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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der Dramatiker der deutschen Jugend.

möglichen Wirkung, nicht eine peinliche Ökonomie in allem nötig machen, was
für diese Wirkung nebensächlich oder gar schädlich ist? Beobachtet man die
Gesetze nicht, welche sich hieraus ergeben, so wird man nicht nur die Kraft des
Ganzen schädigen durch Zerbrechen in unzusammenhängende Einzelheiten, auch
der Eindruck der Einzelheiten wird beeinträchtigt, ja verdorben, teils weil sie zu
winzig ausfallen mußten, teils weil sie sich gegenseitig hemmen und drängen.

Ein Meister bleibt auch seinen Fehlern gegenüber der Meister. Er fühlt
sie wohl; leider nicht gleich bei der Konzeption, leider auch später nicht so
bestimmt, um die ganze Anlage zu ändern. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt,
daß dann gerade für den Meister ein übermütiger Reiz eintritt, sein Können
auch ihnen gegenüber zu bewähren. Er wird gruppiren, er wird vertuschen, er
wird herausheben, immer im Hinblick ans die Grundfvrdernngen seiner Kunst,
die er jeden Augenblick Gefahr läuft zu verletzen oder gar zu versäumen. Für
das größere Publikum wird dieser künstlerische Seiltanz vielleicht einen neuen
Reiz an der genialen Kunstleistung bedeuten; die feiner empfindenden werden
sich dabei eines gewissen Mißbehagens sicher nicht erwehren können. Sie sehen
nicht mehr bloß die richtigen Schritte, die ihr dramatischer Künstler macht; sie
sehen bald nnr die falschen, welche er hätte machen können. Sie sehen oder
fühlen die Fehler, um welche er mit so großer Kunst herumgeht, und Fehler
bleiben in ihrer Wirkung immer Fehler. Auch ist die dramatische Szene ein
breites, sicheres Podium und kein Drahtseil.

Ich darf den Inhalt des "Neuen. Gebots" als bekannt voraussetzen. Das
Stück gehört zu der Klasse der einfachen ("n^o?), d. h. sein Schwergewicht
beruht nicht ans einer verwickelten Handlung, deren Lösung man erwartet
(-^c^e^te^), sondern es schildert den historischen Verlauf eines in sich ge¬
schlossenen Vorganges, welcher durch ein erst in den Gang des Dramas ein¬
greifendes (hinderndes) Motiv sich dramatisch zuspitzt und dann gelöst wird.
Die dramatische Entwicklung in solchen Stücken kann nun, so lehrt uns der
Dramatiker, zweierlei Natur sein. Entiveder sie liegt in den äußern Ereignissen,
dann muß ich das Grundthema für mein Drama im Psychologischen suchen
(die eigentlich sogenannte lüstor^). Ich schildere also z. V. einen dnrch und
durch bösen Charakter, der seine böse Natur so lange in den äußern Ereignissen
des Dramas bethätigt, bis seine eignen bösen Thaten sich gegen ihn erheben
und er daran zu Grnnde geht (Richard III.). Oder ich schildere etwa einen
ehrlichen, unbeugsamen Selbstherrn in einer ränkevollen, stürmischen Zeit, der
durch seine Handlungen im Drama erkennen muß, daß er gegen sie nicht an¬
kämpfen kann und daß selbst seine besten Absichten in ihr zum Verderben aus-
schlagen (Götz von Berlichingen). Liegt aber zweitens die dramatische Ent¬
wicklung im Psychologischen, so werde ich mein Grundthema im äußern Vorgang
suchen müssen, und jetzt wird dieser einheitlich sein müssen (Charaktergemälbe).
Ich schildere also z. B. alle Phasen des Seelenkampfes eines guten, aber allzu


Der Dramatiker der deutschen Jugend.

möglichen Wirkung, nicht eine peinliche Ökonomie in allem nötig machen, was
für diese Wirkung nebensächlich oder gar schädlich ist? Beobachtet man die
Gesetze nicht, welche sich hieraus ergeben, so wird man nicht nur die Kraft des
Ganzen schädigen durch Zerbrechen in unzusammenhängende Einzelheiten, auch
der Eindruck der Einzelheiten wird beeinträchtigt, ja verdorben, teils weil sie zu
winzig ausfallen mußten, teils weil sie sich gegenseitig hemmen und drängen.

Ein Meister bleibt auch seinen Fehlern gegenüber der Meister. Er fühlt
sie wohl; leider nicht gleich bei der Konzeption, leider auch später nicht so
bestimmt, um die ganze Anlage zu ändern. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt,
daß dann gerade für den Meister ein übermütiger Reiz eintritt, sein Können
auch ihnen gegenüber zu bewähren. Er wird gruppiren, er wird vertuschen, er
wird herausheben, immer im Hinblick ans die Grundfvrdernngen seiner Kunst,
die er jeden Augenblick Gefahr läuft zu verletzen oder gar zu versäumen. Für
das größere Publikum wird dieser künstlerische Seiltanz vielleicht einen neuen
Reiz an der genialen Kunstleistung bedeuten; die feiner empfindenden werden
sich dabei eines gewissen Mißbehagens sicher nicht erwehren können. Sie sehen
nicht mehr bloß die richtigen Schritte, die ihr dramatischer Künstler macht; sie
sehen bald nnr die falschen, welche er hätte machen können. Sie sehen oder
fühlen die Fehler, um welche er mit so großer Kunst herumgeht, und Fehler
bleiben in ihrer Wirkung immer Fehler. Auch ist die dramatische Szene ein
breites, sicheres Podium und kein Drahtseil.

