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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Agitation für die größere Freiheit der evangelischen llirche in Preußen,

Soll NUN die evangelische Kirche in Preußen nach der Idee des Herrn
von Kleist-Retzow, der seine Wünsche in gesetzgeberische Paragraphen umzusetzen
die erforderliche parlamentarische Erfahrung hat, der römischen Kirche ent¬
sprechend ausgestattet werden, so ist der finanzielle Aufwand nicht unbedeutend,
und er legt dem Staate viel mehr Verpflichtungen auf als jetzt. Es werden vom
Herrn von Kleist-Retzow gefordert für neue Parvchien (in Tausenden von Mark)
450, für Seminare und Vicariate 450, Ablösung von Stolgebühren 1500,
Bistümer 1140, evangelisches Kirchenregiment 1420, für Geistliche beider Kon¬
fessionen 9300, zusammen 14260 000 Mark; dafür fielen im Budget weg
9 022653 Mark, der Mehrbedarf wäre also ungefähr 5^ Millionen Mark --
eine ganz schone Erhöhung. Es ist abzuwarten, ob die Regierung mit einer
ähnlichen Forderung vorgehen und ob sie dafür eine Majorität finden wird.
Wenn die Evangelischen für ihre Sache im Herrenhause und im Abgeordneten¬
hause einen evangelischen Mann von der sozialen Bedeutung des Bischofs Kopp
oder auch nur einen wie Windthorst hätten, so ließe sich manches erwarten.
Aber wo treibt die evangelische Kirche so "vornehme" Männer auf? Und sie
müßten sehr vornehm sein, um etwas zu erreichen. Denn für gewöhnlich spielt
das evangelische Bekenntnis bei den parlamentarischen Mitgliedern keine Rolle.
Es sind so viele Evangelische im Abgeordnetenhause, daß, wenn sie ihr Be¬
kenntnis festhalten wollten, dem Zentrum kein Antrag gelänge. Aber offenbar
gruppiren sich die Herren bei ihren Abstimmungen um ganz andre Interessen
als um die kirchlichen. Wir haben darüber nicht zu urteilen, aber wir er¬
wähnen es gegenüber der sanguinischen Beschlußfassung einer großen Barmer
Versammlmig (vom 20. Oktober), in der es heißt: "Ebenso erwarten wir von
allen evangelischen Abgeordneten ohne Unterschied der Parteistellung, daß sie
mit aller Energie für die Gewährung unsrer (Geld-) Forderungen eintreten
werden." Das kann man nur erwarten, wenn man die gute Sache unter
einem sehr großen Gesichtswinkel erblickt; noch mehr verkennt Venter die
Lage, wenn er den (evangelischen) Abgeordneten erklären will: "Wenn ihr nicht
mit aller Energie uus zu helfen sucht (mit Geld und Dotationen), so habt ihr
euer Mandat verwirkt, und wir wühlen andre Leute." Wir hätten auch manchen
persönlichen Wunsch in Bezug auf die Ausmahl unsrer Abgeordneten, aber im
ganzen kann man doch zufrieden sein. Und sollten Herr Venter und die acht¬
hundert Freunde, zu denen er redete, wirklich die Macht besitzen, die lauen
evangelischen Abgeordneten durch eifrige Männer zu ersetzen? Es ist kaum zu
glauben; beim besten Willen reicht ihr Einfluß nicht so weit. Wie es aber
auch mit den Aussichten auf eine gerechtere Verteilung der Staatsmittel auf
die beiden Kirchen stehe, die Sache, für die man kämpft, ist ohne Zweifel richtig.
Sie wird auch von den Autoritäten als gerecht anerkannt, und es ist nicht zu
verkennen, daß auch die Minister Falk, Puttkamer und Goßler nach dem Maße
ihrer wenigen Mittel das Bessere erstrebt haben. Dienen die Agitationen dazu,


