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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der Dramatiker der deutschen Jugend.

Naivität der historischen Fingerzeige*) verstimmt) zu der wirklichen Geschicht¬
schreibung (sogar zu Ranke!) in Gegensatz bringt. Auch Schiller würde heute
dem größern Publikum größere Zugeständnisse machen. Die alte Streitfrage
über die Berechtigung des Geschichtsdramas in der Zeit der pragmatischen
Geschichtschreibung wieder einmal aufzunehmen, erachten wir aber nachgerade
wirklich für überflüssig.

Zugeständnisse im Edel" sind höchstens in der strengen Wissenschaft Zu¬
geständnisse zu nennen, in der Kunst sind sie keine Zugeständnisse mehr, sondern
eigentlich wieder Kunstmittel. Am meisten gilt dies von der dramatischen Kunst,
bei welcher Volkstümlichkeit im Begriffe liegt. Schon Aristoteles -- man traue
ihm nur, dem alten Schulmeister; noch kein praktischer Dramaturg ist an
ihm vorübergegangen, ohne ihn anzustaunen -- schon Aristoteles hat dies er¬
kannt mit der Einführung seines Begriffes "Episoden."**) Auch Wildenbruch
hat in seinen frühern Stücken Episoden, d. h, solche Glieder der Handlung,
die nicht streng in ihr Gefüge gehören, aber doch notwendig sind, entweder als
Ruhepunkte zur Neubelebung oder zur Einreihung neuer Motive, daher ge¬
wöhnlich um die Peripetie herum auftretend, erstere vor ihr, letztere nach ihr.
Ein vortreffliches Beispiel der letzteren Art bietet "Harold" (IV. 4, die Ver-
flvchnng durch die Mutter), für die erstgenannte "Väter und Söhne" (III. 1,
der frauzosenfeiudliche Kalfaktor), "Christoph Marlow" (die Schauspieler und
der Narr). Stücke wie "Karolinger" und "Memorie," übrigens zwei Muster¬
bilder dramatischer Geschlossenheit, namentlich das erste geradezu eine virtuose
Leistung, brauchen keine Episoden, ersteres wegen seiner ohnehin überreichen
Motivfülle, letzteres wegen seines raschen Tempos. Nur die Oberflächlichkeit
unberufener Tageskritik, die leider oft mehr dazusein scheint, die dramatischen
Begriffe des Publikums zu verwirren als zu klären, und die beispielsweise den
Ausdruck "Episode" mit Liebesszene schon fast identisch gemacht hat, nur eine
solche Kritik kann etwa in der Maurin Hamatelliva in den "Karolingern" eine
"Episode" finden. Diese Maurin und ihr Schicksal sind Grundpfeiler des
ganzen Stückes. Wildenbruch ist überhaupt in keinem Punkte so sehr Meister
und auf unbedingter Höhe, als gerade in der Kunst des dramatischen Gefüges.
Auch jene dramaturgischen Bedenken, die wir oben andeuteten, erstreckten sich
nur auf den innern Aufbau der Szene, mißglückte Übergänge***) u. dergl., die





Statt einzelner Belege nenne ich gleich besondre Vertreter dieser Aufgabe in
Wildcnbruchs Stnckeiu Wala in den "Karolingern," Wilhelm den Eroberer im "Harold."
In den andern ist diese Rolle mehr verteilt.
Fachleuten gegenüber ist der Verfasser gezwungen, hier auf die Auffassung zu ver¬
weisen, welche er über die Episodenfrage und die französischen Irrtümer über sie niedergelegt
hat in seinem Buche "Die Poetik der Renaissance" (Berlin, 1836) S, 312 und Anmerkung.
"Harold" (III, 14): Eustach (der ein schweres Unrecht an Harold begangen hat
und von Wilhelm in Grund und Boden verdammt wird):
Der Dramatiker der deutschen Jugend.

Naivität der historischen Fingerzeige*) verstimmt) zu der wirklichen Geschicht¬
schreibung (sogar zu Ranke!) in Gegensatz bringt. Auch Schiller würde heute
dem größern Publikum größere Zugeständnisse machen. Die alte Streitfrage
über die Berechtigung des Geschichtsdramas in der Zeit der pragmatischen
Geschichtschreibung wieder einmal aufzunehmen, erachten wir aber nachgerade
wirklich für überflüssig.

Zugeständnisse im Edel» sind höchstens in der strengen Wissenschaft Zu¬
geständnisse zu nennen, in der Kunst sind sie keine Zugeständnisse mehr, sondern
eigentlich wieder Kunstmittel. Am meisten gilt dies von der dramatischen Kunst,
bei welcher Volkstümlichkeit im Begriffe liegt. Schon Aristoteles — man traue
ihm nur, dem alten Schulmeister; noch kein praktischer Dramaturg ist an
ihm vorübergegangen, ohne ihn anzustaunen — schon Aristoteles hat dies er¬
kannt mit der Einführung seines Begriffes „Episoden."**) Auch Wildenbruch
hat in seinen frühern Stücken Episoden, d. h, solche Glieder der Handlung,
die nicht streng in ihr Gefüge gehören, aber doch notwendig sind, entweder als
Ruhepunkte zur Neubelebung oder zur Einreihung neuer Motive, daher ge¬
wöhnlich um die Peripetie herum auftretend, erstere vor ihr, letztere nach ihr.
Ein vortreffliches Beispiel der letzteren Art bietet „Harold" (IV. 4, die Ver-
flvchnng durch die Mutter), für die erstgenannte „Väter und Söhne" (III. 1,
der frauzosenfeiudliche Kalfaktor), „Christoph Marlow" (die Schauspieler und
der Narr). Stücke wie „Karolinger" und „Memorie," übrigens zwei Muster¬
bilder dramatischer Geschlossenheit, namentlich das erste geradezu eine virtuose
Leistung, brauchen keine Episoden, ersteres wegen seiner ohnehin überreichen
Motivfülle, letzteres wegen seines raschen Tempos. Nur die Oberflächlichkeit
unberufener Tageskritik, die leider oft mehr dazusein scheint, die dramatischen
Begriffe des Publikums zu verwirren als zu klären, und die beispielsweise den
Ausdruck „Episode" mit Liebesszene schon fast identisch gemacht hat, nur eine
solche Kritik kann etwa in der Maurin Hamatelliva in den „Karolingern" eine
„Episode" finden. Diese Maurin und ihr Schicksal sind Grundpfeiler des
ganzen Stückes. Wildenbruch ist überhaupt in keinem Punkte so sehr Meister
und auf unbedingter Höhe, als gerade in der Kunst des dramatischen Gefüges.
Auch jene dramaturgischen Bedenken, die wir oben andeuteten, erstreckten sich
nur auf den innern Aufbau der Szene, mißglückte Übergänge***) u. dergl., die





