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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Line kritische Auseinandersetzung.

es je vorher gethan hat. Mit Shakespeare hat er es wohl einmal versucht und
dabei heimlich gedacht: "Es ist doch seltsam, was die Leute für ein Wesen von
dem alten Schmöker machen; ich kann nichts besondres an ihm finden." Natürlich
hat er sich sehr gehütet, diese aufrichtigen Gedanken jemals lant werden zu lassen.
Sprecht aber mit ihm über Homer, von dem er in der Schule ja mit Mühe
und Not drittehalb Gesänge zerknaupelt hat, und ihr werdet ein blaues Wunder
sehen, welcher Begeisterung für Poesie der Mann fähig ist! Ja bringt erst
das Gespräch auf Kunst im allgemeinen, und er wird euch über deren Bedeutung
große Worte sagen. Ihm und seinesgleichen geht es mit der Kunst wie gewissen
Leuten mit Gott, sie haben nie etwas von ihm verspürt, nieder von innen noch
von müße"; aber sie wissen genau, was sie von ihm zu halten, und noch genauer,
was sie von ihm zu reden habe".

Wer die Menge kennt, von der es heißt, daß ihre Stimme Gottes Stimme
bei, mag meinetwegen alles mögliche von ihr verlange" und erwarten, aber
jedenfalls nicht, daß sie entscheide, was el" Kunstwerk und was keines sei. Und
da diese Menge unmöglich selber Nüssen kann, daß ihr diese Befähigung abgeht,
u"d doch ihr Urteil fällt, das natürlich darnach ist, so mag derjenige, welcher
nicht zu ihr gehört, sich gelegentlich und augenblicklich einmal über sie ärgern.
Aber er wird ihr nicht dauernd grolle", ihr keine Schuld geben, sondern über
die vox, voi im Stillen lächeln. Nein, nicht das Publikum trifft die Anklage,
sondern die Herren Kritiker. Von jenen kann ma" nicht mehr erwarte", aber
von diese" muß man es tonnen. "Das Publikum -- sagt schon Schopenhauer --
wendet seine Teiliiahme sehr viel mehr dem Stoff als der Form zu und bleibt
eben dadurch in seiner höhern Bildung zurück." Dies sagt der Frankfurter
Philosoph von Bücher" überhaupt und fügt dann hinzu: "Das diesem schlechten
Hange des Publikums fröhueude Unter"ebene", durch den Stoff zu wirken, wird
absolut verwerflich in Fächern, wo das Verdienst ausdrücklich in der Form
liegen soll -- also in de" poetische". Deimoch sieht man häufig schlechte dramatische
Schriftsteller bestrebt, mittels des Stoffes das Theater zu füllen." Wenn
Schopenhauer heute lebte, würde er hinzufügen: Dennoch giebt es in Deutschland
sich als Dichter gerirende Schriftsteller, deren Werke einzig oder doch vorzüglich
mir durch den in ihnen verarbeiteten Stoff wirken und die trotz dieses Umstanden,
oder gerade wegen desselben, nicht "ur vom Publikum angestaunt, mit Ruhm
und Ehre überschüttet, sondern sogar von der Kritik aufs höchste gepriesen
werden.

Zwar nicht die gesamte deutsche Kritik trifft dieser Vorwurf, aber er trifft
sie in größer"! Umfange, als man meine" sollte. Zudem ist es die schlimmste
Anschuldigung, die man erheben kann; den" etwa Unehrlichkeit, Bestechlichkeit,
Rachsucht "det wie alle die schöne" Di"ge sonst heißen, macht man dem Mensche"
im Kunstrichter und nicht dem Kunstrichter selbst zum Vorwurf. Kunstrichter!
welch altfränkisches Wort, heute ganz verdrängt von dem griechischen Fremdling,


Line kritische Auseinandersetzung.

es je vorher gethan hat. Mit Shakespeare hat er es wohl einmal versucht und
dabei heimlich gedacht: „Es ist doch seltsam, was die Leute für ein Wesen von
dem alten Schmöker machen; ich kann nichts besondres an ihm finden." Natürlich
hat er sich sehr gehütet, diese aufrichtigen Gedanken jemals lant werden zu lassen.
Sprecht aber mit ihm über Homer, von dem er in der Schule ja mit Mühe
und Not drittehalb Gesänge zerknaupelt hat, und ihr werdet ein blaues Wunder
sehen, welcher Begeisterung für Poesie der Mann fähig ist! Ja bringt erst
das Gespräch auf Kunst im allgemeinen, und er wird euch über deren Bedeutung
große Worte sagen. Ihm und seinesgleichen geht es mit der Kunst wie gewissen
Leuten mit Gott, sie haben nie etwas von ihm verspürt, nieder von innen noch
von müße»; aber sie wissen genau, was sie von ihm zu halten, und noch genauer,
was sie von ihm zu reden habe».

