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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gries Schmidts Charakteristiken.

tiefung des deutschen geistigen Lebens im sechzehnten Jahrhundert, daß die Idee
des Forschertitanismus gedacht werden konnte, und es zeugt für unsre damalige
poetische Ohnmacht, daß kein Deutscher fähig war, diesen Gedanken künstlerisch
zu gestalten." Dein Engländer Marlowe gelang diese Aufgabe, dessen Drama
wird dann auch skizzirt. Der folgende Aufsatz: "Die Entdeckung Nürnbergs"
teilt interessante Äußerungen von typischen Vertretern der nüchternen Auf-
kläruugscpoche über das ihnen häßlich, finster erscheinende Nürnberg mit, dessen
gothische Denkmäler weit weniger ihrem Geschmacke entsprachen als die lineare
Regelmäßigkeit der Zopfzeit, und schließt mit dem Hinweis auf Sulpiz Boisseree
und die Romantiker, von denen ab wir Nürnberg als das Schatzkästlein
des heiligen römischen Reiches schätzen gelernt haben. "Artost in Deutsch¬
land" vergleicht nur die Übersetzungen des "Rasenden Roland" seit Dietrich vom
Werber bis auf Kurz und Heyse. "Der Kampf gegen die Mode" giebt ein farbiges
Bild des aus Frankreich im siebzehnten Jahrhundert eingeführten Alamodewesens,
des tollen Kleiderluxus, der gezierten Sitten; dann werden die gegen dieses un¬
patriotische Treiben eifernden Schriftsteller, vor allem der brave Elsässer Mosche-
rosch, dann der niederdeutsche Lauremberg, der Schlesier Logan, der Österreicher
Abraham a Sancta Clara charcikterisirt. Schmidt deutet aber auch merklich
die Grenzen dieser Geister an, deren Eifer auch blind werden konnte. "Eine nieder¬
deutsche Dichterin" entwirft das düstere Bild der unglücklichen Anna Opera Hoyers
(1534 bis 1655). Die "Simplizissimusfestc in Renchen" beschäftigen sich mit
dem genialen Sittcnschilderer des dreißigjährigen Krieges, GrimmclShausen.

Es folgen dann Studien aus der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts.
Der ernste und ehrwürdige Gelehrte und Dichter Albrecht von Haller wird als
Vortreter eines großen Reigens gekennzeichnet. Der lapidar betitelte Essay
"Klopstock" darf in Wahrheit auch für seinen Inhalt das Epitheton lapidar bean¬
spruchen: einem Monument gleich hat Erich Schmidt das Bild des frommen
Sängers aufgerichtet. Nie haben wir eine so eindringende, alle Vorzüge und
Fehler gerecht abwägende Beurteilung der Messiade gelesen -- denn wieviele
Literarhistoriker selbst haben noch die Geduld, sie zu lesen? Schon zu Lebzeiten
war Klopstock übrigens mehr gerühmt als gelesen, was sich Lessing bekanntlich
nicht wünschte. Schmidt nimmt eine mittlere Stellung zu Klopstock gegen die
leidenschaftliche, fast wie in persönlichem Hasse geschriebene Kritik Dcmzels und
gegen die anachronistische Parteinahme Munckers (der sich ja auch für Richard
Wagners Poesie begeistert) ein. Wie man Versvarianten lebensvoll zur
Charakteristik eines Dichters ausnutzen kann, lehrt Schmidts Behandlung der
Klopstockschcu Oden in diesem Mcisteresfay. "Ein Höfling über Klopstock" teilt
ein schon D. F. Strauß bekanntes, aber wenig von ihm benutztes Memorandum
über des Dichters Aufenthalt und Betragen am badischen Hofe aus der Feder
des Prinzenerziehers Ring mit. Das Schriftstück war an Freund Wieland ge¬
richtet, und Schmidt sagt darüber: "Sie zeigt uns nicht nur das Verhalten der


