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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Briefe Turgenjews.

das Schöne verderben und leiden? Bisher schien es -- der Gedanke war
Gotteslästerung, und Strafe traf unabwendbar jeden, welcher die glückselige
Mittelmäßigkeit überragte. Oder regt sich in Gott der Neid, wie früher bei
den griechischen Göttern? Oder müssen wir glauben, daß alles Schöne und
Heilige, Liebe und Verstand -- eine kalte Ironie Jehovcchs sei? Was ist dann
aber unser Leben? Doch nein, wir dürfen nicht verzagen, wir dürfen uns nicht
beugen! Einigen wir uns, reichen wir einander die Hände, schließen wir uns
enger aneinander an! Einer von uns fiel, möglicherweise der Beste, allein
andre entstehen und werden entstehen; Gottes Hand wird nicht aufhören, in
die Seelen Keime großer Bestrebungen zu legen, und früher oder später wird
das Licht die Finsternis überwinden."

Turgenjew trat zuerst mit Gedichten vor das Publikum. Das war ein
Fehler, ein Irrtum, nicht zwar hinsichtlich seines Talents, wohl aber in Betreff
der Richtung desselben. Mit der ihm eignen Freimütigkeit äußerte sich der
Autor später darüber: "Ich fühle eine entschiedene, beinahe physische Antipathie
gegen meine Gedichte, und ich besitze nicht nur kein einziges Exemplar derselben,
sondern ich würde sogar viel darum geben, wenn sie überhaupt auf der Welt
nicht existirten." Im Jahre 1852 gab Turgenjew das "Tagebuch eines Jägers"
heraus, ein wahrheitsgetreues Bild des heimatlichen Lebens, wie es auf seinen
zahlreichen Wanderungen und Jagdausflügen sich ihm erschlossen hatte. Dieses
epochemachende Werk, eines der charakteristischsten, merkwürdigsten und erfolg¬
reichsten Bücher der modernen Literatur, ausgezeichnet durch lebhafte Erzählung,
plastische Darstellung, Frische und Einfachheit des Stils, echten Humor und
leises Gefühl, führt uns in die noch wenig bekannte Welt des russischen Land¬
lebens ein und entfaltet vor uusern Augen die buntesten Bilder der Natur und
des Volkslebens. Wohl enthielt das "Tagebuch," welches durch zahlreiche Über¬
setzungen die vollste Anerkennung des Auslandes empfing, die schärfste Kritik der
bestehenden Zustände in Rußland, aber da sich in demselben nicht der leiseste
Angriff auf die Person des Zaren fand, so vermochte die allgewaltige Zensur
gegen den Dichter nicht einzuschreiten, erachtete es jedoch für ihre Pflicht, den
"gefährlichen Menschen" scharf ins Auge zu fassen und ihn bei der ersten besten
Gelegenheit für das große Verbrechen zu züchtigen, dessen er sich nach ihrer
Meinung durch Veröffentlichung des "Tagebuches" schuldig gemacht hatte.
Eine passende Gelegenheit sollte sich bald finden. Am 2. März (19. Februar)
1862 starb zu Moskau Nikolaj W. Gogol, dessen letzte Tage die düstere
Nacht der Schwermut verdunkelt hatte. Turgenjew, welcher damals gerade
aus Paris zurückkehrte, glaubte dem großen Toten einen ehrenden Nachruf in
der "Moskaner Zeitung" widmen zu müssen. ..Auf Allerhöchsten Befehl" wurde
er deshalb mit einmvnatlicher Haft und zweijähriger Verbannung nach seinem
Gute Spaßkoe im Gouvernement Orel bestraft. Im Petersburger Polizei¬
gewahrsam richtete er am 27. April 1852 ein Gnadengesuch an den Thron-


Grenzboten IV. 1886. 22
Die Briefe Turgenjews.

das Schöne verderben und leiden? Bisher schien es — der Gedanke war
Gotteslästerung, und Strafe traf unabwendbar jeden, welcher die glückselige
Mittelmäßigkeit überragte. Oder regt sich in Gott der Neid, wie früher bei
den griechischen Göttern? Oder müssen wir glauben, daß alles Schöne und
Heilige, Liebe und Verstand — eine kalte Ironie Jehovcchs sei? Was ist dann
aber unser Leben? Doch nein, wir dürfen nicht verzagen, wir dürfen uns nicht
beugen! Einigen wir uns, reichen wir einander die Hände, schließen wir uns
enger aneinander an! Einer von uns fiel, möglicherweise der Beste, allein
andre entstehen und werden entstehen; Gottes Hand wird nicht aufhören, in
die Seelen Keime großer Bestrebungen zu legen, und früher oder später wird
das Licht die Finsternis überwinden."

