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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Briefe Turgenjews.

Wie Turgenjew über den Beruf eines Schriftstellers denkt, davon giebt
sein Brief an Wladimir Lndwigowitsch King vom 16. Juni 1876 Kunde. "Wenn
es Sie mehr interessirt -- schreibt er an den jungen Mann, der damals noch
Dilettant ans dem literarischen Gebiete war --, wenn es Sie mehr interessirt, die
menschliche Physiognomie und das fremde Leben kennen zu lernen, als Ihre
eignen Gedanken und Gefühle darzulegen, wenn es Ihnen z. B. angenehmer
ist, die äußere Gestalt nicht nur eines Menschen, sondern auch eines einfachen
Dinges richtig und genau kennen zu lernen, als die Gefühle, welche Sie beim
Anblick dieses Menschen oder dieses Dinges empfinden, hübsch und herzlich aus¬
zudrücken, dann sind Sie ein objektiver Schriftsteller und können eine Novelle
oder einen Roman vornehmen. Ohne Arbeit, ohne strenge Arbeit wird jeder
Künstler ganz gewiß ein Dilettant bleiben; hier kann man nicht auf die so¬
genannten sagenreichen Minuten der Begeisterung warten. Werden sie kommen,
so ist es umso besser, allem trotzdem muß man arbeiten. Und nicht nur an
seinem eignen Werke muß man arbeiten, und zwar besonders daran, daß man
ordentlich ausdrückt, was man auszudrücken wünscht.... Nein, man soll auch
lesen, unaufhörlich lernen, in alles, was uns umgiebt, einzudringen versuchen,
und bemüht sein, das Leben in allen seinen Erscheinungen zu erkennen und zu
verstehen, sowie jene Gesetze zu studiren, nach denen es verläuft und die nicht
immer zum Vorschein kommen. Man muß durch das Spiel der Zufälligkeiten
hindurch zu Typen zu gelangen trachten und dabei der Wahrheit treu bleiben,
nicht mit oberflächlichem Lernen sich begnügen und nicht nach Effekt und
Täuschung haschen. Der objektive Schriftsteller bürdet sich eine große Last auf
und muß starke Nerven haben."

Es ist eine vielfach verbreitete Ansicht, Turgenjew habe einige Novellen
in einer fremden Sprache geschrieben. Diesem Irrtume tritt er mit den Worten
entgegen: "Ich habe niemals im Leben eine einzige Zeile in einer andern, als
in der russischen Sprache veröffentlicht. Andernfalls wäre ich kein Künstler,
sondern ein Taugenichts. Wie ist es möglich, in einer fremden Sprache zu
schreiben, wenn man selbst in seiner Muttersprache mit deu Gestalten, Gedanken ?c.
kaum fertig werden kann!" Angesichts der Übeln Aufnahme seiner Werke bei
einem großen Teile seiner Landsleute fühlt er sich zu der Erklärung veranlaßt:
"Ich bin ein Schriftsteller einer Übergangszeit und tauge nnr für Menschen,
welche in der Übergangsperiode sich befinden."

Seine persönliche Weltanschauung teilt uns der Autor im 199. Briefe
mit. "Allem Übernatürlichen stehe ich gleichgiltig gegenüber -- schreibt er --, ich
glaube an kein Absolutes und an keine Systeme, liebe die Freiheit und bin, so
weit ich urteilen darf, der Poesie zugänglich. Alles Menschliche ist mir teuer,
der Slciwophilismus ist mir fremd, sowie auch jede Orthodoxie." Über Religion
laßt er sich in einem Briefe an seinen Freund Polonski aus, wo er bemerkt:
"Du glaubst, ich müsse im Vergleich mit dem Christentume den muhamedanischen


Die Briefe Turgenjews.

Wie Turgenjew über den Beruf eines Schriftstellers denkt, davon giebt
sein Brief an Wladimir Lndwigowitsch King vom 16. Juni 1876 Kunde. „Wenn
es Sie mehr interessirt — schreibt er an den jungen Mann, der damals noch
Dilettant ans dem literarischen Gebiete war —, wenn es Sie mehr interessirt, die
menschliche Physiognomie und das fremde Leben kennen zu lernen, als Ihre
eignen Gedanken und Gefühle darzulegen, wenn es Ihnen z. B. angenehmer
ist, die äußere Gestalt nicht nur eines Menschen, sondern auch eines einfachen
Dinges richtig und genau kennen zu lernen, als die Gefühle, welche Sie beim
Anblick dieses Menschen oder dieses Dinges empfinden, hübsch und herzlich aus¬
zudrücken, dann sind Sie ein objektiver Schriftsteller und können eine Novelle
oder einen Roman vornehmen. Ohne Arbeit, ohne strenge Arbeit wird jeder
Künstler ganz gewiß ein Dilettant bleiben; hier kann man nicht auf die so¬
genannten sagenreichen Minuten der Begeisterung warten. Werden sie kommen,
so ist es umso besser, allem trotzdem muß man arbeiten. Und nicht nur an
seinem eignen Werke muß man arbeiten, und zwar besonders daran, daß man
ordentlich ausdrückt, was man auszudrücken wünscht.... Nein, man soll auch
lesen, unaufhörlich lernen, in alles, was uns umgiebt, einzudringen versuchen,
und bemüht sein, das Leben in allen seinen Erscheinungen zu erkennen und zu
verstehen, sowie jene Gesetze zu studiren, nach denen es verläuft und die nicht
immer zum Vorschein kommen. Man muß durch das Spiel der Zufälligkeiten
hindurch zu Typen zu gelangen trachten und dabei der Wahrheit treu bleiben,
nicht mit oberflächlichem Lernen sich begnügen und nicht nach Effekt und
Täuschung haschen. Der objektive Schriftsteller bürdet sich eine große Last auf
und muß starke Nerven haben."