Statt einzelner Belege nenne ich gleich besondre Vertreter dieser Aufgabe in
Wildcnbruchs Stnckeiu Wala in den „Karolingern," Wilhelm den Eroberer im „Harold."
In den andern ist diese Rolle mehr verteilt.
Fachleuten gegenüber ist der Verfasser gezwungen, hier auf die Auffassung zu ver¬
weisen, welche er über die Episodenfrage und die französischen Irrtümer über sie niedergelegt
hat in seinem Buche „Die Poetik der Renaissance" (Berlin, 1836) S, 312 und Anmerkung.
„Harold" (III, 14): Eustach (der ein schweres Unrecht an Harold begangen hat
und von Wilhelm in Grund und Boden verdammt wird):
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[0539] Der Dramatiker der deutschen Jugend. Naivität der historischen Fingerzeige*) verstimmt) zu der wirklichen Geschicht¬ schreibung (sogar zu Ranke!) in Gegensatz bringt. Auch Schiller würde heute dem größern Publikum größere Zugeständnisse machen. Die alte Streitfrage über die Berechtigung des Geschichtsdramas in der Zeit der pragmatischen Geschichtschreibung wieder einmal aufzunehmen, erachten wir aber nachgerade wirklich für überflüssig. Zugeständnisse im Edel» sind höchstens in der strengen Wissenschaft Zu¬ geständnisse zu nennen, in der Kunst sind sie keine Zugeständnisse mehr, sondern eigentlich wieder Kunstmittel. Am meisten gilt dies von der dramatischen Kunst, bei welcher Volkstümlichkeit im Begriffe liegt. Schon Aristoteles — man traue ihm nur, dem alten Schulmeister; noch kein praktischer Dramaturg ist an ihm vorübergegangen, ohne ihn anzustaunen — schon Aristoteles hat dies er¬ kannt mit der Einführung seines Begriffes „Episoden."**) Auch Wildenbruch hat in seinen frühern Stücken Episoden, d. h, solche Glieder der Handlung, die nicht streng in ihr Gefüge gehören, aber doch notwendig sind, entweder als Ruhepunkte zur Neubelebung oder zur Einreihung neuer Motive, daher ge¬ wöhnlich um die Peripetie herum auftretend, erstere vor ihr, letztere nach ihr. Ein vortreffliches Beispiel der letzteren Art bietet „Harold" (IV. 4, die Ver- flvchnng durch die Mutter), für die erstgenannte „Väter und Söhne" (III. 1, der frauzosenfeiudliche Kalfaktor), „Christoph Marlow" (die Schauspieler und der Narr). Stücke wie „Karolinger" und „Memorie," übrigens zwei Muster¬ bilder dramatischer Geschlossenheit, namentlich das erste geradezu eine virtuose Leistung, brauchen keine Episoden, ersteres wegen seiner ohnehin überreichen Motivfülle, letzteres wegen seines raschen Tempos. Nur die Oberflächlichkeit unberufener Tageskritik, die leider oft mehr dazusein scheint, die dramatischen Begriffe des Publikums zu verwirren als zu klären, und die beispielsweise den Ausdruck „Episode" mit Liebesszene schon fast identisch gemacht hat, nur eine solche Kritik kann etwa in der Maurin Hamatelliva in den „Karolingern" eine „Episode" finden. Diese Maurin und ihr Schicksal sind Grundpfeiler des ganzen Stückes. Wildenbruch ist überhaupt in keinem Punkte so sehr Meister und auf unbedingter Höhe, als gerade in der Kunst des dramatischen Gefüges. Auch jene dramaturgischen Bedenken, die wir oben andeuteten, erstreckten sich nur auf den innern Aufbau der Szene, mißglückte Übergänge***) u. dergl., die Statt einzelner Belege nenne ich gleich besondre Vertreter dieser Aufgabe in Wildcnbruchs Stnckeiu Wala in den „Karolingern," Wilhelm den Eroberer im „Harold." In den andern ist diese Rolle mehr verteilt. Fachleuten gegenüber ist der Verfasser gezwungen, hier auf die Auffassung zu ver¬ weisen, welche er über die Episodenfrage und die französischen Irrtümer über sie niedergelegt hat in seinem Buche „Die Poetik der Renaissance" (Berlin, 1836) S, 312 und Anmerkung. „Harold" (III, 14): Eustach (der ein schweres Unrecht an Harold begangen hat und von Wilhelm in Grund und Boden verdammt wird):

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/539>, abgerufen am 20.10.2024.