Ich darf den Inhalt des „Neuen. Gebots" als bekannt voraussetzen. Das
Stück gehört zu der Klasse der einfachen («n^o?), d. h. sein Schwergewicht
beruht nicht ans einer verwickelten Handlung, deren Lösung man erwartet
(-^c^e^te^), sondern es schildert den historischen Verlauf eines in sich ge¬
schlossenen Vorganges, welcher durch ein erst in den Gang des Dramas ein¬
greifendes (hinderndes) Motiv sich dramatisch zuspitzt und dann gelöst wird.
Die dramatische Entwicklung in solchen Stücken kann nun, so lehrt uns der
Dramatiker, zweierlei Natur sein. Entiveder sie liegt in den äußern Ereignissen,
dann muß ich das Grundthema für mein Drama im Psychologischen suchen
(die eigentlich sogenannte lüstor^). Ich schildere also z. V. einen dnrch und
durch bösen Charakter, der seine böse Natur so lange in den äußern Ereignissen
des Dramas bethätigt, bis seine eignen bösen Thaten sich gegen ihn erheben
und er daran zu Grnnde geht (Richard III.). Oder ich schildere etwa einen
ehrlichen, unbeugsamen Selbstherrn in einer ränkevollen, stürmischen Zeit, der
durch seine Handlungen im Drama erkennen muß, daß er gegen sie nicht an¬
kämpfen kann und daß selbst seine besten Absichten in ihr zum Verderben aus-
schlagen (Götz von Berlichingen). Liegt aber zweitens die dramatische Ent¬
wicklung im Psychologischen, so werde ich mein Grundthema im äußern Vorgang
suchen müssen, und jetzt wird dieser einheitlich sein müssen (Charaktergemälbe).
Ich schildere also z. B. alle Phasen des Seelenkampfes eines guten, aber allzu


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[0541] Der Dramatiker der deutschen Jugend. möglichen Wirkung, nicht eine peinliche Ökonomie in allem nötig machen, was für diese Wirkung nebensächlich oder gar schädlich ist? Beobachtet man die Gesetze nicht, welche sich hieraus ergeben, so wird man nicht nur die Kraft des Ganzen schädigen durch Zerbrechen in unzusammenhängende Einzelheiten, auch der Eindruck der Einzelheiten wird beeinträchtigt, ja verdorben, teils weil sie zu winzig ausfallen mußten, teils weil sie sich gegenseitig hemmen und drängen. Ein Meister bleibt auch seinen Fehlern gegenüber der Meister. Er fühlt sie wohl; leider nicht gleich bei der Konzeption, leider auch später nicht so bestimmt, um die ganze Anlage zu ändern. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt, daß dann gerade für den Meister ein übermütiger Reiz eintritt, sein Können auch ihnen gegenüber zu bewähren. Er wird gruppiren, er wird vertuschen, er wird herausheben, immer im Hinblick ans die Grundfvrdernngen seiner Kunst, die er jeden Augenblick Gefahr läuft zu verletzen oder gar zu versäumen. Für das größere Publikum wird dieser künstlerische Seiltanz vielleicht einen neuen Reiz an der genialen Kunstleistung bedeuten; die feiner empfindenden werden sich dabei eines gewissen Mißbehagens sicher nicht erwehren können. Sie sehen nicht mehr bloß die richtigen Schritte, die ihr dramatischer Künstler macht; sie sehen bald nnr die falschen, welche er hätte machen können. Sie sehen oder fühlen die Fehler, um welche er mit so großer Kunst herumgeht, und Fehler bleiben in ihrer Wirkung immer Fehler. Auch ist die dramatische Szene ein breites, sicheres Podium und kein Drahtseil. Ich darf den Inhalt des „Neuen. Gebots" als bekannt voraussetzen. Das Stück gehört zu der Klasse der einfachen («n^o?), d. h. sein Schwergewicht beruht nicht ans einer verwickelten Handlung, deren Lösung man erwartet (-^c^e^te^), sondern es schildert den historischen Verlauf eines in sich ge¬ schlossenen Vorganges, welcher durch ein erst in den Gang des Dramas ein¬ greifendes (hinderndes) Motiv sich dramatisch zuspitzt und dann gelöst wird. Die dramatische Entwicklung in solchen Stücken kann nun, so lehrt uns der Dramatiker, zweierlei Natur sein. Entiveder sie liegt in den äußern Ereignissen, dann muß ich das Grundthema für mein Drama im Psychologischen suchen (die eigentlich sogenannte lüstor^). Ich schildere also z. V. einen dnrch und durch bösen Charakter, der seine böse Natur so lange in den äußern Ereignissen des Dramas bethätigt, bis seine eignen bösen Thaten sich gegen ihn erheben und er daran zu Grnnde geht (Richard III.). Oder ich schildere etwa einen ehrlichen, unbeugsamen Selbstherrn in einer ränkevollen, stürmischen Zeit, der durch seine Handlungen im Drama erkennen muß, daß er gegen sie nicht an¬ kämpfen kann und daß selbst seine besten Absichten in ihr zum Verderben aus- schlagen (Götz von Berlichingen). Liegt aber zweitens die dramatische Ent¬ wicklung im Psychologischen, so werde ich mein Grundthema im äußern Vorgang suchen müssen, und jetzt wird dieser einheitlich sein müssen (Charaktergemälbe). Ich schildere also z. B. alle Phasen des Seelenkampfes eines guten, aber allzu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/541>, abgerufen am 20.10.2024.