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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der ewige Jude.

Die Welt ist mich voll von mern Sünden!
Zahllose lebendige Flüche künden,
Weß Geistes Kinder ihr alle wart!
Doch die vergangnen Sünden rächen
An stillen Toten sich nimmermehr;
Sie ziehen als schweigendes Geisterhccr
Ins Herz der keimenden jungen Geschlechter.
Und für den begangnen Frevel der Alten
Müssen -- so will's die Gerechtigkeit heischen --
Die Söhne und Enkel sich spät noch zerfleischen.
So war's und wird ewig so weiter gehalten!
Doch nicht nur die Sünden der Alten sind erblich;
Es bleibt auch Edles und Hohes unsterblich.
Die Welt ist voll von Erinnerung;
Und die Erinn'rnng, in heißem Verlangen,
Will wieder im Schmucke des Daseins prangen.

Die zweite Handlung, der eigentliche Kern des Stückes, ist zum Schaden
des Ganzen sehr barock erfunden. Es ist zunächst ein Fehler, daß dieser Alche¬
mist eine so unbedeutende Gestalt, eigentlich nur das Werkzeug Ahasvers ist.
Sodann ist sein Streben nach der Unsterblichkeit mit dem für die Poesie viel
zu abstrakten allgemein-wissenschaftlichen Interesse motivirt; tragisch verwendbar
hätte nur ein eminent persönlicher Drang werden können. Dieser Alchemist muß
geradezu dumm erscheinen, wenn er trotz der Klagen seines Freundes Ahasver über
das Elend des Nichtsterbcnkönnens standhaft seine Bemühungen um die Unster¬
blichkeit fortsetzt. Und grotesk genug ist sein Gang zum Hochgericht, wo noch die
Leiche eines Hingerichteten Strauchdiebes hangt; an ihr soll das gefährliche Elixir
zunächst probirt werden. Der Doktor Thanatos selbst holt ihm in ärztlicher
Kollegialität die Leiche vom Galgen. Aber als Ernst endlich das Experiment
an ihr machen will, wird er durch einen ganz zufällig ankommenden Brief
mitten in der Arbeit abgerufen. Ins leere Laboratorium tritt der Doktor
Thanatos durch die Hinterthür herein. Er setzt das unterbrochene Experiment
fort und bringt -- komisch genug -- die Leiche in der That zum Leben, zum
Sprechen. Der wieder lebendige Dieb will aber um keinen Preis den Todes¬
schlaf gegen ein neues Leben vertauschen. Thanatos tötet ihn, indem er ihm
die ganze Phiole zum Austrinken reicht. Die umstürzende Leiche wirft noch
das Glas zerschmetternd an die Wand, daß es zerspringt und das Laboratorium
in Brand setzt. Dabei geht das einzige.Manuskript des Trismcgistos für
ewig der Menschheit verloren. Das alles könnte als ein schlechter Witz des
Dichters aufgefaßt werdeu. Nur läßt sich die künstlerische Absicht dabei nicht
begreifen; das tolle Unternehmen des Alchemisten wird dadurch keineswegs
Kei g-dsurclum, geführt.

Die dritte Handlung, welche in die zweite schon eingegriffen hat, ist diese.
Else, der letzte Sprößling aus dem Geschlechte Ahasvers, ist als Kind dem


Der ewige Jude.

Die Welt ist mich voll von mern Sünden!
Zahllose lebendige Flüche künden,
Weß Geistes Kinder ihr alle wart!
Doch die vergangnen Sünden rächen
An stillen Toten sich nimmermehr;
Sie ziehen als schweigendes Geisterhccr
Ins Herz der keimenden jungen Geschlechter.
Und für den begangnen Frevel der Alten
Müssen — so will's die Gerechtigkeit heischen —
Die Söhne und Enkel sich spät noch zerfleischen.
So war's und wird ewig so weiter gehalten!
Doch nicht nur die Sünden der Alten sind erblich;
Es bleibt auch Edles und Hohes unsterblich.
Die Welt ist voll von Erinnerung;
Und die Erinn'rnng, in heißem Verlangen,
Will wieder im Schmucke des Daseins prangen.

