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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Eine kritische Auseinandersetzung.

Wunder- und Wohlthaten nicht undankbar ist. Die Sortimcntsbuchhandlungen und
noch mehr, wie es der Idealität des deutschen Volkes entspricht, die Leihbiblio¬
theken können aus ihren Rechnungsbüchern mit Zahlen diese Dankbarkeit beweisen!

Freilich hat die bildnngsdnrstige deutsche Nation dazu noch nie so viel
Veranlassung gehabt. Wie armselig steht es z. B. mit Goethe, wenn man ihn
mit den gedachten Dichtern vergleicht! Und doch wird der alte Herr aus purem
Schlendrian noch überall, wo von deutscher Literatur und Dichtung die Rede
ist, in den Vordergrund gestellt! Wie wenig aber kann man gerade aus seinen
besten Werken lernen! In den "Wahlverwandtschaften" nimmt er zwar einmal
einen recht lobenswerten Anlauf, uns gründlichere positive Wissenschaft über die
Gartenkunst zu gebe", um leider nur zu schnell wieder in rein romanhafte, ganz
unnütze Erzählerei zu geraten. Auch in seinem "Westvstlichen Divan" bekommen
wir gediegne gelehrte Notizen, für die wir nicht dankbar genug sein können,
umsomehr, als Goethe in keinem andern Werke mehr solche Wissenschaftlichkeit
mit zartester Poesie verbunden hat. Die Namen in diesen Gedichten sind ächt
persisch, sie geben Kolorit. Doch nur zu oft begegnet es dem Dichter anch
hier, daß er aus dem Tone, oder sagen wir besser: aus der Lokalfarbc fällt,
sodaß in dem Büchlein Gedichte stehen -- und keine kleine Zahl --, die nicht
wie es doch sein sollte, von einem persischen, sondern von einem urdeutschen
Poeten gedichtet sein konnten. Besonders ist zu bedauern, daß er sich gerade
in den besten auf diese Art hat gehen lassen. In allen seinen übrigen Werken
aber steht es damit viel schlimmer. Erfahren wir im "Götz," von dem man
so viel Wesens macht, auch nur eine Silbe darüber, wie der Held dieses Dramas
angezogen war? Von den andern Personen garnicht zu reden! Selbst die
Mechanik der berühmten und historisch absolut beglaubigten "eisernen Hand"
wird uns nicht beschrieben, nicht einmal ein Versuch dazu gemacht. Umsonst
forschen wir im "Werther," welche Kleider Lotte in den verschiednen Situationen
anhatte, welchen Stoffes und Schnittes dieselben waren. Keine Silbe wird
uns darüber gesagt, so wenig wie über den Ban des Amtshauses und die
innere Ausstattung desselben. Giebt es endlich in irgendeiner Dichtung einen
wichtigeren Gegenstand als die Pistolen, mit denen Werther sich erschießt? Auch
diesem Objekte läßt uns Goethe fremd bleiben. Er klärt uns nicht einmal
darüber auf, ob sie schon mittels Zündhütchen abgebrannt wurden oder noch
ein Feuerschloß hatten, geschweige denn, daß er uns über ihren sonstigen Ban,
über etwaigen Schmuck daran u. s. w. unterrichtet. Für die Geschichte der
Feuerwaffen im achtzehnten Jahrhundert lernen wir bei dieser schönen Ge¬
legenheit einfach nichts! Was soll man gar vom "Faust" sagen?


Habe nun, ach, Philosophie,
Juristerei und Medizin
Und leider auch Tyevlvgic
Durchaus studirt mit heißem Bemühn.

Eine kritische Auseinandersetzung.

Wunder- und Wohlthaten nicht undankbar ist. Die Sortimcntsbuchhandlungen und
noch mehr, wie es der Idealität des deutschen Volkes entspricht, die Leihbiblio¬
theken können aus ihren Rechnungsbüchern mit Zahlen diese Dankbarkeit beweisen!

