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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Line kritische Auseinandersetzung.

die bekannte Erfahrung, daß zwar sehr gute Kunstwerke der Dichtung populär
werden können, aber nur solche, die neben dem künstlerischen das stoffliche Interesse
sehr stark anregen, daß aber in der Regel die auch im guten Sinne populären
Werke ein überwiegend stoffliches Interesse bieten. Zu den ersteren gehört,
nach meiner Ansicht, "Werther" und der "Don Quixote," zu deu letzteren ge¬
hören "Kabale und Liebe," die "Ränder," die Schillerschen Balladen.

Wenn wir diese Thatsache, die nicht immer genug Beachtung findet, im
Auge behalten, werden wir gegen das Publikum nicht ungerecht sein. Eine je
höhere Meinung wir selber von der Kunst und dem tiefen Geheimnis ihres
innern Wesens haben, desto weniger werden wir uns wundern oder gar unge¬
halten sein, wenn wir sehen, daß die große Menge keine Ahnung davon hat.
Wir werden dann überzeugt sein, daß sie eine solche niemals gehabt hat, noch
jemals haben wird.

Ich betrachte als ausgemacht: das große Publikum läßt in Kunstwerken,
seien es Werke der bildenden Kunst oder der Dichtung, nnr den Stoff auf sich
wirken. Daraus folgt, daß derjenige Teil des Publikums, welchen ein histo¬
rischer, archäologisch - antiquarischer, naturwissenschaftlicher!, ethnographischer,
anthropologischer, mit einem Worte, wissenschaftlicher Stoff zu interessiren
vermag, sich darauf, wenn er will, schon etwas zu Gute thun darf. Denn es
gehört dazu immer ein, wenn auch noch so geringer Anflug von wissenschaftlicher
Bildung, was man so "Bildung" nennt. Für nichtwissenschaftliche Stoffe, z. B.
Liebesgeschichten und sonstige Geschehnisse des Menschenlebens, kann sich jede
Köchin interessiren, wenn ihr die Sprache verständlich ist. Und von seiner
Köchin will man sich doch unterscheiden! Ein besondrer, wenn auch nicht gerade
sehr triftiger Grund für die erstere Klasse, über die letzteren sich erhaben zu fühle",
liegt darin, daß sie unter sich hie und da Berühmtheiten der Wissenschaft zählt
oder wenigstens Handwerker und Handlanger, was nicht verfehlt, dieser Klasse
einen besondern Anstrich zu verleihen und viele" gewaltig zu imponiren. Auch
wegen dieser Eitelkeit werden mir den guten Leuten nicht zürnen. Wenn sie
einmal geahnt hätten, daß der Stoff nicht nur nicht das einzige, sondern
eigentlich das geringfügigste im Kunstwerke ist und an dessen Wesen als solchem
gar keinen Teil hat, so müßten sie auch einsehen, daß sie mit ihrer Wißbegier
oder gelehrten Neugierde, womit sie ihren gefeierten "Dichter" lesen, wahren
Kunstgenüssen um kein Haar näher sind als die Köchin oder der Schneider¬
lehrling, welche ihren Leihbiblivthckbaud verschlingen, um zu erfaliren, ob und
wie "sie sich kriegen," ganz abgesehen davon, daß bei den ersteren dieser letztere
meistens ebenfalls nebenherläuft.

"Ich bin ein prosaischer Mensch" -- hört man oft sagen, und der Sprecher
will sich vor der Welt damit rühmen. "Gedichte, Verse, Geisteskvst für Backfische!"
sagt ein ernster Mann in Amt und Würden. Er hat seit seinem zwei- oder drei-
uudzwanzigsten Jahre vielleicht seinen Goethe nicht mehr aufgeschlagen, wenn er


Line kritische Auseinandersetzung.

die bekannte Erfahrung, daß zwar sehr gute Kunstwerke der Dichtung populär
werden können, aber nur solche, die neben dem künstlerischen das stoffliche Interesse
sehr stark anregen, daß aber in der Regel die auch im guten Sinne populären
Werke ein überwiegend stoffliches Interesse bieten. Zu den ersteren gehört,
nach meiner Ansicht, „Werther" und der „Don Quixote," zu deu letzteren ge¬
hören „Kabale und Liebe," die „Ränder," die Schillerschen Balladen.

Wenn wir diese Thatsache, die nicht immer genug Beachtung findet, im
Auge behalten, werden wir gegen das Publikum nicht ungerecht sein. Eine je
höhere Meinung wir selber von der Kunst und dem tiefen Geheimnis ihres
innern Wesens haben, desto weniger werden wir uns wundern oder gar unge¬
halten sein, wenn wir sehen, daß die große Menge keine Ahnung davon hat.
Wir werden dann überzeugt sein, daß sie eine solche niemals gehabt hat, noch
jemals haben wird.

Ich betrachte als ausgemacht: das große Publikum läßt in Kunstwerken,
seien es Werke der bildenden Kunst oder der Dichtung, nnr den Stoff auf sich
wirken. Daraus folgt, daß derjenige Teil des Publikums, welchen ein histo¬
rischer, archäologisch - antiquarischer, naturwissenschaftlicher!, ethnographischer,
anthropologischer, mit einem Worte, wissenschaftlicher Stoff zu interessiren
vermag, sich darauf, wenn er will, schon etwas zu Gute thun darf. Denn es
gehört dazu immer ein, wenn auch noch so geringer Anflug von wissenschaftlicher
Bildung, was man so „Bildung" nennt. Für nichtwissenschaftliche Stoffe, z. B.
Liebesgeschichten und sonstige Geschehnisse des Menschenlebens, kann sich jede
Köchin interessiren, wenn ihr die Sprache verständlich ist. Und von seiner
Köchin will man sich doch unterscheiden! Ein besondrer, wenn auch nicht gerade
sehr triftiger Grund für die erstere Klasse, über die letzteren sich erhaben zu fühle»,
liegt darin, daß sie unter sich hie und da Berühmtheiten der Wissenschaft zählt
oder wenigstens Handwerker und Handlanger, was nicht verfehlt, dieser Klasse
einen besondern Anstrich zu verleihen und viele» gewaltig zu imponiren. Auch
wegen dieser Eitelkeit werden mir den guten Leuten nicht zürnen. Wenn sie
einmal geahnt hätten, daß der Stoff nicht nur nicht das einzige, sondern
eigentlich das geringfügigste im Kunstwerke ist und an dessen Wesen als solchem
gar keinen Teil hat, so müßten sie auch einsehen, daß sie mit ihrer Wißbegier
oder gelehrten Neugierde, womit sie ihren gefeierten „Dichter" lesen, wahren
Kunstgenüssen um kein Haar näher sind als die Köchin oder der Schneider¬
lehrling, welche ihren Leihbiblivthckbaud verschlingen, um zu erfaliren, ob und
wie „sie sich kriegen," ganz abgesehen davon, daß bei den ersteren dieser letztere
meistens ebenfalls nebenherläuft.

„Ich bin ein prosaischer Mensch" — hört man oft sagen, und der Sprecher
will sich vor der Welt damit rühmen. „Gedichte, Verse, Geisteskvst für Backfische!"
sagt ein ernster Mann in Amt und Würden. Er hat seit seinem zwei- oder drei-
uudzwanzigsten Jahre vielleicht seinen Goethe nicht mehr aufgeschlagen, wenn er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/431>, abgerufen am 20.10.2024.