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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Briefe Turgenjews.

folger Alexander, welches mit den Worten schließt: "In dieser meiner Lage
bleibt mir nichts andres übrig, als zu der gnädigen Nachsicht und hohen Für¬
bitte Ew. Kaiserlichen Hoheit meine Zuflucht zu nehmen. Allergnädigster Herr,
erweisen Sie mir die Ehre, meine wahrheitsgetreue Erörterung zur Kenntnis
Seiner Majestät zu bringen, wodurch mir vielleicht die Möglichkeit verschafft
würde, wenigstens vor Seiner Majestät dem Kaiser meine Ansichten zu recht¬
fertigen. Selbst die wohlthuende Teilnahme Ew. Kaiserlichen Hoheit werde ich
als Erleichterung meines Schicksals betrachten."

Nachdem Turgenjew auf Verwenden des Grafen Iwan Tolstoi und durch
Vermittlung des Zarewitsch die Erlaubnis zur Reise ins Ausland erhalten
hatte, lebte er größtenteils außerhalb des russischen Reiches, besonders in
Deutschland, Frankreich und England, kehrte jedoch Jahr für Jahr auf längere
oder kürzere Zeit in die Heimat zurück. "Ich bin zu einem Zigeunerleben
verurteilt -- schreibt er am 5. Dezember 1856 aus Paris an seinen Freund
A. W. Druschinin --, und es hat den Anschein, als wäre es mir nicht vergönnt,
irgendwo und irgendwann mir ein Nest zu bauen." Es ist zu beklagen, daß
es Turgenjew versagt blieb, dauernd in Nußland zu leben, das er so sehr liebte
und so meisterhaft zu schildern verstand. Allein zwischen demjenigen, was er
als Ideal anstrebte, und den Anschauungen des größten Teiles seiner Lands¬
leute lag eine tiefe Kluft, welche sich nicht überbrücken ließ, sondern von Tag
zu Tag sich mehr erweiterte. Mit großen Hoffnungen war er nach Beendigung
seiner Studien in die Heimat zurückgekehrt; er hatte die aufrichtige Absicht,
sich mit ganzer Kraft, mit ungelenker Liebe seinem Vaterlande zu widmen und
ihm die Segnungen der westeuropäischen Bildung zuzuführen. Aber seine
mahnende, seine bittende, seine warnende Stimme verhallte wirkungslos, wie die
Stimme des "Rufenden in der Wüste," er stieß auf energischen Widerstand,
er war seinem Volke vollständig entfremdet. Er brauchte diese Entfremdung
nicht zu beklagen, aber bei der Betrachtung der traurigen Verhältnisse seines
Heimatlandes, deren Hinfälligkeit er täglich mehr einsehen lernte, beschlich ihn
das Gefühl tiefster Wehmut, welches unaufhörlich in ihm nachzitterte. Dieser
schmerzlichen Stimmung des in seinen teuersten und heiligsten Empfindungen
getroffenen Patrioten hat Turgenjew in seiner Novelle "Adliches Nest" Ausdruck
verliehen. Die Hauptgebrechen Rußlands, den Nihilismus und den Panslawismus,
bekämpfte er in den "Vätern und Söhnen," in "Neuland" und in "Rauch."
Diese drei Werte riefen eine lärmende Bewegung im ganzen Lande hervor. Man
beschuldigte den Autor der Verleumdung, der Übertreibung und der Schwarz¬
seherei. Voll edler, gerechter Entrüstung erwiederte er: "Nicht einer einzigen
Zeile, welche ich geschrieben habe, brauche ich mich zu schämen, nicht eine einzige
zurücknehmen." Mahnend ruft er seinen Widersachern zu: "Pflichtgefühl, edles,
patriotisches Pflichtgefühl im wahren Sinne des Wortes, das ist alles, was
not thut."


Die Briefe Turgenjews.

folger Alexander, welches mit den Worten schließt: „In dieser meiner Lage
bleibt mir nichts andres übrig, als zu der gnädigen Nachsicht und hohen Für¬
bitte Ew. Kaiserlichen Hoheit meine Zuflucht zu nehmen. Allergnädigster Herr,
erweisen Sie mir die Ehre, meine wahrheitsgetreue Erörterung zur Kenntnis
Seiner Majestät zu bringen, wodurch mir vielleicht die Möglichkeit verschafft
würde, wenigstens vor Seiner Majestät dem Kaiser meine Ansichten zu recht¬
fertigen. Selbst die wohlthuende Teilnahme Ew. Kaiserlichen Hoheit werde ich
als Erleichterung meines Schicksals betrachten."

Nachdem Turgenjew auf Verwenden des Grafen Iwan Tolstoi und durch
Vermittlung des Zarewitsch die Erlaubnis zur Reise ins Ausland erhalten
hatte, lebte er größtenteils außerhalb des russischen Reiches, besonders in
Deutschland, Frankreich und England, kehrte jedoch Jahr für Jahr auf längere
oder kürzere Zeit in die Heimat zurück. „Ich bin zu einem Zigeunerleben
verurteilt — schreibt er am 5. Dezember 1856 aus Paris an seinen Freund
A. W. Druschinin —, und es hat den Anschein, als wäre es mir nicht vergönnt,
irgendwo und irgendwann mir ein Nest zu bauen." Es ist zu beklagen, daß
es Turgenjew versagt blieb, dauernd in Nußland zu leben, das er so sehr liebte
und so meisterhaft zu schildern verstand. Allein zwischen demjenigen, was er
als Ideal anstrebte, und den Anschauungen des größten Teiles seiner Lands¬
leute lag eine tiefe Kluft, welche sich nicht überbrücken ließ, sondern von Tag
zu Tag sich mehr erweiterte. Mit großen Hoffnungen war er nach Beendigung
seiner Studien in die Heimat zurückgekehrt; er hatte die aufrichtige Absicht,
sich mit ganzer Kraft, mit ungelenker Liebe seinem Vaterlande zu widmen und
ihm die Segnungen der westeuropäischen Bildung zuzuführen. Aber seine
mahnende, seine bittende, seine warnende Stimme verhallte wirkungslos, wie die
Stimme des „Rufenden in der Wüste," er stieß auf energischen Widerstand,
er war seinem Volke vollständig entfremdet. Er brauchte diese Entfremdung
nicht zu beklagen, aber bei der Betrachtung der traurigen Verhältnisse seines
Heimatlandes, deren Hinfälligkeit er täglich mehr einsehen lernte, beschlich ihn
das Gefühl tiefster Wehmut, welches unaufhörlich in ihm nachzitterte. Dieser
schmerzlichen Stimmung des in seinen teuersten und heiligsten Empfindungen
getroffenen Patrioten hat Turgenjew in seiner Novelle „Adliches Nest" Ausdruck
verliehen. Die Hauptgebrechen Rußlands, den Nihilismus und den Panslawismus,
bekämpfte er in den „Vätern und Söhnen," in „Neuland" und in „Rauch."
Diese drei Werte riefen eine lärmende Bewegung im ganzen Lande hervor. Man
beschuldigte den Autor der Verleumdung, der Übertreibung und der Schwarz¬
seherei. Voll edler, gerechter Entrüstung erwiederte er: „Nicht einer einzigen
Zeile, welche ich geschrieben habe, brauche ich mich zu schämen, nicht eine einzige
zurücknehmen." Mahnend ruft er seinen Widersachern zu: „Pflichtgefühl, edles,
patriotisches Pflichtgefühl im wahren Sinne des Wortes, das ist alles, was
not thut."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/178>, abgerufen am 27.09.2024.