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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Lrich Schmidts Charakteristiken,

Wird der Vortragende einmal wirklich begeistert. Auch der vor einem halben
Jahre verstorbene Jenaer Verlngsbuchhäudler F. I. Frommann wird als zum
Goethischen Kreise gehörig ans der Kenntnis eines persönlich freundschaftlichen
Verkehrs abkonterfeit. "Zur Schillcrliteratnr" ist eine schwache Abschlagszahlung
auf vielleicht später einmal erscheinende Schillerstndicn, Offenbar fehlt Schmidt
das rechte Verhältnis zum Kantianer und Idealisten Schiller; seine Apologie
klingt sehr gezwungen und reservirt.

Die folgenden vier Essays über Heinrich von Kleist als Dramatiker, Fer¬
dinand Raimund, Berthold Auerbach und Theodor Storni führen uns in die
Literatur des neunzehnten Jahrhunderts bis ans die Gegenwart. In allen
diesen Charakterbildern geht Schmidt auf die Ableitung der poetischen Produktion
und Eigenart aus dem persönlichen Charakter des Dichters ein. Er sucht überall
nach einem psychologischen Zentrum und weiß es glücklich zu finden. Bei
Heinrich von Kleist ist es eine Bemerkung Intimi Schmidts, die ihn das Zentrum
finden ließ. ""Verwirre mein Gefühl mir nicht!" ruft einmal der Held der
"Hermannsschlacht", und Julian Schmidt giebt die bündige Anmerkung: "Echt
kleistisch". Allerdings, man dürfte diesen Vers als Motto über alle Dramen
und Novellen, die ich hier nur streife, setzen. Schon der ablehnende Goethe
hat es kurz formulirt, daß "Verwirrung des Gefühls" das eigenste Thema
Kleists ist. Selbst der Ausdruck kehrt in leichten Variationen überall
wieder n. s. w." In der Einleitung wendet sich Schmidt "gegen zwei so ver¬
derbliche wie beliebte Deklamationen." Heinrichs von Kleist Kraft bewundern
-- fährt er aus -- bedeutet etwas andres, als die ungclecktcu Jungen der so¬
genannten Kraftgcnics für die höchsten Leistungen deutschen Shakespearetnms
ausrufen, und wenn wir den ernsten Blick ans dem Trümmerfelde dieses Erden-
wallcns ruhen lassen, wollen wir nicht zu den literarischen Leichenbildern zählen,
die so gern eine lange Reihe von "Schmerzenskindern" der deutschen Poesie
vorbeitreiben, um ihr Wehe! Wehe! erschallen zu lassen: es liege ein Fluch auf
den deutschen Dichtern, und das Mal der Dichtung sei ein Kainstempel. Wir
treten vor Trippels Gvethebüste und entdecken das Frciligrathsche Brandmal
nicht auf dieser reinen apollinischen Stirn, wohl aber sagt uns der Liebling der
Götter, daß ihm die Unendlichen alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen
die unendlichen, ganz gegeben haben." Übrigens halten wir diesen Essay Schmidts
über den unglücklichen preußischen Dichter nicht für seine beste Arbeit, wenn sie
auch durch den literarischen Streit zwischen Paul Schlenthcr und Theophil
Zolling über die Grenzen, die der Entlehnung wissenschaftlicher Resultate eines
Forschers gestellt siud, am meisten bekannt geworden ist.

Auch bei Raimund weiß Schmidt mit glücklichem Scharfblick das Zentrum
seines Wesens zu finden. Er sagt: "Ferdinand Raimund ist eine tragische Er¬
scheinung, die mit angeborner Schwermut sich im herben Widerstreite des
Wollens und Könnens verzehrte. Selbst eine scheinbar sehr lustige Anekdote


Lrich Schmidts Charakteristiken,

Wird der Vortragende einmal wirklich begeistert. Auch der vor einem halben
Jahre verstorbene Jenaer Verlngsbuchhäudler F. I. Frommann wird als zum
Goethischen Kreise gehörig ans der Kenntnis eines persönlich freundschaftlichen
Verkehrs abkonterfeit. „Zur Schillcrliteratnr" ist eine schwache Abschlagszahlung
auf vielleicht später einmal erscheinende Schillerstndicn, Offenbar fehlt Schmidt
das rechte Verhältnis zum Kantianer und Idealisten Schiller; seine Apologie
klingt sehr gezwungen und reservirt.