Es ist eine vielfach verbreitete Ansicht, Turgenjew habe einige Novellen
in einer fremden Sprache geschrieben. Diesem Irrtume tritt er mit den Worten
entgegen: „Ich habe niemals im Leben eine einzige Zeile in einer andern, als
in der russischen Sprache veröffentlicht. Andernfalls wäre ich kein Künstler,
sondern ein Taugenichts. Wie ist es möglich, in einer fremden Sprache zu
schreiben, wenn man selbst in seiner Muttersprache mit deu Gestalten, Gedanken ?c.
kaum fertig werden kann!" Angesichts der Übeln Aufnahme seiner Werke bei
einem großen Teile seiner Landsleute fühlt er sich zu der Erklärung veranlaßt:
„Ich bin ein Schriftsteller einer Übergangszeit und tauge nnr für Menschen,
welche in der Übergangsperiode sich befinden."

Seine persönliche Weltanschauung teilt uns der Autor im 199. Briefe
mit. „Allem Übernatürlichen stehe ich gleichgiltig gegenüber — schreibt er —, ich
glaube an kein Absolutes und an keine Systeme, liebe die Freiheit und bin, so
weit ich urteilen darf, der Poesie zugänglich. Alles Menschliche ist mir teuer,
der Slciwophilismus ist mir fremd, sowie auch jede Orthodoxie." Über Religion
laßt er sich in einem Briefe an seinen Freund Polonski aus, wo er bemerkt:
„Du glaubst, ich müsse im Vergleich mit dem Christentume den muhamedanischen


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[0179] Die Briefe Turgenjews. Wie Turgenjew über den Beruf eines Schriftstellers denkt, davon giebt sein Brief an Wladimir Lndwigowitsch King vom 16. Juni 1876 Kunde. „Wenn es Sie mehr interessirt — schreibt er an den jungen Mann, der damals noch Dilettant ans dem literarischen Gebiete war —, wenn es Sie mehr interessirt, die menschliche Physiognomie und das fremde Leben kennen zu lernen, als Ihre eignen Gedanken und Gefühle darzulegen, wenn es Ihnen z. B. angenehmer ist, die äußere Gestalt nicht nur eines Menschen, sondern auch eines einfachen Dinges richtig und genau kennen zu lernen, als die Gefühle, welche Sie beim Anblick dieses Menschen oder dieses Dinges empfinden, hübsch und herzlich aus¬ zudrücken, dann sind Sie ein objektiver Schriftsteller und können eine Novelle oder einen Roman vornehmen. Ohne Arbeit, ohne strenge Arbeit wird jeder Künstler ganz gewiß ein Dilettant bleiben; hier kann man nicht auf die so¬ genannten sagenreichen Minuten der Begeisterung warten. Werden sie kommen, so ist es umso besser, allem trotzdem muß man arbeiten. Und nicht nur an seinem eignen Werke muß man arbeiten, und zwar besonders daran, daß man ordentlich ausdrückt, was man auszudrücken wünscht.... Nein, man soll auch lesen, unaufhörlich lernen, in alles, was uns umgiebt, einzudringen versuchen, und bemüht sein, das Leben in allen seinen Erscheinungen zu erkennen und zu verstehen, sowie jene Gesetze zu studiren, nach denen es verläuft und die nicht immer zum Vorschein kommen. Man muß durch das Spiel der Zufälligkeiten hindurch zu Typen zu gelangen trachten und dabei der Wahrheit treu bleiben, nicht mit oberflächlichem Lernen sich begnügen und nicht nach Effekt und Täuschung haschen. Der objektive Schriftsteller bürdet sich eine große Last auf und muß starke Nerven haben." Es ist eine vielfach verbreitete Ansicht, Turgenjew habe einige Novellen in einer fremden Sprache geschrieben. Diesem Irrtume tritt er mit den Worten entgegen: „Ich habe niemals im Leben eine einzige Zeile in einer andern, als in der russischen Sprache veröffentlicht. Andernfalls wäre ich kein Künstler, sondern ein Taugenichts. Wie ist es möglich, in einer fremden Sprache zu schreiben, wenn man selbst in seiner Muttersprache mit deu Gestalten, Gedanken ?c. kaum fertig werden kann!" Angesichts der Übeln Aufnahme seiner Werke bei einem großen Teile seiner Landsleute fühlt er sich zu der Erklärung veranlaßt: „Ich bin ein Schriftsteller einer Übergangszeit und tauge nnr für Menschen, welche in der Übergangsperiode sich befinden." Seine persönliche Weltanschauung teilt uns der Autor im 199. Briefe mit. „Allem Übernatürlichen stehe ich gleichgiltig gegenüber — schreibt er —, ich glaube an kein Absolutes und an keine Systeme, liebe die Freiheit und bin, so weit ich urteilen darf, der Poesie zugänglich. Alles Menschliche ist mir teuer, der Slciwophilismus ist mir fremd, sowie auch jede Orthodoxie." Über Religion laßt er sich in einem Briefe an seinen Freund Polonski aus, wo er bemerkt: „Du glaubst, ich müsse im Vergleich mit dem Christentume den muhamedanischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/179>, abgerufen am 27.09.2024.