich¬ zeitige Studium des heutigen Staatswesens und seiner Normen den Ausgangs¬ punkt für vergleichende Rückblicke ermöglicht. Die Entwicklungsperiode alter Völker und die Kämpfe früherer Geschlechter um Erhaltung oder Erweiterung staatlicher Freiheiten werden von dem jugendlichen Forscher dann in ihrer wahren Bedeutung begriffen werden. Wenn ein selbständiges Urteil auch jetzt noch nicht von ihm erwartet werden kann, so tritt er doch an die Betrachtung dieser Vorgänge heran, unbeeinflußt von den halbverstandenen politischen An¬ schauungen, welche die Parteischattiruug des Lehrers — im günstigsten Falle unbewußt — in den propädentischen Unterricht hineingetragen hat. (Schos! fvlqt,)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/176>, abgerufen am 03.07.2024.