Freilich hat die bildnngsdnrstige deutsche Nation dazu noch nie so viel
Veranlassung gehabt. Wie armselig steht es z. B. mit Goethe, wenn man ihn
mit den gedachten Dichtern vergleicht! Und doch wird der alte Herr aus purem
Schlendrian noch überall, wo von deutscher Literatur und Dichtung die Rede
ist, in den Vordergrund gestellt! Wie wenig aber kann man gerade aus seinen
besten Werken lernen! In den „Wahlverwandtschaften" nimmt er zwar einmal
einen recht lobenswerten Anlauf, uns gründlichere positive Wissenschaft über die
Gartenkunst zu gebe», um leider nur zu schnell wieder in rein romanhafte, ganz
unnütze Erzählerei zu geraten. Auch in seinem „Westvstlichen Divan" bekommen
wir gediegne gelehrte Notizen, für die wir nicht dankbar genug sein können,
umsomehr, als Goethe in keinem andern Werke mehr solche Wissenschaftlichkeit
mit zartester Poesie verbunden hat. Die Namen in diesen Gedichten sind ächt
persisch, sie geben Kolorit. Doch nur zu oft begegnet es dem Dichter anch
hier, daß er aus dem Tone, oder sagen wir besser: aus der Lokalfarbc fällt,
sodaß in dem Büchlein Gedichte stehen — und keine kleine Zahl —, die nicht
wie es doch sein sollte, von einem persischen, sondern von einem urdeutschen
Poeten gedichtet sein konnten. Besonders ist zu bedauern, daß er sich gerade
in den besten auf diese Art hat gehen lassen. In allen seinen übrigen Werken
aber steht es damit viel schlimmer. Erfahren wir im „Götz," von dem man
so viel Wesens macht, auch nur eine Silbe darüber, wie der Held dieses Dramas
angezogen war? Von den andern Personen garnicht zu reden! Selbst die
Mechanik der berühmten und historisch absolut beglaubigten „eisernen Hand"
wird uns nicht beschrieben, nicht einmal ein Versuch dazu gemacht. Umsonst
forschen wir im „Werther," welche Kleider Lotte in den verschiednen Situationen
anhatte, welchen Stoffes und Schnittes dieselben waren. Keine Silbe wird
uns darüber gesagt, so wenig wie über den Ban des Amtshauses und die
innere Ausstattung desselben. Giebt es endlich in irgendeiner Dichtung einen
wichtigeren Gegenstand als die Pistolen, mit denen Werther sich erschießt? Auch
diesem Objekte läßt uns Goethe fremd bleiben. Er klärt uns nicht einmal
darüber auf, ob sie schon mittels Zündhütchen abgebrannt wurden oder noch
ein Feuerschloß hatten, geschweige denn, daß er uns über ihren sonstigen Ban,
über etwaigen Schmuck daran u. s. w. unterrichtet. Für die Geschichte der
Feuerwaffen im achtzehnten Jahrhundert lernen wir bei dieser schönen Ge¬
legenheit einfach nichts! Was soll man gar vom „Faust" sagen?


Habe nun, ach, Philosophie,
Juristerei und Medizin
Und leider auch Tyevlvgic
Durchaus studirt mit heißem Bemühn.

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[0429] Eine kritische Auseinandersetzung. Wunder- und Wohlthaten nicht undankbar ist. Die Sortimcntsbuchhandlungen und noch mehr, wie es der Idealität des deutschen Volkes entspricht, die Leihbiblio¬ theken können aus ihren Rechnungsbüchern mit Zahlen diese Dankbarkeit beweisen! Freilich hat die bildnngsdnrstige deutsche Nation dazu noch nie so viel Veranlassung gehabt. Wie armselig steht es z. B. mit Goethe, wenn man ihn mit den gedachten Dichtern vergleicht! Und doch wird der alte Herr aus purem Schlendrian noch überall, wo von deutscher Literatur und Dichtung die Rede ist, in den Vordergrund gestellt! Wie wenig aber kann man gerade aus seinen besten Werken lernen! In den „Wahlverwandtschaften" nimmt er zwar einmal einen recht lobenswerten Anlauf, uns gründlichere positive Wissenschaft über die Gartenkunst zu gebe», um leider nur zu schnell wieder in rein romanhafte, ganz unnütze Erzählerei zu geraten. Auch in seinem „Westvstlichen Divan" bekommen wir gediegne gelehrte Notizen, für die wir nicht dankbar genug sein können, umsomehr, als Goethe in keinem andern Werke mehr solche Wissenschaftlichkeit mit zartester Poesie verbunden hat. Die Namen in diesen Gedichten sind ächt persisch, sie geben Kolorit. Doch nur zu oft begegnet es dem Dichter anch hier, daß er aus dem Tone, oder sagen wir besser: aus der Lokalfarbc fällt, sodaß in dem Büchlein Gedichte stehen — und keine kleine Zahl —, die nicht wie es doch sein sollte, von einem persischen, sondern von einem urdeutschen Poeten gedichtet sein konnten. Besonders ist zu bedauern, daß er sich gerade in den besten auf diese Art hat gehen lassen. In allen seinen übrigen Werken aber steht es damit viel schlimmer. Erfahren wir im „Götz," von dem man so viel Wesens macht, auch nur eine Silbe darüber, wie der Held dieses Dramas angezogen war? Von den andern Personen garnicht zu reden! Selbst die Mechanik der berühmten und historisch absolut beglaubigten „eisernen Hand" wird uns nicht beschrieben, nicht einmal ein Versuch dazu gemacht. Umsonst forschen wir im „Werther," welche Kleider Lotte in den verschiednen Situationen anhatte, welchen Stoffes und Schnittes dieselben waren. Keine Silbe wird uns darüber gesagt, so wenig wie über den Ban des Amtshauses und die innere Ausstattung desselben. Giebt es endlich in irgendeiner Dichtung einen wichtigeren Gegenstand als die Pistolen, mit denen Werther sich erschießt? Auch diesem Objekte läßt uns Goethe fremd bleiben. Er klärt uns nicht einmal darüber auf, ob sie schon mittels Zündhütchen abgebrannt wurden oder noch ein Feuerschloß hatten, geschweige denn, daß er uns über ihren sonstigen Ban, über etwaigen Schmuck daran u. s. w. unterrichtet. Für die Geschichte der Feuerwaffen im achtzehnten Jahrhundert lernen wir bei dieser schönen Ge¬ legenheit einfach nichts! Was soll man gar vom „Faust" sagen? Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin Und leider auch Tyevlvgic Durchaus studirt mit heißem Bemühn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/429>, abgerufen am 15.01.2025.