Die folgenden vier Essays über Heinrich von Kleist als Dramatiker, Fer¬
dinand Raimund, Berthold Auerbach und Theodor Storni führen uns in die
Literatur des neunzehnten Jahrhunderts bis ans die Gegenwart. In allen
diesen Charakterbildern geht Schmidt auf die Ableitung der poetischen Produktion
und Eigenart aus dem persönlichen Charakter des Dichters ein. Er sucht überall
nach einem psychologischen Zentrum und weiß es glücklich zu finden. Bei
Heinrich von Kleist ist es eine Bemerkung Intimi Schmidts, die ihn das Zentrum
finden ließ. „»Verwirre mein Gefühl mir nicht!« ruft einmal der Held der
»Hermannsschlacht«, und Julian Schmidt giebt die bündige Anmerkung: »Echt
kleistisch«. Allerdings, man dürfte diesen Vers als Motto über alle Dramen
und Novellen, die ich hier nur streife, setzen. Schon der ablehnende Goethe
hat es kurz formulirt, daß »Verwirrung des Gefühls« das eigenste Thema
Kleists ist. Selbst der Ausdruck kehrt in leichten Variationen überall
wieder n. s. w." In der Einleitung wendet sich Schmidt „gegen zwei so ver¬
derbliche wie beliebte Deklamationen." Heinrichs von Kleist Kraft bewundern
— fährt er aus — bedeutet etwas andres, als die ungclecktcu Jungen der so¬
genannten Kraftgcnics für die höchsten Leistungen deutschen Shakespearetnms
ausrufen, und wenn wir den ernsten Blick ans dem Trümmerfelde dieses Erden-
wallcns ruhen lassen, wollen wir nicht zu den literarischen Leichenbildern zählen,
die so gern eine lange Reihe von »Schmerzenskindern« der deutschen Poesie
vorbeitreiben, um ihr Wehe! Wehe! erschallen zu lassen: es liege ein Fluch auf
den deutschen Dichtern, und das Mal der Dichtung sei ein Kainstempel. Wir
treten vor Trippels Gvethebüste und entdecken das Frciligrathsche Brandmal
nicht auf dieser reinen apollinischen Stirn, wohl aber sagt uns der Liebling der
Götter, daß ihm die Unendlichen alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen
die unendlichen, ganz gegeben haben." Übrigens halten wir diesen Essay Schmidts
über den unglücklichen preußischen Dichter nicht für seine beste Arbeit, wenn sie
auch durch den literarischen Streit zwischen Paul Schlenthcr und Theophil
Zolling über die Grenzen, die der Entlehnung wissenschaftlicher Resultate eines
Forschers gestellt siud, am meisten bekannt geworden ist.

Auch bei Raimund weiß Schmidt mit glücklichem Scharfblick das Zentrum
seines Wesens zu finden. Er sagt: „Ferdinand Raimund ist eine tragische Er¬
scheinung, die mit angeborner Schwermut sich im herben Widerstreite des
Wollens und Könnens verzehrte. Selbst eine scheinbar sehr lustige Anekdote


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[0141] Lrich Schmidts Charakteristiken, Wird der Vortragende einmal wirklich begeistert. Auch der vor einem halben Jahre verstorbene Jenaer Verlngsbuchhäudler F. I. Frommann wird als zum Goethischen Kreise gehörig ans der Kenntnis eines persönlich freundschaftlichen Verkehrs abkonterfeit. „Zur Schillcrliteratnr" ist eine schwache Abschlagszahlung auf vielleicht später einmal erscheinende Schillerstndicn, Offenbar fehlt Schmidt das rechte Verhältnis zum Kantianer und Idealisten Schiller; seine Apologie klingt sehr gezwungen und reservirt. Die folgenden vier Essays über Heinrich von Kleist als Dramatiker, Fer¬ dinand Raimund, Berthold Auerbach und Theodor Storni führen uns in die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts bis ans die Gegenwart. In allen diesen Charakterbildern geht Schmidt auf die Ableitung der poetischen Produktion und Eigenart aus dem persönlichen Charakter des Dichters ein. Er sucht überall nach einem psychologischen Zentrum und weiß es glücklich zu finden. Bei Heinrich von Kleist ist es eine Bemerkung Intimi Schmidts, die ihn das Zentrum finden ließ. „»Verwirre mein Gefühl mir nicht!« ruft einmal der Held der »Hermannsschlacht«, und Julian Schmidt giebt die bündige Anmerkung: »Echt kleistisch«. Allerdings, man dürfte diesen Vers als Motto über alle Dramen und Novellen, die ich hier nur streife, setzen. Schon der ablehnende Goethe hat es kurz formulirt, daß »Verwirrung des Gefühls« das eigenste Thema Kleists ist. Selbst der Ausdruck kehrt in leichten Variationen überall wieder n. s. w." In der Einleitung wendet sich Schmidt „gegen zwei so ver¬ derbliche wie beliebte Deklamationen." Heinrichs von Kleist Kraft bewundern — fährt er aus — bedeutet etwas andres, als die ungclecktcu Jungen der so¬ genannten Kraftgcnics für die höchsten Leistungen deutschen Shakespearetnms ausrufen, und wenn wir den ernsten Blick ans dem Trümmerfelde dieses Erden- wallcns ruhen lassen, wollen wir nicht zu den literarischen Leichenbildern zählen, die so gern eine lange Reihe von »Schmerzenskindern« der deutschen Poesie vorbeitreiben, um ihr Wehe! Wehe! erschallen zu lassen: es liege ein Fluch auf den deutschen Dichtern, und das Mal der Dichtung sei ein Kainstempel. Wir treten vor Trippels Gvethebüste und entdecken das Frciligrathsche Brandmal nicht auf dieser reinen apollinischen Stirn, wohl aber sagt uns der Liebling der Götter, daß ihm die Unendlichen alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen die unendlichen, ganz gegeben haben." Übrigens halten wir diesen Essay Schmidts über den unglücklichen preußischen Dichter nicht für seine beste Arbeit, wenn sie auch durch den literarischen Streit zwischen Paul Schlenthcr und Theophil Zolling über die Grenzen, die der Entlehnung wissenschaftlicher Resultate eines Forschers gestellt siud, am meisten bekannt geworden ist. Auch bei Raimund weiß Schmidt mit glücklichem Scharfblick das Zentrum seines Wesens zu finden. Er sagt: „Ferdinand Raimund ist eine tragische Er¬ scheinung, die mit angeborner Schwermut sich im herben Widerstreite des Wollens und Könnens verzehrte. Selbst eine scheinbar sehr lustige Anekdote

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/141>, abgerufen am 03.07.2024.