Die zweite Handlung, der eigentliche Kern des Stückes, ist zum Schaden
des Ganzen sehr barock erfunden. Es ist zunächst ein Fehler, daß dieser Alche¬
mist eine so unbedeutende Gestalt, eigentlich nur das Werkzeug Ahasvers ist.
Sodann ist sein Streben nach der Unsterblichkeit mit dem für die Poesie viel
zu abstrakten allgemein-wissenschaftlichen Interesse motivirt; tragisch verwendbar
hätte nur ein eminent persönlicher Drang werden können. Dieser Alchemist muß
geradezu dumm erscheinen, wenn er trotz der Klagen seines Freundes Ahasver über
das Elend des Nichtsterbcnkönnens standhaft seine Bemühungen um die Unster¬
blichkeit fortsetzt. Und grotesk genug ist sein Gang zum Hochgericht, wo noch die
Leiche eines Hingerichteten Strauchdiebes hangt; an ihr soll das gefährliche Elixir
zunächst probirt werden. Der Doktor Thanatos selbst holt ihm in ärztlicher
Kollegialität die Leiche vom Galgen. Aber als Ernst endlich das Experiment
an ihr machen will, wird er durch einen ganz zufällig ankommenden Brief
mitten in der Arbeit abgerufen. Ins leere Laboratorium tritt der Doktor
Thanatos durch die Hinterthür herein. Er setzt das unterbrochene Experiment
fort und bringt — komisch genug — die Leiche in der That zum Leben, zum
Sprechen. Der wieder lebendige Dieb will aber um keinen Preis den Todes¬
schlaf gegen ein neues Leben vertauschen. Thanatos tötet ihn, indem er ihm
die ganze Phiole zum Austrinken reicht. Die umstürzende Leiche wirft noch
das Glas zerschmetternd an die Wand, daß es zerspringt und das Laboratorium
in Brand setzt. Dabei geht das einzige.Manuskript des Trismcgistos für
ewig der Menschheit verloren. Das alles könnte als ein schlechter Witz des
Dichters aufgefaßt werdeu. Nur läßt sich die künstlerische Absicht dabei nicht
begreifen; das tolle Unternehmen des Alchemisten wird dadurch keineswegs
Kei g-dsurclum, geführt.

Die dritte Handlung, welche in die zweite schon eingegriffen hat, ist diese.
Else, der letzte Sprößling aus dem Geschlechte Ahasvers, ist als Kind dem


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[0283] Der ewige Jude. Die Welt ist mich voll von mern Sünden! Zahllose lebendige Flüche künden, Weß Geistes Kinder ihr alle wart! Doch die vergangnen Sünden rächen An stillen Toten sich nimmermehr; Sie ziehen als schweigendes Geisterhccr Ins Herz der keimenden jungen Geschlechter. Und für den begangnen Frevel der Alten Müssen — so will's die Gerechtigkeit heischen — Die Söhne und Enkel sich spät noch zerfleischen. So war's und wird ewig so weiter gehalten! Doch nicht nur die Sünden der Alten sind erblich; Es bleibt auch Edles und Hohes unsterblich. Die Welt ist voll von Erinnerung; Und die Erinn'rnng, in heißem Verlangen, Will wieder im Schmucke des Daseins prangen. Die zweite Handlung, der eigentliche Kern des Stückes, ist zum Schaden des Ganzen sehr barock erfunden. Es ist zunächst ein Fehler, daß dieser Alche¬ mist eine so unbedeutende Gestalt, eigentlich nur das Werkzeug Ahasvers ist. Sodann ist sein Streben nach der Unsterblichkeit mit dem für die Poesie viel zu abstrakten allgemein-wissenschaftlichen Interesse motivirt; tragisch verwendbar hätte nur ein eminent persönlicher Drang werden können. Dieser Alchemist muß geradezu dumm erscheinen, wenn er trotz der Klagen seines Freundes Ahasver über das Elend des Nichtsterbcnkönnens standhaft seine Bemühungen um die Unster¬ blichkeit fortsetzt. Und grotesk genug ist sein Gang zum Hochgericht, wo noch die Leiche eines Hingerichteten Strauchdiebes hangt; an ihr soll das gefährliche Elixir zunächst probirt werden. Der Doktor Thanatos selbst holt ihm in ärztlicher Kollegialität die Leiche vom Galgen. Aber als Ernst endlich das Experiment an ihr machen will, wird er durch einen ganz zufällig ankommenden Brief mitten in der Arbeit abgerufen. Ins leere Laboratorium tritt der Doktor Thanatos durch die Hinterthür herein. Er setzt das unterbrochene Experiment fort und bringt — komisch genug — die Leiche in der That zum Leben, zum Sprechen. Der wieder lebendige Dieb will aber um keinen Preis den Todes¬ schlaf gegen ein neues Leben vertauschen. Thanatos tötet ihn, indem er ihm die ganze Phiole zum Austrinken reicht. Die umstürzende Leiche wirft noch das Glas zerschmetternd an die Wand, daß es zerspringt und das Laboratorium in Brand setzt. Dabei geht das einzige.Manuskript des Trismcgistos für ewig der Menschheit verloren. Das alles könnte als ein schlechter Witz des Dichters aufgefaßt werdeu. Nur läßt sich die künstlerische Absicht dabei nicht begreifen; das tolle Unternehmen des Alchemisten wird dadurch keineswegs Kei g-dsurclum, geführt. Die dritte Handlung, welche in die zweite schon eingegriffen hat, ist diese. Else, der letzte Sprößling aus dem Geschlechte Ahasvers, ist als Kind dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/283>, abgerufen am 20.10.2024.