Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.Erich Schmidts Charakteristiken. Höflingspartei gegen den begünstigten Dichter, das durch ein wahrhaft nobles, Erich Schmidts Charakteristiken. Höflingspartei gegen den begünstigten Dichter, das durch ein wahrhaft nobles, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0140" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200245"/> <fw type="header" place="top"> Erich Schmidts Charakteristiken.</fw><lb/> <p xml:id="ID_397" prev="#ID_396" next="#ID_398"> Höflingspartei gegen den begünstigten Dichter, das durch ein wahrhaft nobles,<lb/> über kleine äußere Anstöße hinweggleitendes Benehmen des Fürsten beschämt<lb/> wird, sondern wirft auch Licht auf Klopstocks Wesen und Treiben. Diese Be-<lb/> leuchtung ist nicht die unsrige, weder Tagesbeleuchtuug noch Fackelbeleuchtung,<lb/> vor allem keine Totalbeleuchtuug; es ist vielmehr, als ob ein kleines Menschenkind<lb/> mit einer qualmenden Lampe vor eine große Statue tritt; sein Flämmchen an ein<lb/> paar ungefällige Flecken hält, zugleich aber auch helle Partien mit Ruß beschwärzt."<lb/> Der Aufsatz „Aus dem Liebesleben des Siegwartdichters" führt uns in die<lb/> bodenlose Sentimentalität des Romanschreibers Martin Miller, dessen jämmerliche<lb/> Haltlosigkeit und Philistern auf Grund seiner in der Münchner Staatsbibliothek<lb/> erhaltenen Tagebücher und Briefe — vielleicht etwas zu breit — geschildert<lb/> wird. Ganz neu ist die ausgezeichnete Untersuchung über Bürgers „Lenore,"<lb/> die mit dem hübschen Apercu eingeleitet wird: „In den drei vornehmsten<lb/> Litcraturlnuderu Europas haben zu verschiednen Zeiten die größten Dichter der<lb/> volkstümlichen Dichtung einen liebevollen Respekt bezeigt, indem sie ihr Kunst¬<lb/> drama zum Herold des populären Gesanges machten: Shakespeare in England,<lb/> Moliere in Frankreich, in Deutschland der junge Goethe." (Was ihr wollt;<lb/> NiZÄiMroxö, Claudine von Villabella.) Schmidt kam durch einen glücklichen Zufall<lb/> in den Besitz einer eigenhändigen Bürgerschen Abschrift der berühmten Ballade.<lb/> Bote hat die Abschrift mit kritischen Randbemerkungen versehen, welche auch<lb/> zum Teil für die letzte Fassung des Gedichts, die in den Werken des Dichters<lb/> vorliegt, benutzt wurden. An die Mitteilung seines wertvollen Autogravhs — er<lb/> druckt es mit diplomatischer Treue ab — kuiipft Schmidt sehr interessante<lb/> Studien über die Entstehungsgeschichte des Gedichts und die Verbreitung seines<lb/> Motivs (allzu leidenschaftliche Trauer um deu gestorbnen Geliebten stört ihm<lb/> die Grabesruhe, und er kommt, sein Liebchen zu holen) in der europäischen<lb/> Volkspoesie. Nun folgen Charakterbilder aus dem Goethischen Lebenskreise.<lb/> „Frau Rat Goethe" wird auf Grund ihrer vielen neu publizirten Briefe in ihrer<lb/> unverwüstlichen Lebensfreude geschildert. Dabei wird auch das Verhältnis<lb/> Vettinens zu Goethe und seiner Mutter skizzirt. An eine Besprechung der<lb/> Schrift des Pfarrers Lucius über Friederike Briou von Sessenheim werden<lb/> Bemerkungen über den Nachklang dieses Verhältnisses in Goethes Dichtung, über<lb/> des tollen Lenz Taktlosigkeiten geknüpft. Die Studie „Aus der Wertherzeit" führt<lb/> uns in das Haus der Sophie vou La Roche, der „Sternheim," wie man sie<lb/> nach ihrem ersten Roman zu nennen liebte. Die Spuren der Entwicklung von<lb/> Maximilianeiis Erscheinung auf Goethes Jugeudroman werden verfolgt. Von deu<lb/> höchsten Gesichtspunkten wird in großen Zügen das Bild der Frau von Stein<lb/> entworfen und vor allem ihr Einfluß ans Goethes poetische Produktion dargelegt.<lb/> Am wärmsten spricht Schmidt von der amant- und geistvollen Mitarbeiterin<lb/> an Goethes Westöstiichem Divan, von Marianne v. Willemer-„Suleika"; bei<lb/> der Mitteilung ihres Sehnsuchtsliedes: „Ach, um deine feuchten Schwingen"</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0140]
Erich Schmidts Charakteristiken.