Wer die Menge kennt, von der es heißt, daß ihre Stimme Gottes Stimme
bei, mag meinetwegen alles mögliche von ihr verlange» und erwarten, aber
jedenfalls nicht, daß sie entscheide, was el» Kunstwerk und was keines sei. Und
da diese Menge unmöglich selber Nüssen kann, daß ihr diese Befähigung abgeht,
u»d doch ihr Urteil fällt, das natürlich darnach ist, so mag derjenige, welcher
nicht zu ihr gehört, sich gelegentlich und augenblicklich einmal über sie ärgern.
Aber er wird ihr nicht dauernd grolle», ihr keine Schuld geben, sondern über
die vox, voi im Stillen lächeln. Nein, nicht das Publikum trifft die Anklage,
sondern die Herren Kritiker. Von jenen kann ma» nicht mehr erwarte», aber
von diese» muß man es tonnen. „Das Publikum — sagt schon Schopenhauer —
wendet seine Teiliiahme sehr viel mehr dem Stoff als der Form zu und bleibt
eben dadurch in seiner höhern Bildung zurück." Dies sagt der Frankfurter
Philosoph von Bücher» überhaupt und fügt dann hinzu: „Das diesem schlechten
Hange des Publikums fröhueude Unter»ebene», durch den Stoff zu wirken, wird
absolut verwerflich in Fächern, wo das Verdienst ausdrücklich in der Form
liegen soll — also in de» poetische». Deimoch sieht man häufig schlechte dramatische
Schriftsteller bestrebt, mittels des Stoffes das Theater zu füllen." Wenn
Schopenhauer heute lebte, würde er hinzufügen: Dennoch giebt es in Deutschland
sich als Dichter gerirende Schriftsteller, deren Werke einzig oder doch vorzüglich
mir durch den in ihnen verarbeiteten Stoff wirken und die trotz dieses Umstanden,
oder gerade wegen desselben, nicht »ur vom Publikum angestaunt, mit Ruhm
und Ehre überschüttet, sondern sogar von der Kritik aufs höchste gepriesen
werden.

Zwar nicht die gesamte deutsche Kritik trifft dieser Vorwurf, aber er trifft
sie in größer»! Umfange, als man meine» sollte. Zudem ist es die schlimmste
Anschuldigung, die man erheben kann; den» etwa Unehrlichkeit, Bestechlichkeit,
Rachsucht »det wie alle die schöne» Di»ge sonst heißen, macht man dem Mensche»
im Kunstrichter und nicht dem Kunstrichter selbst zum Vorwurf. Kunstrichter!
welch altfränkisches Wort, heute ganz verdrängt von dem griechischen Fremdling,


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[0432] Line kritische Auseinandersetzung. es je vorher gethan hat. Mit Shakespeare hat er es wohl einmal versucht und dabei heimlich gedacht: „Es ist doch seltsam, was die Leute für ein Wesen von dem alten Schmöker machen; ich kann nichts besondres an ihm finden." Natürlich hat er sich sehr gehütet, diese aufrichtigen Gedanken jemals lant werden zu lassen. Sprecht aber mit ihm über Homer, von dem er in der Schule ja mit Mühe und Not drittehalb Gesänge zerknaupelt hat, und ihr werdet ein blaues Wunder sehen, welcher Begeisterung für Poesie der Mann fähig ist! Ja bringt erst das Gespräch auf Kunst im allgemeinen, und er wird euch über deren Bedeutung große Worte sagen. Ihm und seinesgleichen geht es mit der Kunst wie gewissen Leuten mit Gott, sie haben nie etwas von ihm verspürt, nieder von innen noch von müße»; aber sie wissen genau, was sie von ihm zu halten, und noch genauer, was sie von ihm zu reden habe». Wer die Menge kennt, von der es heißt, daß ihre Stimme Gottes Stimme bei, mag meinetwegen alles mögliche von ihr verlange» und erwarten, aber jedenfalls nicht, daß sie entscheide, was el» Kunstwerk und was keines sei. Und da diese Menge unmöglich selber Nüssen kann, daß ihr diese Befähigung abgeht, u»d doch ihr Urteil fällt, das natürlich darnach ist, so mag derjenige, welcher nicht zu ihr gehört, sich gelegentlich und augenblicklich einmal über sie ärgern. Aber er wird ihr nicht dauernd grolle», ihr keine Schuld geben, sondern über die vox, voi im Stillen lächeln. Nein, nicht das Publikum trifft die Anklage, sondern die Herren Kritiker. Von jenen kann ma» nicht mehr erwarte», aber von diese» muß man es tonnen. „Das Publikum — sagt schon Schopenhauer — wendet seine Teiliiahme sehr viel mehr dem Stoff als der Form zu und bleibt eben dadurch in seiner höhern Bildung zurück." Dies sagt der Frankfurter Philosoph von Bücher» überhaupt und fügt dann hinzu: „Das diesem schlechten Hange des Publikums fröhueude Unter»ebene», durch den Stoff zu wirken, wird absolut verwerflich in Fächern, wo das Verdienst ausdrücklich in der Form liegen soll — also in de» poetische». Deimoch sieht man häufig schlechte dramatische Schriftsteller bestrebt, mittels des Stoffes das Theater zu füllen." Wenn Schopenhauer heute lebte, würde er hinzufügen: Dennoch giebt es in Deutschland sich als Dichter gerirende Schriftsteller, deren Werke einzig oder doch vorzüglich mir durch den in ihnen verarbeiteten Stoff wirken und die trotz dieses Umstanden, oder gerade wegen desselben, nicht »ur vom Publikum angestaunt, mit Ruhm und Ehre überschüttet, sondern sogar von der Kritik aufs höchste gepriesen werden. Zwar nicht die gesamte deutsche Kritik trifft dieser Vorwurf, aber er trifft sie in größer»! Umfange, als man meine» sollte. Zudem ist es die schlimmste Anschuldigung, die man erheben kann; den» etwa Unehrlichkeit, Bestechlichkeit, Rachsucht »det wie alle die schöne» Di»ge sonst heißen, macht man dem Mensche» im Kunstrichter und nicht dem Kunstrichter selbst zum Vorwurf. Kunstrichter! welch altfränkisches Wort, heute ganz verdrängt von dem griechischen Fremdling,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/432>, abgerufen am 20.10.2024.