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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Eine kritische Auseinandersetzung.

So fängt die Dichtung an. Wir erwarten nun im Verlaufe derselben über
den Stand dieser vier Wissenschaften zur Zeit Fausts belehrt zu werden, mit
andern Worten: positive Details ans der Geschichte der Philosophie, der
Jurisprudenz u. s. w. zu erhalten. In der bekannten Szene zwischen Mephisto
und dein Schiller glauben wir auch schon unsre Hoffnung sich erfüllen zu sehen.
Aber welche Täuschung! Nichts als schnodderige Redensarten werden los¬
gelassen. Auf dem Spaziergange am Ostermontage, an der Stelle, wo Faust
und Wagner von der Höhe auf die Stadt zurückschauen, wäre herrliche Ge¬
legenheit gewesen, in einem Monolog oder Dialog das Bild der Stadt in allen
seinen Einzelheiten echt künstlerisch und dichterisch zu malen und so, selbst ohne
daß es so scheint, eine die ganze einschlägige Wissenschaft erschöpfende Abhandlung
über mittelalterliches Befestigungswesen zu geben! Statt dessen deklamirt Faust:


Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick --

als ob sich diese Dinge nicht ganz von selbst verstünden, und auch uur eine
Seele daraus etwas lernen könnte! Alexander Dumas der Jüngere ist doch
kein übertriebener Goethcverehrer und Goethcenthusiast. Aber wenn er behauptet,
Goethe hätte uns im zweiten Teile des "Faust" einen belehrenden und äußerst
erschöpfenden Traktat über Kunstdünger gegeben, wenn dieser nur zu Goethes
Zeiten erfunden gewesen wäre, so überschätzt doch der in diesem Falle nur allzu
wohlwollende Franzose unsern alten Olympier. Nein, das wäre ihm nie in den
Sinn gekommen. Eher möchte er schon eine Portion des genannten Produktes
in ein sauberes Schächtelchen gepackt und mit einem niedlichen Epigramm an
den um Volksaufklärung so hochverdienten Nicolai geschickt haben. Zu solchen
Allotrien war er eher geneigt. Aber eine von der Menge noch wenig gekannte
und deshalb zu Unterrichtszwccken besonders geeignete wahrhaftige historische
Persönlichkeit wie etwa den Mnlekschah, genannt Dschelcileddiu Dschelaleddaula,
in seinem der Geschichte mit deutschwisfenschaftlicher Treue nachgezeichneten
Charakter zum Helden eines Dramas oder Romans zu machen und damit
zugleich ein in deu kleinsten Einzelheiten skrupulös ausgeführtes, Genre und
Historie harmonisch verschmelzendes Gemälde von den Kulturzustünden Turkestans
und Mavaralnahars im ersten Viertel des elften Jahrhunderts zu geben, das
wäre dem Herrn Geheimrat nie eingefallen. Er hat freilich Unglück gehabt,
daß er gerade zu seiner Zeit leben mußte. Wäre er heute fünfundzwanzig
Jahre alt, wäre er, anstatt staatlicher Geschäftsmann, Privatdozent der Geschichte
und Professor in 8p6 zu Leipzig oder Königsberg und sähe die Erfolge der
großen Meister, er würde, findig wie er war, die Erfahrung sich zu Nutze
mache" und infolge dessen gewiß Erkleckliches leisten!

Die Menge verhält sich Kunstwerken, also auch wahren Dichterwerken
gegenüber wie Kinder, wie bis zu einem gewissen Alter ausnahmslos jeder.
Das Kunstwerk wirkt auf sie durch seinen Stoff, und nur durch diesen. Daher


Eine kritische Auseinandersetzung.

So fängt die Dichtung an. Wir erwarten nun im Verlaufe derselben über
den Stand dieser vier Wissenschaften zur Zeit Fausts belehrt zu werden, mit
andern Worten: positive Details ans der Geschichte der Philosophie, der
Jurisprudenz u. s. w. zu erhalten. In der bekannten Szene zwischen Mephisto
und dein Schiller glauben wir auch schon unsre Hoffnung sich erfüllen zu sehen.
Aber welche Täuschung! Nichts als schnodderige Redensarten werden los¬
gelassen. Auf dem Spaziergange am Ostermontage, an der Stelle, wo Faust
und Wagner von der Höhe auf die Stadt zurückschauen, wäre herrliche Ge¬
legenheit gewesen, in einem Monolog oder Dialog das Bild der Stadt in allen
seinen Einzelheiten echt künstlerisch und dichterisch zu malen und so, selbst ohne
daß es so scheint, eine die ganze einschlägige Wissenschaft erschöpfende Abhandlung
über mittelalterliches Befestigungswesen zu geben! Statt dessen deklamirt Faust:


Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick —

als ob sich diese Dinge nicht ganz von selbst verstünden, und auch uur eine
Seele daraus etwas lernen könnte! Alexander Dumas der Jüngere ist doch
kein übertriebener Goethcverehrer und Goethcenthusiast. Aber wenn er behauptet,
Goethe hätte uns im zweiten Teile des „Faust" einen belehrenden und äußerst
erschöpfenden Traktat über Kunstdünger gegeben, wenn dieser nur zu Goethes
Zeiten erfunden gewesen wäre, so überschätzt doch der in diesem Falle nur allzu
wohlwollende Franzose unsern alten Olympier. Nein, das wäre ihm nie in den
Sinn gekommen. Eher möchte er schon eine Portion des genannten Produktes
in ein sauberes Schächtelchen gepackt und mit einem niedlichen Epigramm an
den um Volksaufklärung so hochverdienten Nicolai geschickt haben. Zu solchen
Allotrien war er eher geneigt. Aber eine von der Menge noch wenig gekannte
und deshalb zu Unterrichtszwccken besonders geeignete wahrhaftige historische
Persönlichkeit wie etwa den Mnlekschah, genannt Dschelcileddiu Dschelaleddaula,
in seinem der Geschichte mit deutschwisfenschaftlicher Treue nachgezeichneten
Charakter zum Helden eines Dramas oder Romans zu machen und damit
zugleich ein in deu kleinsten Einzelheiten skrupulös ausgeführtes, Genre und
Historie harmonisch verschmelzendes Gemälde von den Kulturzustünden Turkestans
und Mavaralnahars im ersten Viertel des elften Jahrhunderts zu geben, das
wäre dem Herrn Geheimrat nie eingefallen. Er hat freilich Unglück gehabt,
daß er gerade zu seiner Zeit leben mußte. Wäre er heute fünfundzwanzig
Jahre alt, wäre er, anstatt staatlicher Geschäftsmann, Privatdozent der Geschichte
und Professor in 8p6 zu Leipzig oder Königsberg und sähe die Erfolge der
großen Meister, er würde, findig wie er war, die Erfahrung sich zu Nutze
mache» und infolge dessen gewiß Erkleckliches leisten!

Die Menge verhält sich Kunstwerken, also auch wahren Dichterwerken
gegenüber wie Kinder, wie bis zu einem gewissen Alter ausnahmslos jeder.
Das Kunstwerk wirkt auf sie durch seinen Stoff, und nur durch diesen. Daher


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[0430] Eine kritische Auseinandersetzung. So fängt die Dichtung an. Wir erwarten nun im Verlaufe derselben über den Stand dieser vier Wissenschaften zur Zeit Fausts belehrt zu werden, mit andern Worten: positive Details ans der Geschichte der Philosophie, der Jurisprudenz u. s. w. zu erhalten. In der bekannten Szene zwischen Mephisto und dein Schiller glauben wir auch schon unsre Hoffnung sich erfüllen zu sehen. Aber welche Täuschung! Nichts als schnodderige Redensarten werden los¬ gelassen. Auf dem Spaziergange am Ostermontage, an der Stelle, wo Faust und Wagner von der Höhe auf die Stadt zurückschauen, wäre herrliche Ge¬ legenheit gewesen, in einem Monolog oder Dialog das Bild der Stadt in allen seinen Einzelheiten echt künstlerisch und dichterisch zu malen und so, selbst ohne daß es so scheint, eine die ganze einschlägige Wissenschaft erschöpfende Abhandlung über mittelalterliches Befestigungswesen zu geben! Statt dessen deklamirt Faust: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden, belebenden Blick — als ob sich diese Dinge nicht ganz von selbst verstünden, und auch uur eine Seele daraus etwas lernen könnte! Alexander Dumas der Jüngere ist doch kein übertriebener Goethcverehrer und Goethcenthusiast. Aber wenn er behauptet, Goethe hätte uns im zweiten Teile des „Faust" einen belehrenden und äußerst erschöpfenden Traktat über Kunstdünger gegeben, wenn dieser nur zu Goethes Zeiten erfunden gewesen wäre, so überschätzt doch der in diesem Falle nur allzu wohlwollende Franzose unsern alten Olympier. Nein, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Eher möchte er schon eine Portion des genannten Produktes in ein sauberes Schächtelchen gepackt und mit einem niedlichen Epigramm an den um Volksaufklärung so hochverdienten Nicolai geschickt haben. Zu solchen Allotrien war er eher geneigt. Aber eine von der Menge noch wenig gekannte und deshalb zu Unterrichtszwccken besonders geeignete wahrhaftige historische Persönlichkeit wie etwa den Mnlekschah, genannt Dschelcileddiu Dschelaleddaula, in seinem der Geschichte mit deutschwisfenschaftlicher Treue nachgezeichneten Charakter zum Helden eines Dramas oder Romans zu machen und damit zugleich ein in deu kleinsten Einzelheiten skrupulös ausgeführtes, Genre und Historie harmonisch verschmelzendes Gemälde von den Kulturzustünden Turkestans und Mavaralnahars im ersten Viertel des elften Jahrhunderts zu geben, das wäre dem Herrn Geheimrat nie eingefallen. Er hat freilich Unglück gehabt, daß er gerade zu seiner Zeit leben mußte. Wäre er heute fünfundzwanzig Jahre alt, wäre er, anstatt staatlicher Geschäftsmann, Privatdozent der Geschichte und Professor in 8p6 zu Leipzig oder Königsberg und sähe die Erfolge der großen Meister, er würde, findig wie er war, die Erfahrung sich zu Nutze mache» und infolge dessen gewiß Erkleckliches leisten! Die Menge verhält sich Kunstwerken, also auch wahren Dichterwerken gegenüber wie Kinder, wie bis zu einem gewissen Alter ausnahmslos jeder. Das Kunstwerk wirkt auf sie durch seinen Stoff, und nur durch diesen. Daher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/430>, abgerufen am 20.10.2024.