Höflingspartei gegen den begünstigten Dichter, das durch ein wahrhaft nobles,
über kleine äußere Anstöße hinweggleitendes Benehmen des Fürsten beschämt
wird, sondern wirft auch Licht auf Klopstocks Wesen und Treiben. Diese Be-
leuchtung ist nicht die unsrige, weder Tagesbeleuchtuug noch Fackelbeleuchtung,
vor allem keine Totalbeleuchtuug; es ist vielmehr, als ob ein kleines Menschenkind
mit einer qualmenden Lampe vor eine große Statue tritt; sein Flämmchen an ein
paar ungefällige Flecken hält, zugleich aber auch helle Partien mit Ruß beschwärzt."
Der Aufsatz „Aus dem Liebesleben des Siegwartdichters" führt uns in die
bodenlose Sentimentalität des Romanschreibers Martin Miller, dessen jämmerliche
Haltlosigkeit und Philistern auf Grund seiner in der Münchner Staatsbibliothek
erhaltenen Tagebücher und Briefe — vielleicht etwas zu breit — geschildert
wird. Ganz neu ist die ausgezeichnete Untersuchung über Bürgers „Lenore,"
die mit dem hübschen Apercu eingeleitet wird: „In den drei vornehmsten
Litcraturlnuderu Europas haben zu verschiednen Zeiten die größten Dichter der
volkstümlichen Dichtung einen liebevollen Respekt bezeigt, indem sie ihr Kunst¬
drama zum Herold des populären Gesanges machten: Shakespeare in England,
Moliere in Frankreich, in Deutschland der junge Goethe." (Was ihr wollt;
NiZÄiMroxö, Claudine von Villabella.) Schmidt kam durch einen glücklichen Zufall
in den Besitz einer eigenhändigen Bürgerschen Abschrift der berühmten Ballade.
Bote hat die Abschrift mit kritischen Randbemerkungen versehen, welche auch
zum Teil für die letzte Fassung des Gedichts, die in den Werken des Dichters
vorliegt, benutzt wurden. An die Mitteilung seines wertvollen Autogravhs — er
druckt es mit diplomatischer Treue ab — kuiipft Schmidt sehr interessante
Studien über die Entstehungsgeschichte des Gedichts und die Verbreitung seines
Motivs (allzu leidenschaftliche Trauer um deu gestorbnen Geliebten stört ihm
die Grabesruhe, und er kommt, sein Liebchen zu holen) in der europäischen
Volkspoesie. Nun folgen Charakterbilder aus dem Goethischen Lebenskreise.
„Frau Rat Goethe" wird auf Grund ihrer vielen neu publizirten Briefe in ihrer
unverwüstlichen Lebensfreude geschildert. Dabei wird auch das Verhältnis
Vettinens zu Goethe und seiner Mutter skizzirt. An eine Besprechung der
Schrift des Pfarrers Lucius über Friederike Briou von Sessenheim werden
Bemerkungen über den Nachklang dieses Verhältnisses in Goethes Dichtung, über
des tollen Lenz Taktlosigkeiten geknüpft. Die Studie „Aus der Wertherzeit" führt
uns in das Haus der Sophie vou La Roche, der „Sternheim," wie man sie
nach ihrem ersten Roman zu nennen liebte. Die Spuren der Entwicklung von
Maximilianeiis Erscheinung auf Goethes Jugeudroman werden verfolgt. Von deu
höchsten Gesichtspunkten wird in großen Zügen das Bild der Frau von Stein
entworfen und vor allem ihr Einfluß ans Goethes poetische Produktion dargelegt.
Am wärmsten spricht Schmidt von der amant- und geistvollen Mitarbeiterin
an Goethes Westöstiichem Divan, von Marianne v. Willemer-„Suleika"; bei
der Mitteilung ihres Sehnsuchtsliedes: „Ach, um deine feuchten Schwingen"
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