Gries Schmidts Charakteristiken.

tiefung des deutschen geistigen Lebens im sechzehnten Jahrhundert, daß die Idee
des Forschertitanismus gedacht werden konnte, und es zeugt für unsre damalige
poetische Ohnmacht, daß kein Deutscher fähig war, diesen Gedanken künstlerisch
zu gestalten." Dein Engländer Marlowe gelang diese Aufgabe, dessen Drama
wird dann auch skizzirt. Der folgende Aufsatz: „Die Entdeckung Nürnbergs"
teilt interessante Äußerungen von typischen Vertretern der nüchternen Auf-
kläruugscpoche über das ihnen häßlich, finster erscheinende Nürnberg mit, dessen
gothische Denkmäler weit weniger ihrem Geschmacke entsprachen als die lineare
Regelmäßigkeit der Zopfzeit, und schließt mit dem Hinweis auf Sulpiz Boisseree
und die Romantiker, von denen ab wir Nürnberg als das Schatzkästlein
des heiligen römischen Reiches schätzen gelernt haben. „Artost in Deutsch¬
land" vergleicht nur die Übersetzungen des „Rasenden Roland" seit Dietrich vom
Werber bis auf Kurz und Heyse. „Der Kampf gegen die Mode" giebt ein farbiges
Bild des aus Frankreich im siebzehnten Jahrhundert eingeführten Alamodewesens,
des tollen Kleiderluxus, der gezierten Sitten; dann werden die gegen dieses un¬
patriotische Treiben eifernden Schriftsteller, vor allem der brave Elsässer Mosche-
rosch, dann der niederdeutsche Lauremberg, der Schlesier Logan, der Österreicher
Abraham a Sancta Clara charcikterisirt. Schmidt deutet aber auch merklich
die Grenzen dieser Geister an, deren Eifer auch blind werden konnte. „Eine nieder¬
deutsche Dichterin" entwirft das düstere Bild der unglücklichen Anna Opera Hoyers
(1534 bis 1655). Die „Simplizissimusfestc in Renchen" beschäftigen sich mit
dem genialen Sittcnschilderer des dreißigjährigen Krieges, GrimmclShausen.

Es folgen dann Studien aus der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts.
Der ernste und ehrwürdige Gelehrte und Dichter Albrecht von Haller wird als
Vortreter eines großen Reigens gekennzeichnet. Der lapidar betitelte Essay
„Klopstock" darf in Wahrheit auch für seinen Inhalt das Epitheton lapidar bean¬
spruchen: einem Monument gleich hat Erich Schmidt das Bild des frommen
Sängers aufgerichtet. Nie haben wir eine so eindringende, alle Vorzüge und
Fehler gerecht abwägende Beurteilung der Messiade gelesen — denn wieviele
Literarhistoriker selbst haben noch die Geduld, sie zu lesen? Schon zu Lebzeiten
war Klopstock übrigens mehr gerühmt als gelesen, was sich Lessing bekanntlich
nicht wünschte. Schmidt nimmt eine mittlere Stellung zu Klopstock gegen die
leidenschaftliche, fast wie in persönlichem Hasse geschriebene Kritik Dcmzels und
gegen die anachronistische Parteinahme Munckers (der sich ja auch für Richard
Wagners Poesie begeistert) ein. Wie man Versvarianten lebensvoll zur
Charakteristik eines Dichters ausnutzen kann, lehrt Schmidts Behandlung der
Klopstockschcu Oden in diesem Mcisteresfay. „Ein Höfling über Klopstock" teilt
ein schon D. F. Strauß bekanntes, aber wenig von ihm benutztes Memorandum
über des Dichters Aufenthalt und Betragen am badischen Hofe aus der Feder
des Prinzenerziehers Ring mit. Das Schriftstück war an Freund Wieland ge¬
richtet, und Schmidt sagt darüber: „Sie zeigt uns nicht nur das Verhalten der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/139>, abgerufen am 03.07.2024.