Turgenjew trat zuerst mit Gedichten vor das Publikum. Das war ein
Fehler, ein Irrtum, nicht zwar hinsichtlich seines Talents, wohl aber in Betreff
der Richtung desselben. Mit der ihm eignen Freimütigkeit äußerte sich der
Autor später darüber: „Ich fühle eine entschiedene, beinahe physische Antipathie
gegen meine Gedichte, und ich besitze nicht nur kein einziges Exemplar derselben,
sondern ich würde sogar viel darum geben, wenn sie überhaupt auf der Welt
nicht existirten." Im Jahre 1852 gab Turgenjew das „Tagebuch eines Jägers"
heraus, ein wahrheitsgetreues Bild des heimatlichen Lebens, wie es auf seinen
zahlreichen Wanderungen und Jagdausflügen sich ihm erschlossen hatte. Dieses
epochemachende Werk, eines der charakteristischsten, merkwürdigsten und erfolg¬
reichsten Bücher der modernen Literatur, ausgezeichnet durch lebhafte Erzählung,
plastische Darstellung, Frische und Einfachheit des Stils, echten Humor und
leises Gefühl, führt uns in die noch wenig bekannte Welt des russischen Land¬
lebens ein und entfaltet vor uusern Augen die buntesten Bilder der Natur und
des Volkslebens. Wohl enthielt das „Tagebuch," welches durch zahlreiche Über¬
setzungen die vollste Anerkennung des Auslandes empfing, die schärfste Kritik der
bestehenden Zustände in Rußland, aber da sich in demselben nicht der leiseste
Angriff auf die Person des Zaren fand, so vermochte die allgewaltige Zensur
gegen den Dichter nicht einzuschreiten, erachtete es jedoch für ihre Pflicht, den
„gefährlichen Menschen" scharf ins Auge zu fassen und ihn bei der ersten besten
Gelegenheit für das große Verbrechen zu züchtigen, dessen er sich nach ihrer
Meinung durch Veröffentlichung des „Tagebuches" schuldig gemacht hatte.
Eine passende Gelegenheit sollte sich bald finden. Am 2. März (19. Februar)
1862 starb zu Moskau Nikolaj W. Gogol, dessen letzte Tage die düstere
Nacht der Schwermut verdunkelt hatte. Turgenjew, welcher damals gerade
aus Paris zurückkehrte, glaubte dem großen Toten einen ehrenden Nachruf in
der „Moskaner Zeitung" widmen zu müssen. ..Auf Allerhöchsten Befehl" wurde
er deshalb mit einmvnatlicher Haft und zweijähriger Verbannung nach seinem
Gute Spaßkoe im Gouvernement Orel bestraft. Im Petersburger Polizei¬
gewahrsam richtete er am 27. April 1852 ein Gnadengesuch an den Thron-


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[0177] Die Briefe Turgenjews. das Schöne verderben und leiden? Bisher schien es — der Gedanke war Gotteslästerung, und Strafe traf unabwendbar jeden, welcher die glückselige Mittelmäßigkeit überragte. Oder regt sich in Gott der Neid, wie früher bei den griechischen Göttern? Oder müssen wir glauben, daß alles Schöne und Heilige, Liebe und Verstand — eine kalte Ironie Jehovcchs sei? Was ist dann aber unser Leben? Doch nein, wir dürfen nicht verzagen, wir dürfen uns nicht beugen! Einigen wir uns, reichen wir einander die Hände, schließen wir uns enger aneinander an! Einer von uns fiel, möglicherweise der Beste, allein andre entstehen und werden entstehen; Gottes Hand wird nicht aufhören, in die Seelen Keime großer Bestrebungen zu legen, und früher oder später wird das Licht die Finsternis überwinden." Turgenjew trat zuerst mit Gedichten vor das Publikum. Das war ein Fehler, ein Irrtum, nicht zwar hinsichtlich seines Talents, wohl aber in Betreff der Richtung desselben. Mit der ihm eignen Freimütigkeit äußerte sich der Autor später darüber: „Ich fühle eine entschiedene, beinahe physische Antipathie gegen meine Gedichte, und ich besitze nicht nur kein einziges Exemplar derselben, sondern ich würde sogar viel darum geben, wenn sie überhaupt auf der Welt nicht existirten." Im Jahre 1852 gab Turgenjew das „Tagebuch eines Jägers" heraus, ein wahrheitsgetreues Bild des heimatlichen Lebens, wie es auf seinen zahlreichen Wanderungen und Jagdausflügen sich ihm erschlossen hatte. Dieses epochemachende Werk, eines der charakteristischsten, merkwürdigsten und erfolg¬ reichsten Bücher der modernen Literatur, ausgezeichnet durch lebhafte Erzählung, plastische Darstellung, Frische und Einfachheit des Stils, echten Humor und leises Gefühl, führt uns in die noch wenig bekannte Welt des russischen Land¬ lebens ein und entfaltet vor uusern Augen die buntesten Bilder der Natur und des Volkslebens. Wohl enthielt das „Tagebuch," welches durch zahlreiche Über¬ setzungen die vollste Anerkennung des Auslandes empfing, die schärfste Kritik der bestehenden Zustände in Rußland, aber da sich in demselben nicht der leiseste Angriff auf die Person des Zaren fand, so vermochte die allgewaltige Zensur gegen den Dichter nicht einzuschreiten, erachtete es jedoch für ihre Pflicht, den „gefährlichen Menschen" scharf ins Auge zu fassen und ihn bei der ersten besten Gelegenheit für das große Verbrechen zu züchtigen, dessen er sich nach ihrer Meinung durch Veröffentlichung des „Tagebuches" schuldig gemacht hatte. Eine passende Gelegenheit sollte sich bald finden. Am 2. März (19. Februar) 1862 starb zu Moskau Nikolaj W. Gogol, dessen letzte Tage die düstere Nacht der Schwermut verdunkelt hatte. Turgenjew, welcher damals gerade aus Paris zurückkehrte, glaubte dem großen Toten einen ehrenden Nachruf in der „Moskaner Zeitung" widmen zu müssen. ..Auf Allerhöchsten Befehl" wurde er deshalb mit einmvnatlicher Haft und zweijähriger Verbannung nach seinem Gute Spaßkoe im Gouvernement Orel bestraft. Im Petersburger Polizei¬ gewahrsam richtete er am 27. April 1852 ein Gnadengesuch an den Thron- Grenzboten IV. 1886. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/177>, abgerufen am 27.09.2024.