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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der Dramatiker der deutschen Jugend.

(oft zu Gunsten der dramatischen Gesamtwirkung) der Technik des Motivirens
und der Wahrscheinlichkeit zur Last fallen; wunde Punkte der Dramatiker.
Wie muß man nun staunen, einen solchen Meister der Form plötzlich mit einem
Drama hervortreten zu sehen, welches gerade nach dieser Seite hin verstößt,
und das gleich so von Grund aus, daß es selbst der oberflächlichste Beurteiler
empfindet! Respekt vor dem bewährten Meister! Er wird seine höhere Form
haben, die du uicht kennst, oder Gründe! Eine Form, eine höhere Form, die
gar keine Grenzen hat, eine Form, die mir beweisen will, daß 1 -i- 1 1 sei?
Ebensogut könnte sie mir beweisen, daß die Summe von drei, vier u. s. w. Ein¬
heiten wieder eins ergebe. Von alleu Einheiten, wohl; das wäre philosophisch.
Aber von so und so viel? Nein, das ist nicht bloß dramatisch unmöglich.
Aber Grüude? Ja es giebt Gründe! Doch bleiben wir vorläufig bei der Form.

Die geringe Achtung, in welche das Theater in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts in Deutschland geraten ist, zeigt sich äußerlich in nichts schärfer
als in der Nachlässigkeit, mit welcher die Theaterkritik sich gewöhnt hat, die
dramatische Form zu behandeln. Der Inhalt des Stückes wird meist plan
erzählt und dann -- sehr selten und nur von den Besten eingehender -- auf
Idee und Folgerichtigkeit hin geprüft. Das ist eine Kritik, welche sich von der
des Romans und der Novelle in nichts unterscheidet. Daß da oben auf den
Brettern eine Kunst in die Erscheinung tritt, die ihre ganz besondern Bedingungen
und Gesetze hat, scheint immer mehr in den Hintergrund des kritischen Bewußtseins
zu trete". Das ist wirklich ein untrügliches Zeichen für die Schätzung des
Theaters. Wer ist Schuld daran? Die Kritiker, weil sie das Theater so wenig
ernst nehmen, oder die Autoren, weil sie die Kritiker schließlich stumpf und
gleichgiltig machen? Ich glaube, es hängt eins am andern. Das ist in Frankreich
anders, und ist stets anders gewesen. Einst auch in Deutschland. Nur keine
Gemeinplätze hier von romanischem Formprinzip und von der Freiheit des
germanischen Dramas. Das dramatische Formprinzip ist überall dasselbe, es
bestimmt das antike Theater so gut wie das moderne, die Bühne Shakespeares
so gut wie die Calderons und Raciues. Nur in Äußerlichkeiten und Konven-
tionalitäten offenbart sich in dieser Hinsicht der verschieden geartete Geist der
Völker und Zeiten; Sophokles ist anders als Shakespeare, dieser anders als
Racine, und Racine wieder anders als Schiller. Aber das Drama ist überall
dasselbe. Überall treten Menschen auf die Bühne, um im Laufe weniger
Stunden das Menschenschiclsal, das ewig gleiche, in einem Bilde zur Darstellung
zu bringen. Das Bild will überdacht sein. Es ist so fest umgrenzt vou außen
und von innen; wird das nicht auf seiue Ausgestaltung Wirkung üben müssen?
Wird es nicht die angespannteste Aufmerksamkeit im Herausarbeiten der höchst-


Es schmerzt mich, Herr, wenn Euch mein Eifer kränkt --
Doch überlegt, was um mit ihm zu thun.
Darstellung hat hier einzutreten, um diesen etwas sehr vequemeu Übergang zu beleben.
Der Dramatiker der deutschen Jugend.

(oft zu Gunsten der dramatischen Gesamtwirkung) der Technik des Motivirens
und der Wahrscheinlichkeit zur Last fallen; wunde Punkte der Dramatiker.
Wie muß man nun staunen, einen solchen Meister der Form plötzlich mit einem
Drama hervortreten zu sehen, welches gerade nach dieser Seite hin verstößt,
und das gleich so von Grund aus, daß es selbst der oberflächlichste Beurteiler
empfindet! Respekt vor dem bewährten Meister! Er wird seine höhere Form
haben, die du uicht kennst, oder Gründe! Eine Form, eine höhere Form, die
gar keine Grenzen hat, eine Form, die mir beweisen will, daß 1 -i- 1 1 sei?
Ebensogut könnte sie mir beweisen, daß die Summe von drei, vier u. s. w. Ein¬
heiten wieder eins ergebe. Von alleu Einheiten, wohl; das wäre philosophisch.
Aber von so und so viel? Nein, das ist nicht bloß dramatisch unmöglich.
Aber Grüude? Ja es giebt Gründe! Doch bleiben wir vorläufig bei der Form.

Die geringe Achtung, in welche das Theater in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts in Deutschland geraten ist, zeigt sich äußerlich in nichts schärfer
als in der Nachlässigkeit, mit welcher die Theaterkritik sich gewöhnt hat, die
dramatische Form zu behandeln. Der Inhalt des Stückes wird meist plan
erzählt und dann — sehr selten und nur von den Besten eingehender — auf
Idee und Folgerichtigkeit hin geprüft. Das ist eine Kritik, welche sich von der
des Romans und der Novelle in nichts unterscheidet. Daß da oben auf den
Brettern eine Kunst in die Erscheinung tritt, die ihre ganz besondern Bedingungen
und Gesetze hat, scheint immer mehr in den Hintergrund des kritischen Bewußtseins
zu trete». Das ist wirklich ein untrügliches Zeichen für die Schätzung des
Theaters. Wer ist Schuld daran? Die Kritiker, weil sie das Theater so wenig
ernst nehmen, oder die Autoren, weil sie die Kritiker schließlich stumpf und
gleichgiltig machen? Ich glaube, es hängt eins am andern. Das ist in Frankreich
anders, und ist stets anders gewesen. Einst auch in Deutschland. Nur keine
Gemeinplätze hier von romanischem Formprinzip und von der Freiheit des
germanischen Dramas. Das dramatische Formprinzip ist überall dasselbe, es
bestimmt das antike Theater so gut wie das moderne, die Bühne Shakespeares
so gut wie die Calderons und Raciues. Nur in Äußerlichkeiten und Konven-
tionalitäten offenbart sich in dieser Hinsicht der verschieden geartete Geist der
Völker und Zeiten; Sophokles ist anders als Shakespeare, dieser anders als
Racine, und Racine wieder anders als Schiller. Aber das Drama ist überall
dasselbe. Überall treten Menschen auf die Bühne, um im Laufe weniger
Stunden das Menschenschiclsal, das ewig gleiche, in einem Bilde zur Darstellung
zu bringen. Das Bild will überdacht sein. Es ist so fest umgrenzt vou außen
und von innen; wird das nicht auf seiue Ausgestaltung Wirkung üben müssen?
Wird es nicht die angespannteste Aufmerksamkeit im Herausarbeiten der höchst-


Es schmerzt mich, Herr, wenn Euch mein Eifer kränkt —
Doch überlegt, was um mit ihm zu thun.
Darstellung hat hier einzutreten, um diesen etwas sehr vequemeu Übergang zu beleben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/540>, abgerufen am 20.10.2024.