Die Agitation für die größere Freiheit der evangelischen llirche in Preußen,

Soll NUN die evangelische Kirche in Preußen nach der Idee des Herrn
von Kleist-Retzow, der seine Wünsche in gesetzgeberische Paragraphen umzusetzen
die erforderliche parlamentarische Erfahrung hat, der römischen Kirche ent¬
sprechend ausgestattet werden, so ist der finanzielle Aufwand nicht unbedeutend,
und er legt dem Staate viel mehr Verpflichtungen auf als jetzt. Es werden vom
Herrn von Kleist-Retzow gefordert für neue Parvchien (in Tausenden von Mark)
450, für Seminare und Vicariate 450, Ablösung von Stolgebühren 1500,
Bistümer 1140, evangelisches Kirchenregiment 1420, für Geistliche beider Kon¬
fessionen 9300, zusammen 14260 000 Mark; dafür fielen im Budget weg
9 022653 Mark, der Mehrbedarf wäre also ungefähr 5^ Millionen Mark —
eine ganz schone Erhöhung. Es ist abzuwarten, ob die Regierung mit einer
ähnlichen Forderung vorgehen und ob sie dafür eine Majorität finden wird.
Wenn die Evangelischen für ihre Sache im Herrenhause und im Abgeordneten¬
hause einen evangelischen Mann von der sozialen Bedeutung des Bischofs Kopp
oder auch nur einen wie Windthorst hätten, so ließe sich manches erwarten.
Aber wo treibt die evangelische Kirche so „vornehme" Männer auf? Und sie
müßten sehr vornehm sein, um etwas zu erreichen. Denn für gewöhnlich spielt
das evangelische Bekenntnis bei den parlamentarischen Mitgliedern keine Rolle.
Es sind so viele Evangelische im Abgeordnetenhause, daß, wenn sie ihr Be¬
kenntnis festhalten wollten, dem Zentrum kein Antrag gelänge. Aber offenbar
gruppiren sich die Herren bei ihren Abstimmungen um ganz andre Interessen
als um die kirchlichen. Wir haben darüber nicht zu urteilen, aber wir er¬
wähnen es gegenüber der sanguinischen Beschlußfassung einer großen Barmer
Versammlmig (vom 20. Oktober), in der es heißt: „Ebenso erwarten wir von
allen evangelischen Abgeordneten ohne Unterschied der Parteistellung, daß sie
mit aller Energie für die Gewährung unsrer (Geld-) Forderungen eintreten
werden." Das kann man nur erwarten, wenn man die gute Sache unter
einem sehr großen Gesichtswinkel erblickt; noch mehr verkennt Venter die
Lage, wenn er den (evangelischen) Abgeordneten erklären will: „Wenn ihr nicht
mit aller Energie uus zu helfen sucht (mit Geld und Dotationen), so habt ihr
euer Mandat verwirkt, und wir wühlen andre Leute." Wir hätten auch manchen
persönlichen Wunsch in Bezug auf die Ausmahl unsrer Abgeordneten, aber im
ganzen kann man doch zufrieden sein. Und sollten Herr Venter und die acht¬
hundert Freunde, zu denen er redete, wirklich die Macht besitzen, die lauen
evangelischen Abgeordneten durch eifrige Männer zu ersetzen? Es ist kaum zu
glauben; beim besten Willen reicht ihr Einfluß nicht so weit. Wie es aber
auch mit den Aussichten auf eine gerechtere Verteilung der Staatsmittel auf
die beiden Kirchen stehe, die Sache, für die man kämpft, ist ohne Zweifel richtig.
Sie wird auch von den Autoritäten als gerecht anerkannt, und es ist nicht zu
verkennen, daß auch die Minister Falk, Puttkamer und Goßler nach dem Maße
ihrer wenigen Mittel das Bessere erstrebt haben. Dienen die Agitationen dazu,


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[0522] Die Agitation für die größere Freiheit der evangelischen llirche in Preußen, Soll NUN die evangelische Kirche in Preußen nach der Idee des Herrn von Kleist-Retzow, der seine Wünsche in gesetzgeberische Paragraphen umzusetzen die erforderliche parlamentarische Erfahrung hat, der römischen Kirche ent¬ sprechend ausgestattet werden, so ist der finanzielle Aufwand nicht unbedeutend, und er legt dem Staate viel mehr Verpflichtungen auf als jetzt. Es werden vom Herrn von Kleist-Retzow gefordert für neue Parvchien (in Tausenden von Mark) 450, für Seminare und Vicariate 450, Ablösung von Stolgebühren 1500, Bistümer 1140, evangelisches Kirchenregiment 1420, für Geistliche beider Kon¬ fessionen 9300, zusammen 14260 000 Mark; dafür fielen im Budget weg 9 022653 Mark, der Mehrbedarf wäre also ungefähr 5^ Millionen Mark — eine ganz schone Erhöhung. Es ist abzuwarten, ob die Regierung mit einer ähnlichen Forderung vorgehen und ob sie dafür eine Majorität finden wird. Wenn die Evangelischen für ihre Sache im Herrenhause und im Abgeordneten¬ hause einen evangelischen Mann von der sozialen Bedeutung des Bischofs Kopp oder auch nur einen wie Windthorst hätten, so ließe sich manches erwarten. Aber wo treibt die evangelische Kirche so „vornehme" Männer auf? Und sie müßten sehr vornehm sein, um etwas zu erreichen. Denn für gewöhnlich spielt das evangelische Bekenntnis bei den parlamentarischen Mitgliedern keine Rolle. Es sind so viele Evangelische im Abgeordnetenhause, daß, wenn sie ihr Be¬ kenntnis festhalten wollten, dem Zentrum kein Antrag gelänge. Aber offenbar gruppiren sich die Herren bei ihren Abstimmungen um ganz andre Interessen als um die kirchlichen. Wir haben darüber nicht zu urteilen, aber wir er¬ wähnen es gegenüber der sanguinischen Beschlußfassung einer großen Barmer Versammlmig (vom 20. Oktober), in der es heißt: „Ebenso erwarten wir von allen evangelischen Abgeordneten ohne Unterschied der Parteistellung, daß sie mit aller Energie für die Gewährung unsrer (Geld-) Forderungen eintreten werden." Das kann man nur erwarten, wenn man die gute Sache unter einem sehr großen Gesichtswinkel erblickt; noch mehr verkennt Venter die Lage, wenn er den (evangelischen) Abgeordneten erklären will: „Wenn ihr nicht mit aller Energie uus zu helfen sucht (mit Geld und Dotationen), so habt ihr euer Mandat verwirkt, und wir wühlen andre Leute." Wir hätten auch manchen persönlichen Wunsch in Bezug auf die Ausmahl unsrer Abgeordneten, aber im ganzen kann man doch zufrieden sein. Und sollten Herr Venter und die acht¬ hundert Freunde, zu denen er redete, wirklich die Macht besitzen, die lauen evangelischen Abgeordneten durch eifrige Männer zu ersetzen? Es ist kaum zu glauben; beim besten Willen reicht ihr Einfluß nicht so weit. Wie es aber auch mit den Aussichten auf eine gerechtere Verteilung der Staatsmittel auf die beiden Kirchen stehe, die Sache, für die man kämpft, ist ohne Zweifel richtig. Sie wird auch von den Autoritäten als gerecht anerkannt, und es ist nicht zu verkennen, daß auch die Minister Falk, Puttkamer und Goßler nach dem Maße ihrer wenigen Mittel das Bessere erstrebt haben. Dienen die Agitationen dazu,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/522>, abgerufen am 27.09.2024.